Von Daniel Kaiser
Die aktuellen Geschehnisse um den Gezi-Park in Istanbul, Proteste gegen die soziale Exklusion in Brasilien und prügelnde Polizisten in Frankfurt und anderswo scheinen uns einen weiteren „Sommer der Wut“ zu bescheren. Doch wen treibt es da eigentlich warum auf die Straße? Welchen Dynamiken sind solche Proteste unterworfen? Wie können Bewegungen erfolgreich sein? Vor dem Hintergrund dieser und weiterer Fragen ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zur Erfassung und Erklärung sozialer Phänomene kollektiven Widerstands und Protests wichtiger denn je.
Aus diesem Grund gründete sich auf Initiative des gleichnamigen Vereins und in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und der TU Berlin das „Institut für Protest- und Bewegungsforschung“ in Berlin. Auf seiner Gründungskonferenz unter dem Titel „Viel Bewegung – wenig Forschung?“ wurden die Herausforderungen einer so institutionalisierten Protest- und Bewegungsforschung in Deutschland kontrovers diskutiert: „Welche Rolle kann Forschung in der gesellschaftlichen Debatte über Protest und soziale Bewegungen spielen? Wo sind ihre blinden Flecken? Welches akademisch produzierte Wissen zu diesen Themen wollen wir?“ Hinsichtlich dieser Fragen wurden unter anderem das ambivalente Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen und der sie erforschenden Wissenschaft, sowie die Intensivierung und Erweiterung der bestehenden Forschung um transnationale und historische Perspektiven diskutiert.
Gerade der erste der beiden Punkte sorgte beinahe zwangsläufig für eine spannende und auch notwendige Diskussion. Dies liegt zunächst natürlich in der Geschichte der sozialen Bewegungsforschung in den 60er und 70er Jahren begründet, deren Protagonisten meist selbst aus einem aktivistischen Kontext stammten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Erforschung verschiedenster gesellschaftskritischer Bewegungen wie der neuen Frauenbewegung, der Friedensbewegung, der Anti-Atom-Bewegung usw. stets auch eine Sichtbarmachung und Legitimierung ihrer Proteste und Forderungen zum Ziel hatte. Aus dieser Tradition speist sich sowohl der von anwesenden Aktivist_innen (und einigen Journalist_innen) geäußerte Wunsch nach der „Forschung als Dienstleister“ als auch deren Angst vor einer zu starken Institutionalisierung in den „Herrschaftswissenschaften“. Dem gegenüber steht das wohlbekannte Dilemma der Wissenschaft: Zwar ist zum einen jedes (sozial-)wissenschaftliche Erkenntnisinteresse politisch und somit Forschung nie neutral und objektiv, zumindest der Versuch einer größtmöglichen emotionalen Distanz vom Untersuchungsobjekt soll aber dennoch angestrebt werden. Etwas anders sieht dies natürlich bei anthropologisch inspirierten Konzepten des „Participatory Action Research“, „Action Anthropology“ oder „Going native“ aus.
Des Weiteren trägt die angestrebte Etablierung der sozialen Bewegungsforschung in der deutschen Forschungslandschaft erheblich dazu bei, dass sie sich vermehrt den (Finanzierungs-)Logiken und Hierarchien der Wissenschaftsinstitutionen unterwirft. Gleichzeitig brauchen natürlich auch die Forschenden eine nachhaltige finanzielle Perspektive. Daraus ergibt sich letztlich für die Wissenschaft in Form der sozialen Bewegungsforschung eine „Spannung, gleichzeitig darin und dagegen zu sein“ (Kommentar eines Konferenzteilnehmers). Natürlich führte diese Debatte auch diesmal nicht zu einem Ergebnis. Es wurde jedoch offensichtlich, dass das Institut vor der großen Herausforderung steht, den Spagat zwischen dem Anspruch der (größtmöglichen) Externalität ihrer Forschung seitens der Wissenschaft und dem Anspruch der Internalität seitens der Forschungssubjekte zu schaffen.
Immer wieder wurde auch die Forderung einiger Aktiven laut, die Forschung müsse den Bewegungen Hinweise liefern, wie Proteste erfolgreich gestaltet werden könnten. Sehr wahrscheinlich ist dieser Anspruch aber wohl zu groß, den die Beteiligten in Form einer „Erfolgsformel“ an die Wissenschaft richten. Allein die große Komplexität sozialer Phänomene lässt dies schlicht und einfach nicht zu (siehe dazu auch den APuZ-Beitrag von Dieter Rucht).
Trotz dem genannten Dilemma besteht weiterhin die Möglichkeit, einen nützlichen Beitrag für emanzipatorische Bewegungen und Proteste zu leisten und gleichzeitig Forschung nach größtmöglichen wissenschaftlichen Standards zu betreiben. Die bisherige soziale Bewegungsforschung zeichnet sich vor allem durch eine verengte „eurozentristische Bias“ aus, welche sich wiederum durch ihren Ursprung in den Protestbewegungen der 60er Jahre in den USA und Europa erklären lässt. Zur künftigen Entwicklung sind demzufolge zwei wesentliche Schritte nötig, die auch im Laufe der Konferenz diskutiert wurden und von denen einer theoretischer und der andere eher inhaltlicher Natur ist.
Einerseits bedarf es einer stärkeren theoretischen Rezeption und Verbindung mit anderen Disziplinen. Soziale Bewegungsforschung sollte nicht nur dazu dienen, bestimmte Mechanismen und Prozesse zu identifizieren. Vielmehr sollte sie erklären helfen, wie es durch Protest und Widerstand zu sozialem Wandel kommt und wie dieser verläuft. Andererseits muss sie sich breiter aufstellen, indem vermehrt internationale und historische Perspektiven eingenommen werden. Außerdem könnten aktuelle Bewegungen in Europa und anderswo durch die genannten Rejustierungen ihre eigenen Strategien besser einordnen und reflektieren.
Zwei zentrale Herausforderungen drängen sich in meinen Augen bei dem entsprechenden Versuch einer historischen und geographischen Perspektivierung auf: 1. Die Frage nach der Transnationalisierung aktueller sozialer Bewegungen und ihrer „Neuartigkeit“. 2. Die Frage nach der Konzeption sozialer Bewegungen im internationalen und historischen Vergleich.
Seit Anfang der 1990er Jahre wird im Zuge der zahlreichen globalisierungskritischen Proteste auf internationalen Gipfeln und ihrer Vernetzung auf globalen Foren und „Gegengipfeln“ wie dem Weltsozialforum wahlweise von einer „neuen transnationalen Bewegung“, „transnationalem Aktivismus“, einem „global justice movement“ oder Vergleichbarem gesprochen. Dabei schwingt stets die Überzeugung mit, es handele sich um vollkommen neue transnationale Protest- und Bewegungsformen, die in erster Linie von der fortschreitenden Globalisierung hervorgebracht würden (siehe u.a. Della Porta/ Tarrow 2005). Sind heutige Bewegungen wirklich so transnational? Warum bilden sie dann kein adäquates Gegengewicht gegen in der Tat transnational agierende Unternehmen und politische Organisationen? Wie lassen sich vergangene Protest- und Widerstandsbewegungen einordnen? Waren nicht auch die früheren Studenten-, Friedens-, Frauen-, Befreiungsbewegungen zu einem großen Teil transnational ausgerichtet und vernetzt? Waren dabei frühere „Offline“-Proteste am Ende vielleicht sogar qualitativ tiefer und nachhaltiger vernetzt als sporadische „Online“-Aktivitäten heutzutage?
Der historische und internationale Vergleich zur Beantwortung dieser Fragen wirft zugleich die Frage auf, was eigentlich unter einer (sozialen) Bewegung zu verstehen ist. Hierbei fällt auf, dass politische Gewalt im Zuge internationaler Dissidenz, z.B. in Form von revolutionären Bewegungen, explizit ausgenommen wird. Gerade die Erweiterung um gewaltsamen Protest und Widerstand kollektiver Akteure kann jedoch interessante Erkenntnisse bringen. So waren antikoloniale Bewegungen bereits in ähnlicher und vielleicht sogar stärkerer Weise transnational organisiert wie die heutigen Globalisierungskritiker. Sie trafen sich in internationalen Foren, unterstützten sich gegenseitig, koordinierten ihre Handlungen, waren formell und informell eng vernetzt und stützten sich auf gemeinsame ideologische Diskurse (Panafrikanismus, Panarabismus, Sozialismus etc.). Zudem hatten sie in der Beseitigung des imperialen Kolonialismus ein konkretes Ziel und einen gemeinsamen Gegner. Etwas weniger organisiert und formalisiert verhielt es sich mit der transnationalen Koordination des anarchistischen Widerstands um 1900, der auf Grund seiner Verbreitung und seiner identitätsstiftenden Ideologie aber durchaus auch als transnationale Bewegung gelten kann.
Die hier genannten Beispiele zeigen, dass die Herausforderung für die soziale Bewegungsforschung nicht nur in einer Erweiterung um trans- bzw. internationale und historische Perspektiven besteht, sondern auch in einer konzeptionellen und begrifflichen Erweiterung ihres Untersuchungsgegenstands liegt. Anstatt sich nur auf „klassische“ soziale Bewegungen zu konzentrieren, sollten auch andere kollektive Protest- und Widerstandsformen berücksichtigt werden. Nur dann scheint sie anschlussfähig an Theorien und Analysemethoden anderer Disziplinen wie den Internationalen Beziehungen, den Geschichtswissenschaften, der Anthropologie oder der Soziologie zu sein. Das „Protestinstitut“ ist somit ein vielversprechender Ansatz zur Bündelung von Forschung und kann in Zukunft erheblich zu einem besseren Verständnis von vergangenem und gegenwärtigem Protest und Widerstand beitragen. Wir dürfen gespannt sein und wünschen alles Gute!