von Marco Fey
Die Vereinigten Staaten wissen auf internationaler Bühne in aller Regel ihren treuesten Verbündeten Großbritannien an ihrer Seite. Die beiden Staaten sind durch eine special relationship verbunden. Hartnäckig hält sich in diesem Zusammenhang eine Metapher, die vom Schoßhund oder auch Pudel, der treu ergeben und ohne zu zögern dem großen Bruder in dessen Kriegseinsätze folgt. Dieses Bild ist allerdings falsch, denn tatsächlich ist es häufig Großbritannien, das nach militärischer Lösung von Konflikten ruft. Die wahren Falken scheinen in No. 10 Downing Street zu sitzen. Nun aber hat das britische Unterhaus der Regierung den geplanten Angriff auf Syrien untersagt. Ist dies das Ende der Ära britischer Interventionen?
Seit dem Beginn der Syrien-Krise gehören der britische Premierminister David Cameron und sein Außenminister William Hague zu den vehementesten Befürwortern eines schärferen Vorgehens gegen das syrische Regime, notfalls auch mit militärischen Mitteln. Im Mai diesen Jahres – Hague hatte gerade im Verbund mit seinem französischen Amtskollegen erwirkt, dass die EU das Waffenembargo gegen die Rebellen in Syrien nicht verlängerte – urteilte die Daily Mail über ihn:
judging by his enthusiasm for interventions in the Arab world, Mr Hague seems to fancy himself as the reincarnation of Lord Palmerston, the Victorian statesman who liked to send British gunboats into action before breakfast.
Nach dem Chemiewaffen-Einsatz am 21. August rief Hague die internationale Gemeinschaft zum unverzüglichen Handeln auf. Er erklärte, ein Mandat des UN-Sicherheitsrats sei für eine Intervention nicht zwingend notwendig. Cameron und US-Präsident Obama ließen nach einem 40-minütigen Telefonat verlautbaren, dass der Chemiewaffen-Einsatz eine „serious response“ erfordere; alle Optionen seien auf dem Tisch. Es deutete vieles auf eine wie auch immer geartete militärische Intervention hin, an der auch britische Streitkräfte beteiligt sein würden.
Aber es sollte anders kommen. Vergangenen Donnerstag ereignete sich spätabends Erstaunliches in der „Mutter aller Parlamente“: Mit 282 zu 272 Stimmen lehnte das britische Unterhaus eine Regierungsvorlage ab, die eine starke Antwort der internationalen Gemeinschaft auf den Einsatz von Chemiewaffen in Syrien forderte, wenn nötig auch ein militärisches Eingreifen. Dabei hatte die Regierung die Vorlage im Vergleich zu einem vorherigen Entwurf sogar noch stark abgemildert und gehofft, so der Opposition und einigen Kritikern aus den eigenen Reihen ausreichend entgegengekommen zu sein. Doch 30 Conservatives und neun Lib Dems rebellierten und fügten dem Premierminister eine herbe Niederlage zu. Deren Ausmaß wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass das Parlament in der Frage von Krieg und Frieden zuletzt in der Suez-Krise gegen die Regierung stimmte und es überhaupt das erste Mal ist, dass eine britische Regierung an der Entsendung von Truppen gehindert wird. Rechtlich hat die verlorene Abstimmung keinerlei Bindung, sie baut jedoch enormen politischen Druck auf. Premierminister Cameron erklärte in der Tat auch umgehend, dass er den ausdrücklichen Willen des Parlamentes nicht umgehen und britische Streitkräfte nicht an militärischen Aktionen gegen die syrische Regierung beteiligen werde.
The last time we went to war with France at our side but not the UK it was 1778 and we were fighting the UK.
— Binyamin Appelbaum (@BCAppelbaum), Washington correspondent for The New York Times, Tweet August 30, 2013
Der Spiegel kürte „nach der Absage der Briten“ Frankreich zu Obamas wichtigstem Waffenbruder. Und RUSI’s Malcolm Chambers argumentiert, dass sich in Zukunft für „wars of choice“ – insbesondere im Nahen und Mittleren Osten – keine Mehrheiten mehr in der Bevölkerung finden ließen, geschweige denn im Parlament. Die Schatten der Kriege in Afghanistan und Irak reichten schlicht zu weit.
Gewichtige Bestandteile der britischen Identität sprechen gegen diese These. Die Verteidigung von Menschenrechten und Freiheit sind konstitutive Bestandteile der eigenen Definition von Britishness. Immer wieder wurden diese Werte im Kampf gegen äußere Feinde beschworen. Nicht zuletzt durch den Zweiten Weltkrieg manifestierte und verstärkte sich das Selbstbild eines Verfechters von Freiheit und Demokratie. Unter der Labour-Regierung von Tony Blair wurde das Bild des britischen Militärs als „force for good“ in der Welt geprägt.
Darüber hinaus wirkt aus vergangenen Zeiten des Empires noch immer die Vorstellung nach, eine internationale Führungsrolle wahrnehmen zu können. Der Anspruch, die internationalen Beziehungen proaktiv mitzugestalten und überproportionalen Einfluss auszuüben, gipfelt oftmals darin, dass das Vereinigte Königreich in einer höheren Gewichtsklasse boxt, als es materielle (Macht-)Faktoren erwarten lassen. Dies drückt sich auch in dem hohen Stellenwert aus, den das Militär in Gesellschaft und Politik genießt. In den ersten Jahrzehnten des britischen Niedergangs (decline) nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Streitkräfte eine der wenigen Institutionen, aus denen Stolz und Status erwuchsen. Großbritannien ist aufgrund seiner Vergangenheit als Groß-, Imperial- und Seemacht an den Einsatz seiner Truppen in allen Gegenden der Welt gewöhnt (Fey 2013).
So überrascht es nicht, dass das Vereinigte Königreich zu den Demokratien gehört, die am häufigsten Krieg führen. Alleine unter Ex-Premierminister Tony Blair waren es fünf Interventionen: Irak (1998), Kosovo (1999), Sierra Leone (2000), Afghanistan (seit 2001) und Irak (2003-2009): „No British Prime Minister and few world leaders come close“ (Kampfner 2003: ix). Unter Cameron kam die Intervention in Libyen (2011) hinzu.
Schon 1990, in den Monaten vor dem Golfkrieg, forderte Margaret Thatcher den amerikanischen Präsidenten George H.W. Bush nachdrücklich auf: „Don’t go wobbly, George!“ Die Eiserne Lady und ihr Nachfolger John Major plädierten für einen entschlossenen Kurs gegenüber Saddam Hussein und ließen keine Gelegenheit aus, ihre kompromisslose Haltung zu demonstrieren. Insbesondere Thatcher drängte schon früh auf eine militärische Lösung des Konflikts. Thatcher hielt sich zum Zeitpunkt der irakischen Invasion Kuwaits in Aspen, Colorado, auf. Sie beorderte umgehend zwei Kriegsschiffe in den Golf. Anschließend traf sie Präsident George Bush. Die späteren Darstellungen dieses Treffens unterscheiden sich bezüglich des Einflusses der Premierministerin auf den amerikanischen Umgang mit dem Konflikt. Insbesondere britische Quellen gehen davon aus, dass sie einen zögernden Präsidenten zu einer entschlossenen Antwort und in die Führungsrolle drängte. Unumstritten ist, dass Thatcher schon zu diesem Zeitpunkt auf ein resolutes Auftreten gegenüber dem Irak festgelegt war und Bush die volle (auch militärische) Unterstützung ihres Landes zusicherte. Im Vorfeld der Intervention wies die britische Regierung russische und französische Initiativen, die Verhandlungen mit Saddam Hussein in Aussicht stellten, deutlich zurück und kritisierte die europäischen Partner aufgrund ihrer mangelnden Bereitschaft zur Entsendung von Truppen scharf.
Auch im Kosovokonflikt trat Großbritannien von Beginn an entschlossen auf. Im Verlauf des Konflikts entpuppte es sich als „leading hawk in the West“ (Richardson 2000: 145). Im Juni 1998 warnte Blair den serbischen Präsidenten Milosevic, dass weder NATO noch EU eine Intensivierung des Konfliktes dulden würden. In einer Kabinettssitzung erklärte er seine Bereitschaft, britische Truppen zu entsenden. Im Oktober beschloss der Verteidigungsausschuss des Kabinetts dann tatsächlich die Vorhaltung britischer Kampfflugzeuge und Soldaten für eine Beteiligung an möglichen Kampfhandlungen. Zu diesem Zeitpunkt also sogar bereit, Bodentruppen einzusetzen, bemängelten die Briten die Unentschlossenheit des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Ihrem Ärger über die Verbündeten freien Lauf ließen britische Offizielle dann im März 1999, nachdem die Verhandlungen in Rambouillet endgültig gescheitert waren: Die Amerikaner hätten eine starke gemeinsame Position gegenüber Milosevic kontinuierlich unterminiert. Während man in London schon seit 1998 an einem Invasionsplan arbeitete, habe Washington den Fehler begangen, einen Bodenkrieg strikt auszuschließen.
Großbritanniens Teilnahme am Irakkrieg 2003 war der umstrittenste britische Kriegseinsatz seit dem Suez-Krieg 1956. Anders als vor dem Golfkrieg und dem Kosovokrieg war die britische Regierung zwar nicht die treibende Kraft, aber der engste Verbündete der USA und schon früh bereit, diese auch militärisch zu unterstützen. Verschiedene Indikatoren, wie z.B. Blairs im engsten Kreis wiederholt geäußerte Überzeugung des „doing the right thing“ deuten aber darauf hin, dass die Schoßhund-Metapher auch in diesem Konflikt unangebracht ist. Auch war der britische Premierminister lange vor dem Bekanntwerden der amerikanischen Pläne, Saddam Hussein zu stürzen, davon überzeugt, dass mittelfristig ein erzwungener Regimewechsel die erfolglose Eindämmungspolitik der 1990er Jahre ablösen müsse. Aufgrund der katastrophalen Auswirkungen auf die irakische Zivilbevölkerung erachtete er eine Fortführung der Sanktionspolitik für nicht mehr verantwortbar.
Gegen die These von der britischen Kriegsmüdigkeit spricht schließlich auch die Rolle des Landes im Libyen-Konflikt. 2011 war es die britische Regierung – im Verbund mit der französischen –, die mit Nachdruck auf die Einrichtung der Flugverbotszone drängte. Gemeinsam mit Frankreich und dem Libanon arbeitete Großbritannien den Entwurf zur späteren Sicherheitsratsresolution S/RES/1973 aus, die dann die völkerrechtliche Legitimation für die Intervention bilden sollte. Außenminister William Hague fasste die britischen Beweggründe zu intervenieren wie folgt zusammen: „We have said all along that Gaddafi must go, that the Libyan people must be able to have a more representative government and determine their own future. And it is necessary to take these measures to avoid greater bloodshed, to try to stop what is happening in terms of the attacks on civilians and on the people of Libya.“ Das Unterhaus gab der Regierung mit überwältigender Mehrheit (Ayes: 557, Noes: 13) grünes Licht für die Intervention .
Die Niederlage im Parlament spiegelt aber keine prinzipielle Opposition gegen einen Syrien-Einsatz wider. Vielmehr hat die Regierung schlicht gravierende Fehler gemacht und Zeichen im Vorlauf der Debatte falsch gedeutet. Es spricht einiges dafür, dass sich die Labour-Partei (und die Rebellen von den eigenen Hinterbänken) einer britischen Beteiligung an einer Intervention wohl nicht verschlossen hätten, wenn die Ergebnisse der UN-Inspektoren abgewartet und zwingende Beweise vorgelegt worden wären, die die Verantwortung für den Chemiewaffen-Einsatz dem syrischen Regime zuordnen. So aber wird sich die Regierung dem Votum nun zähneknirschend beugen. Dies läutet aber keineswegs das prinzipielle Ende britischer Interventionen ein.
Literatur:
- Fey, Marco 2013, 'The right thing to do'? British interventionism after the Cold War, in: Anna Geis/Harald Müller/Niklas Schörnig (Hrsg.), The Militant Face of Democracy. Liberal Forces for Good, Cambridge: Cambridge University Press, 89-123.
- Kampfner, John 2003, Blair’s Wars, London: Free Press.
- Richardson, Louise 2000, A Force for Good in the World? Britain’s Role in the Kosovo Crisis, in: Pierre Martin/ Mark R. Brawley (Hrsg.), Alliance Politics, Kosovo, and NATO’s War: Allied Force or Forced Allies?, New York/Houndmills: Palgrave, 145-164.
Sehr schön, Marco! Auch wenn Du in meinen Augen die Identität stabiler framest, als ich es tun würde, kann ich Deine Argumentation gut nachvollziehen.
Was würdest Du zu Kommentatoren sagen, die das britische Verhalten als “Sehnsucht nach den goldenen Zeiten des Commonwealth” interpretieren, und das “Nein” zu Syrien demnach als eine Realisierung der neuen (post-empire) britischen Rolle in der Welt?
Danke Stefan, auch für den Kommentar.
Neben der außen- und sicherheitspolitischen Identität einer “liberal force for good” spielt sicher auch die Frage des post-Empire decline eine Rolle. Die Thematisierung des stetigen Abstiegs der früheren Weltmacht nach dem “retreat East of Suez” ist quasi eine Konstante im britischen außenpolitischen Diskurs des 20. Jahrhunderts. Ebenso kontinuierlich – und unabhängig von jedweder Parteiencouleur – geht damit das zumindest implizite Versprechen einher, diesen Trend umzukehren und dem Land wieder zu der ihm gebührenden Größe (“grandeur”) zu verhelfen. Als probates Mittel wird daür auch der Einsatz des Militärs in “wars of choice” gesehen. Ich sehe noch nicht, dass es zu einer gravierenden Verschiebung im britischen Rollenbild kommt, auch wenn Schatzkanzler Osborne Radio 4 wohl gesagt hat, dass es nun nach der Syrienabstimmung zu einem “national soul searching about our role in the world” kommen wird. Das ist, denke ich, als Warnung zu verstehen in Richtung Bevölkerung und Opposition, à la “wenn wir bei einer Intervention wie in Syrien nicht an Bord sind, dann war es das mit unserer exponierten Position im internationalen System.”
@mfey
Na, ganz so subkutan wie du meinst, ist es dann offenbar auch nicht.
Crispin Blunt wird im Guardian vom Samstag mit den Worten zitiert:
“He hoped the vote would relieve Britain of its ‘imperial pretension’ and stop trying to punch above its weight on the world stage.”
Er wählt interessanterweise das gleiche Bild vom Boxer, der in einer zu hohen Gewichtsklasse antritt.
Trotzdem – ein sehr empfehlenswerter Beitrag von dir.