Die Generäle und die Demokratie: Zur Rolle der Armee in Ägypten und Tunesien

von Irene Weipert-Fenner

Dass in Ägypten und Tunesien der sogenannte Arabische Frühling weitgehend friedlich die jeweiligen Diktatoren zu Fall brachte, hängt unter anderem damit zusammen, dass in beiden Ländern die Armee gegen die Proteste nicht gewaltsam vorging. Doch während in Ägypten das Militär direkt nach der Revolution politische Ämter übernahm und im Juli 2013 erneut intervenierte, um Präsident Mursi abzusetzen, hält sich in Tunesien die Armee aus dem politischen Prozess heraus. Doch welche Rolle genau spielen die Generäle in den beiden Ländern und wie hängt diese mit den zum Teil turbulenten Demokratisierungsprozessen zusammen? Hier ein Vergleich der unterschiedlichen, historisch gewachsenen Positionen der Streitkräfte im Staat, der deren politisches Eingreifen beziehungsweise Zurückhaltung aus dem politischen Prozess verständlich macht. Dabei zeigt sich, dass sowohl die Rolle der Streitkräfte bei der Gründung der Republiken in den 1950er Jahren als auch Strukturreformen in den 1960er Jahren die Grundlagen dafür legten, dass die ägyptische Armee mit Politik und Wirtschaft heute aufs engste verbunden ist, das tunesische Militär dagegen eine Randfigur im politischen Machtgefüge darstellt.

Politisiert vs. apolitisch
Mit dem Coup der Freien Offiziere 1952 übernahm in Ägypten das Militär die Macht und führte unter dem General und Präsidenten Gamal Abdel Nasser mit dem Sueskrieg 1956 das Land in die vollständige Unabhängigkeit von Großbritannien. Damit stellten die Streitkräfte eine der tragenden Institutionen der neuen Republik dar und hatten von Anfang an eine politische Rolle inne. In Tunesien hingegen kam es unter zivilen Eliten zur Dekolonialisierung. So war Habib Bourguiba, der erste Staatspräsident nach der Befreiung, Jurist und Politikwissenschaftler. Trotz dieser unterschiedlichen Voraussetzungen hatten beide Präsidenten das gleiche Ziel, nämlich ihre Macht zu konsolidieren und einen Militärcoup möglichst zu verhindern. Spätestens mit dem Putschversuch 1962 wurde es für Bourguiba zur zentralen Herausforderung, die Armee weiter aus dem politischen Prozess zu drängen. Einen Einschnitt stellte in Ägypten hingegen die verheerende Niederlage im Sechs-Tage-Krieg 1967 dar, die Nasser in die Zwickmühle brachte, wie er einerseits die Armee effektiver und erfolgreicher aufstellen konnte, ohne dass sie andererseits so mächtig zu werden drohte, dass sie eine ernste Gefahr für seine Herrschaft darstellen würde. Diese Zäsuren führten zu folgenden Strukturreformen in den jeweiligen Ländern.

Verflechtung vs. Marginalisierung
In Tunesien setzte Präsident Bourguiba wie sein Nachfolger Ben Ali auf eine klare Strategie der Schwächung der Armee. Dafür wurde das Militär der neu geschaffenen, zivilen Nationalgarde unterstellt. Auch sein Nachfolger Zine el-Abidine Ben Ali – trotz seiner militärischen Ausbildung, aber eben als ehemaliger Innenminister – lenkte die Ressourcen weg vom Verteidigungsministerium hin zu zivilen Sicherheitskräften, die den Großteil der staatlichen Repression im Innern ausführte. Weiterhin wurde die Truppenstärke auf 40.000 Mann reduziert und die Truppen selbst geographisch isoliert. Kasernen wurden in bevölkerungsarme Provinzen verlagert oder Soldaten auf Auslandseinsätze im Rahmen von Peacekeeping-Missionen geschickt. Damit wurde die Armee sowohl politisch als auch wirtschaftlich marginalisiert (Parker 2013).

In Ägypten setzte Nasser auf eine dreiteilige Strategie. Die Armee sollte erstens professioneller werden, das heißt die Ausbildung wurde sowohl im militärischen Bereich verbessert als auch um zivile Elemente erweitert. Er stärkte zweitens das Leistungsprinzip innerhalb der Armee, was einerseits zu einer höheren Effizienz führen sollte, aber andererseits auch die soziale Heterogenität vergrößern und damit einer Kastenbildung innerhalb der Armee entgegenwirken sollte. Und drittens wurde ein Rotationsprinzip eingeführt, das regelmäßige Versetzungen sowohl innerhalb der Armee als auch in den zivilen Bereich vorschrieb. Somit konnte sich keine feste Gegenmacht innerhalb der Armee etablieren. Doch gerade der letzte Faktor führte dazu, dass Militärangehörige sich in weite Teile des zivilen Staates einfügten und vernetzten, was zu dem mittlerweile bekannten Phänomen der großen Wirtschaftsmacht des ägyptischen Militärs sowie zu der Verflechtung mit politischen Posten, gerade auf Ebene der Gouverneure führte. In diesem Rahmen baute sich das Militär eine „Komfortzone“ (Albrecht 2013) aus Privilegien in politischen und wirtschaftlichen Bereichen auf, die eine gewisse Autonomie vom jeweiligen Herrscher mit sich brachte.

Eine Gemeinsamkeit in beiden Ländern ist dagegen das weitgehend positive Standing der Militärs innerhalb der Bevölkerung. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass alltägliche Repressionen zur Machtsicherung von paramilitärischen Einheiten des Innenministeriums ausgeführt wurden. Der Einfluss in sicherheitspolitischen Entscheidungen konzentrierte sich in Ägypten vor allem auf eine Beibehaltung des kalten Friedens mit Israel und beinhaltete keine eigene politische Agenda. Wenn sich die Gelegenheit bot, arbeiteten die Generäle auch gezielt an einem positiven Image, wie beispielsweise in der Nahrungsmittelkrise 2008, als es zu langen Schlangen und Handgreiflichkeiten vor Bäckereien kam und Soldaten das in eigenen Firmen produzierte Brot in den Straßen Kairos verteilten.

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Quelle: EGYPT von Muhammad Ghafari unter CC BY 2.0.

Die Armeen in und nach der Revolution
Die marginalisierte tunesische Armee hatte also wenig zu verlieren, als die Bevölkerung in Massenprotesten den Sturz Ben Alis forderte und der damalige Oberbefehlshaber der Landkräfte, General Ammar, beschloss, nicht gegen Zivilisten vorzugehen. Als neutral und apolitisch angesehen, wurden die Militärs von den Tunesiern nicht in Verbindung mit dem – auch für autoritäre Verhältnisse besonders repressiven – Sicherheitsapparat gebracht. Auch nach der Revolution blieb die Armee außerhalb der politischen Prozesse, übernahm dafür aber Aufgaben der inneren Sicherheit und füllte damit das Vakuum, das durch die Auflösung der alten Sicherheitsbehörden entstanden war. Was anfangs als Unterstützung des Transformationsprozesses begrüßt wurde, wendete sich bald gegen die Armee, die aufgrund mangelnder Ausbildung für Polizeiaufgaben und fehlender Ressourcen die öffentliche Ordnung nicht zufriedenstellend aufrechterhalten konnte. Außerdem fehlt es den Streitkräften dadurch an Personal und Ausstattung, um die eigentliche Aufgabe, die Landesverteidigung und Schutz der Grenzen zu erfüllen. Gerade der Waffenschmuggel aus dem instabilen Libyen und Gefechte an der algerischen Grenze mit militanten Islamisten stellen aber die eigentlichen Herausforderungen für die Armee dar. Hier zu einer klaren Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit zu kommen, wäre wohl auch im Interesse der Militärs. Offen ist hingegen die Frage nach der parlamentarischen Kontrolle der Armee, die bisher noch nicht eingerichtet wurde.

In Ägypten ist es aber die entstandene Verflechtung zwischen militärischen und zivilen Sektoren, die als „deep state“ bezeichnet wird, welche die Armee sensibler auf die politischen Veränderungen reagieren lässt als die Armee in Tunesien. Dies erklärt auch, warum sie immer wieder in verschiedenen Formen interveniert, um ihre Privilegien abzusichern (siehe auch „am institutionellen Nullpunkt“ und „Der unbekannte Text“). Eine Destabilisierung der öffentlichen Ordnung wird hierbei als größte Gefahr für die eigene Position gesehen, was die Generäle bereits zwei Mal dazu bewogen hat, den aktuellen Herrscher abzusetzen. Damit sind der Sturz Husni Mubaraks und Muhammad Mursis in der Hinsicht gleichzusetzen, dass eine demokratische Gesinnung seitens der Armee keine zentrale Rolle bei den Interventionen in den politischen Bereich gespielt hat. Dies bedeutet auch, dass die strategischen Überlegungen der Militärs nicht auf einen Erfolg des Demokratisierungsprozesses ausgelegt sind. Ob dies langfristig den Interessen der Generäle dient, lässt der aktuelle Anstieg politischer Gewalt nach der Absetzung Mursis zweifelhaft erscheinen. Wenngleich keine Demokraten haben die Generäle auf der anderen Seite auch kein großes Interesse an der Übernahme politischer Herrschaft in Form einer klassischen Militärdiktatur, vor allem nachdem sie in der Übergangszeit 2011 an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gescheitert waren und selbst zum Objekt des öffentlichen Protests wurden. Diese ambivalente Rolle, sich einerseits selbst nicht den demokratischen Spielregeln unterwerfen zu wollen und andererseits Herrschaftsträger bei einer breiten Aberkennung der Legitimität des Amtes zu entheben und damit eventuell neuen autoritären Strukturen vorzubeugen, wird für den weiteren Demokratisierungsprozess Ägyptens in jedem Fall auf längere Zeit eine Herausforderung darstellen.

Die Kunst wird es in beiden Ländern wenn auch unter sehr verschiedenen Voraussetzungen sein, eine zivile demokratische Ordnung aufzubauen, die ausreichend Stabilität erzeugt und damit keinen Anreiz für das Militär bietet, wieder in den politischen Prozess einzugreifen, um dann mittel- bis langfristig, Stück für Stück zivile und militärische Bereiche sowie innere und äußere Sicherheit zu entflechten und die Armee unter demokratische Kontrolle zu bringen. Für den Moment heißt das aber auch: eine politische Herrschaft – autoritär oder demokratisch – gegen die Generäle wird es vorerst nicht geben.

Literatur

Weiterführende Literatur:

  • Aurel Croissant 2013: Militär und Politik in den arabischen Autokratien. Von Boemcken, Werkner et al. (Hg.) 2013 – Friedensgutachten 2013. Lit: Berlin, S. 98–111
  • Hanspeter Mattes 2013: Schwierige Neupositionierung des Militärs in Tunesien, Ägypten und Libyen. GIGA Focus Nahost, NR. 4

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