von Tim Rühlig
Vielfach ist argumentiert worden, China sei einer der Hauptprofiteure von den Enthüllungen des ehemaligen amerikanischen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden. Amerikas früherer Vizepräsident Dick Cheney sieht in ihm gar einen Spion der Volksrepublik China. Peking wies das sofort zurück. Ein Blick auf die chinesische Diskussion um Edward Snowden zeigt: Nicht nur Cheneys Vermutung schießt deutlich über das Ziel hinaus. Denn die chinesische Führung beobachtet die Entwicklung gleichsam aufmerksam und nervös. Sie fürchtet um ihre eigene Legitimität.
Die Enthüllungsaffäre um Edward Snowden hat global Wellen geschlagen. So auch in der Volksrepublik China, die in zweierlei Weise direkt verstrickt ist: Erstens enthüllte der Whistleblower, dass China in großem Maße Ziel amerikanischer Spähaktionen wurde. Im Visier hatten die Amerikaner Mobilfunkbetreiber zur Überwachung des chinesischen SMS-Verkehrs, vor allem aber verschiedenen Universitäten in der Volksrepublik und in Hongkong. Denn, so berichtet die in Kalifornien ansässige China Digital Times, zentrale Schnittstellen chinesischer Internetkommunikation sind in der Beijing University, der Tsinghua University sowie der in Hongkong ansässigen Chinese University angesiedelt. Insgesamt geht Snowden davon aus, dass die NSA mehrere hundert Ziele auf dem chinesischen Festland und in Hongkong attackiert hat.
Zweitens ist China in den „Fall Snowden“ durch dessen Flucht nach Hongkong und das amerikanische Auslieferungsgesuch involviert gewesen. (Medien berichten zudem unter Berufung auf das Weiße Haus, dass die chinesischen Behörden unmittelbaren Zugriff auf die von Snowden mitgeführten Daten ohne dessen Einverständnis bekommen haben; siehe z.B. Der Spiegel vom 8. Juni 2013; S. 20). Zwar betonte die Regierung in Peking stets, die Behörden Hongkongs handelten autonom. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Zentralregierung jede Entscheidung der Hongkonger Verwaltung hätte korrigieren können. Insofern war die Volksrepublik China auch Teil der Flucht des Edward Snowden vor den US-Behörden.
Vorbild ade – die chinesische Erleichterung über die amerikanische Internetüberwachung
Doch neben diesen beiden direkten Bezügen Chinas zum „Fall Snowden“ gibt es weitere, zwar indirekte aber wohl wesentlich gravierendere Implikationen der Entwicklung für die Führung der Volksrepublik. Bislang war es vor allem China gewesen, dass massiv kritisiert worden war, die Freiheit des Internets einzuschränken und obendrein noch Spionage, mutmaßlich zu wirtschaftlichen Zwecken, zu betreiben. Mit den Enthüllungen des Whistleblowers Snowden kann die chinesische Regierung nun auf internationalem Parkett darauf verweisen, dass auch die USA massiv in das Internet eingreifen. Noch 2010 hatte die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton in einer viel beachteten Rede für die Freiheit des Internets in China geworben. Die Enthüllungen Snowdens führen nun dazu, dass die chinesische Presse die damalige Rede mit einer unverkennbaren Süffisanz kommentiert.
Diese Erleichterung für die chinesische Regierung, die sich nun einem geringeren Druck ausgesetzt sieht, betrifft jedoch nicht nur die internationale, sondern auch die nationale Politik. Denn wie der Journalist und Blogger Zhao Jing, besser unter dem Namen Michael Anti bekannt, meint, kann die chinesische Führung nun auch in innerstaatlichen Diskussionen darauf verweisen, dass Überwachungs- und Zensurpraktiken keine Besonderheit sind. Schließlich zeige der Fall, dass jedes Land das Internet überwache. Anti, der lange Zeit für große amerikanische Medien, darunter die New York Times, arbeitete, setzt sich seit Jahren für Freiheitsrechte, vor allem im Internet, ein. Entsprechend besorgt zeigt er sich über diese Entwicklung.
In der Tat ist davon auszugehen, dass das Bild der USA als dem Vorkämpfer der Freiheitsrechte erheblich gelitten haben dürfte. Ein Blick in die sozialen Netzwerke Chinas unterstreicht, dass die doppelten Standards die die Vereinigten Staaten anlegen, vielfach kritisiert werden. Im Jahr 2010 hatten Netzaktivisten vor der Firmenzentrale von Google China Blumen niedergelegt, als sich die Firma wegen Zensur aus der Volksrepublik zurückgezogen hatte. Angesichts der jüngsten Entwicklungen ist so etwas wohl undenkbar geworden. Exemplarisch für diese Entwicklung mag der Eintrag eines Internetnutzer in einem Forum des großen Internetanbieters Tianya gelten, der meint, Obama sei ein linksgerichteter Präsident, der im Anti-Terror-Kampf stets die Einhaltung von Menschenrechten und eine enge internationale Zusammenarbeit versprochen habe. Nun sei er dabei, all diese Versprechungen zu brechen.
So kommt es, dass noch vor wenigen Jahren Amerika als das Opfer chinesischer Spionage dienen mochte, während sich heute chinesische Internetnutzer darum Gedanken machen, dass die Fotos der chinesischen First Lady, Frau Peng, die diese im Verlauf einer Mittelamerikareise aufgenommen und in der iCloud von Apple gespeichert hatte, auf einem US-Server mit direktem Zugriff amerikanischer Geheimdienste ausgesetzt sind. Zwar handelt es sich bei diesen Schnappschüssen der Frau Peng, die während ihres Aufenthalts in Mexiko das Interesse des chinesischen Boulevards erregt hatten, sicherlich nicht um brisantes Material. Doch die Sorge einiger Internetnutzinnen und -nutzer um diese Fotos veranschaulicht an einem lapidaren Beispiel den Rollentausch, den China und die USA in der Wahrnehmung einer breiten Online-Öffentlichkeit in China vollzogen haben.
So verwundert es kaum, dass die Staatspresse Chinas in den Chor der US-kritischen Kommentare einstimmt: Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua sprach von den USA als dem „größten Gauner unserer Zeit“, von dem man eine Erklärung und eine Entschuldigung erwarte. Die Global Times nannte Washingtons Reaktion „hysterisch“ und argumentierte, Snowden tue nur Gutes für die Welt. Washington hingegen sei dabei, die Welt, die es selbst aufgebaut habe, zu zerstören. Die in Hongkong herausgegebene der chinesischen Führung nahestehende Zeitung Ta Kung Pao nannte das amerikanische Verhalten „barbarisch und arrogant“. Angesichts solch großer Übereinstimmungen zwischen den geäußerten Meinungen von Netzgemeinde und staatlichen Akteuren liegt die Vermutung nahe, die politische Führung profitiere vom „Fall Snowden“ auch innenpolitisch.
Erleichtert? Von wegen! – Die chinesische Nervosität und die Debatte um Ed Snowden
Doch obwohl solche Pressestimmen nur mit Billigung (wenn nicht gar auf Geheiß) der chinesischen Zentralregierung zustande kommen können, hatte auch die Führung offenbar kein Interesse an einer breiten Diskussion. Denn die chinesische Regierung und die Spitzenkader der Kommunistischen Partei schwiegen weitgehend zum „Fall Snowden“. Man mag zwar argumentieren, dass die Führung der Auffassung war, der Fall spreche ohnehin schon für sich und müsse nicht weiter kommentiert werden um seine politische Wirkung zu entfalten. Doch dies ist wohl nur ein Teil der Erklärung für dieses Schweigen. Die Motivlage wird wohl vielschichtig gewesen sein:
Erstens möchte China seine Beziehungen zu den USA nicht weiter belasten. Zweitens bemüht sich die Regierung stets auch darum, den durch die amerikanischen Attacken verursachten Schaden herunterzuspielen. Offenbar möchte man bestehende Sicherheitslücken nicht zu groß erscheinen lassen, die zu einer Infragestellung der Effektivität staatlicher Sicherungsmaßnahmen führen könnten. Drittens will die chinesische Führung die Diskussion um den „Fall Snowden“ unbedingt kontrollieren und in einem von ihr gesetzten Rahmen belassen. Bester Beleg dafür ist eine Mitteilung der Zentralen Propagandaabteilung vom 19. Juni 2013, in der es heißt:
Aber warum wurde diese Anweisung erlassen? Offenbar fürchtet die chinesische Regierung eine Diskussion, die sich gegen sie wenden könnte. Und in der Tat zeigt ein Blick in die Diskussionen im Internet, dass der „Fall Snowden“ Potential zur Kritik an der chinesischen Führung beinhaltet:
Ein Blick in die umfangreichen Diskussionen (der Fall wurde viel diskutiert, wie die Tatsache zeigt, dass die chinesische Suchmaschine Baidu, die in der Volksrepublik eine ähnliche marktbeherrschende Position einnimmt wie hierzulande google, am 25. Juni das Thema als das am zweihäufigsten gesuchte an diesem Tag auswies) zeigt, dass Snowden im chinesisch-sprachigen Internet als Held gefeiert wird. Immer wieder drücken Internetnutzerinnen und -nutzer ihre Bewunderung für diesen jungen Mann aus. Meistens halten sie Snowden zugute, dass er seinen mit $ 200.000 dotierten Job aufgegeben und auf das friedliche Zusammenleben mit seiner hübschen Freundin und seiner liebevollen Familie verzichtet habe, nur um der Welt die Wahrheit zu sagen. Snowden sei sich bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit vom amerikanischen Geheimdienst aufgespürt zu werden, sehr groß sei. Er aber folge seinem Gewissen und trete für die Freiheit ein.
Angesichts dieser Stimmungslage verwundert es nicht, dass die Internetnutzerinnen und -nutzer eine Auslieferung Snowdens von Hongkong aus an die USA nicht gutgeheißen hätten. Fast alle Einträge unterstützen die Linie der Zentralregierung, die über die Volkszeitung wissen ließ, China würde sein Gesicht verlieren, lieferte es Snowden aus, dieser habe schließlich nichts Kriminelles getan.
Doch diese Haltung der Regierung reicht einigen, vor allem nationalistisch gesinnten Forennutzerinnen und -nutzern nicht. Sie fordern eine härtere Position Chinas gegenüber den USA. China hätte Snowden schützen müssen, denn viele mächtige Menschen in der US-Regierung und die Geheimdienste klagten ihn des Verrats an. Ein faires Verfahren gegen Snowden in den USA sei nicht zu erwarten. Die Regierung müsse ihm daher erlauben, legal nach China einzureisen, ihn sichern und nicht ausliefern. Exemplarisch schreibt ein Nutzer des beliebten tieba.baidu-Forums knapp: „Warum kneift unsere Regierung und gibt ihm kein politisches Asyl?“
Die Antwort auf diese Frage ist nicht sonderlich schwierig und ergibt sich aus einer anderen Kritik: Denn liberale Internetnutzerinnen und -nutzer verbinden ihre Kommentare zum „Fall Snowden“ mit einer allgemeinen Debatte um die Freiheit im Internet, einschließlich eines direkten Bezugs zur Internetzensur und -überwachung in China. Eine TV-Moderatorin twitterte beispielsweise, ein Gast ihrer Sendung habe ihr gesagt, es sei unwahrscheinlich, dass eine Person ähnliche Geheimnisse über die chinesischen Geheimdienste ausplaudere. Falls dies doch geschehen sollte, sei er sicher, dass China die Ausreise zu verhindern wisse. Der 1961 geborene und in Peking lebende ehemalige Chef von Google China, Kai-Fu Lee, der mit mehr als 48 Millionen Followern einer der beliebtesten Mikroblogger ist und sich immer wieder für die Freiheit im Internet einsetzt, verglich den aktuellen Fall mit dem Überwachungsregime des korrupten chinesischen Königs Li aus dem 9. Jh. v. Chr. Ein drittes Beispiel stellen die Äußerungen des chinesischen Künstlers und Menschrechtsaktivisten Ai Weiwei dar, der zu Protokoll gab, Individualrechte dürften keinem Staat anvertraut werden, weder den USA noch China. Allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, dass Ai sich keiner großen Beliebtheit in der breiten chinesischen Öffentlichkeit erfreut, wenig Aufmerksamkeit erfährt (im Gegensatz zu seiner enormen Popularität im Ausland) und zumeist eine Außenseiterrolle einnimmt.
In diesem Fall zeigt sich jedoch, dass auch nicht prominente Internetnutzerinnen und -nutzer den „Fall Snowden“ kritisch gegen die eigene Regierung wenden. So wird exemplarisch in einem Tianya-Forum argumentiert, man könne zwar durchaus sagen, dass Chinesen die Freiheit im Internet nicht zu schützen wüssten. Aber warum meinten die Amerikaner, sie würden dies tun?! Wenn die Freiheit der Amerikaner geschützt werde, dann werde damit auch die eigene Freiheit gestärkt.
Solche Äußerungen mögen auf den ersten Blick harmlos wirken. Doch die Verknüpfung der Enthüllungen Edward Snowdens mit der chinesischen Internetzensur ist politisch brisant. So fragt ein Mikroblogger, was wohl geschehen wäre, wenn dies in China passiert wäre um gleich seine Antwort anzuschließen: „Ich glaube, er wäre bei einem Autounfall getötet worden oder durch eine Kohlenmonoxidvergiftung gestorben oder etwas ähnliches.“ Auch Michael Anti relativiert seine oben vertretene Position und argumentiert, dass dank Snowden Regierungen nicht einfach Daten sammeln könnten, sondern fürchten müssten, von ihren Bürgerinnen und Bürgern kontrolliert zu werden.
So zeigt sich einmal mehr, dass im chinesisch-sprachigen Netz – vor allem bei Twitter (das allerdings weitgehend in China unzugänglich ist) und seinem Äquivalent Weibo – über die Internetzensur kritisch diskutiert wird und dies obwohl viele Wörter zu diesem Themenkomplex auf einem Index stehen und automatisch zur Zensur führen (dazu zählt auch der Begriff der „Great Firewall“, einem der zentralen Zensurinstrumente).
Es ist daher alles andere als verwegen, wenn die China Digital Times der Kommunistischen Partei Chinas unterstellt, sie habe ein Interesse daran, dass die Diskussionen um Snowden nicht zu umfangreich würden. Solche Debatten könnten Erinnerungen an die eigene Unfreiheit wecken. Auch deshalb dürfte die Führung in Peking froh gewesen sein, als Snowden Hongkong gen Moskau verlassen hatte.
So bewegt sich die Diskussion aus Sicht der politischen Führung Chinas auf einem schmalen Grat: Einerseits nutzt es ihr, wenn die USA politisch beschädigt sind und ihre Strahlkraft als ein leuchtendes Vorbild leidet. Gleichzeitig könnte eine Verselbstständigung der Debatte oder gar ein offensives Eintreten der chinesischen Regierung für Internetfreiheit zum Bumerang für das Regime werden. Was bei der chinesischen Führung bleibt ist eine Mischung aus Erleichterung und Nervosität. Sie profitiert vom „Fall Snowden“, aber sie fürchtet ihn auch.