von Una Becker-Jakob
Am 21. August ereignete sich in der Nähe von Damaskus der schwerste Angriff mit chemischen Waffen seit 25 Jahren – dies bestätigte ein internationales Expertenteam nun offiziell in einem Bericht an den UN-Generalsekretär. Kurz zuvor hatte Syrien seinen Beitritt zum Chemiewaffen-Übereinkommen (CWÜ) erklärt, das Herstellung, Besitz und Einsatz chemischer Kampfstoffe verbietet und ihre Abrüstung vorschreibt. Die Vorhersage eines syrischen Beitritts hätte noch vor kurzem bei den meisten Experten ein müdes Abwinken oder Kopfschütteln hervorgerufen, galt Syrien doch als einer der hard cases für das Abkommen, dessen 190. Mitglied es am 14. Oktober nun aber wird. Die internationale Gemeinschaft steht jetzt vor der Aufgabe, eines der weltweit größten Chemiewaffenarsenale abzurüsten und gleichzeitig den erfolgten Einsatz chemischer Waffen zu ahnden – und das alles vor dem Hintergrund eines brutalen Bürgerkriegs, in dem kein Ende der Gewalt in Sicht ist.
Die syrischen Chemiewaffen
Vermutungen und Berichte über ein syrisches Chemiewaffenarsenal existieren schon seit den 1980er Jahren. Wohl gedacht als Abschreckungsdispositiv gegen Israel, galt das syrische Arsenal schon vor dem Bürgerkrieg als groß und einsatzfähig. Aktuelle Schätzungen schwanken zwischen mehreren hundert und über 1000 Tonnen chemischer Kampfstoffe und Vorprodukte, die auf zahlreiche Lagerstätten verteilt sind. Dazu verfügt Assad über geeignete Trägermittel, um die Kampfstoffe ausbringen zu können.
Seit Ende des letzten Jahres mehrten sich Berichte über mögliche Einsätze chemischer Kampfstoffe im syrischen Bürgerkrieg, die jedoch bisher nicht unabhängig überprüft und bestätigt werden konnten. Am 21. August schockierten Bilder und Berichte die Welt, nach denen es in der Nähe von Damaskus Angriffe gegeben hatte, denen innerhalb kürzester Zeit mehrere hundert, vielleicht sogar deutlich über 1000 Menschen zum Opfer fielen. Hinweise verdichteten sich schnell, dass es sich um einen Angriff mit einem Nervenkampfstoff handelte. Unabhängige Experten, die den Angriff unter UN-Ägide untersuchten, haben jetzt den Einsatz von Sarin „on a relatively large scale“ bestätigt.
Chemiewaffen und das Völkerrecht
Der Einsatz von chemischen Kampfstoffen im Krieg ist seit 1925 durch das Genfer Protokoll verboten, dem Syrien beigetreten ist. Das Einsatzverbot wird auch als Teil des Völkergewohnheitsrechts betrachtet. Die Stärke der Norm gegen Chemiewaffeneinsätze wurde durch die internationalen Reaktionen auf die Angriffe des 21. August unterstrichen: Offizielle Kommentare aller Akteure außerhalb Syriens bekräftigten, dass ein solcher Einsatz rechtlich und moralisch inakzeptabel sei. Differenzen zeigten sich bei der Frage nach der möglichen Urheberschaft und nach gebotenen Reaktionen, nicht aber bei der Verurteilung des Tatbestands an sich.
Dass ein einzelner Angriff mit einer bestimmten Waffenkategorie einen internationalen Aufschrei auslöst, während andere Kriegsverbrechen mit noch viel mehr Opfern während des gesamten Krieges keine vergleichbare Reaktion hervorbrachten, mag manchem Beobachter zynisch anmuten. Allerdings können chemische Waffen – wie der Angriff am 21. August gezeigt hat – mit vergleichsweise wenig Munition enorme Opferzahlen hervorrufen und dabei unterschiedslos und weitgehend unkontrollierbar alle Menschen in der betroffenen Gegend grausam schädigen oder töten. Zudem existiert für diese Waffensorte eine klare, uneingeschränkte Verbotsnorm mit universaler Geltung, die es zu bewahren gilt. Dies soll nicht heißen, dass andere Kriegsverbrechen nicht ebenfalls zu ahnden wären! Eine gesonderte Reaktion auf den Spezialfall „Chemiewaffeneinsatz“ erscheint vor diesem Hintergrund aber vertretbar.
Die amerikanisch-russische Vereinbarung über die chemische Abrüstung Syriens
Am vergangenen Wochenende vereinbarten US-Außenminister Kerry und sein russischer Amtskollege Lawrow die Rahmenbedingungen für die Abrüstung der syrischen Chemiewaffen. Aus Sicht der internationalen Chemiewaffenkontrolle ist diese Vereinbarung ein überraschender, positiver Schritt – ungeachtet der enormen politischen und technischen Herausforderungen, die die praktische Umsetzung mit sich bringen wird. Die Vereinbarung sieht vor, dass Syrien alle relevanten Stoffe und Anlagen deklariert, dass internationale Inspektoren diese Deklarationen uneingeschränkt überprüfen dürfen und dass bis Juli 2014 die syrischen Chemiewaffen vernichtet werden. Nach dem CWÜ-Beitritt Syriens stehen im Nahen Osten nur noch zwei Staaten außerhalb des Vertrags: Israel sieht sich bereits jetzt einem gewissen Rechtfertigungsdruck gegenüber, was seine eigene Nichtmitgliedschaft angeht, und für Ägypten könnte sich Ähnliches ergeben. Nun erscheint ein CWÜ-Beitritt dieser beiden Staaten, gerade angesichts ihres unklaren Chemiewaffenstatus, nicht wirklich wahrscheinlich, aber immerhin auch nicht mehr völlig ausgeschlossen. Der syrische Beitritt könnte also auch in der schwierigen Frage einer Abrüstung aller Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten Impulse geben.
Dies setzt voraus, dass die Chemiewaffenabrüstung tatsächlich schnell auf den Weg gebracht werden kann und dass Assad und seine Truppen voll kooperieren. Eine vollständige, sichere Vernichtung aller chemischen Kampfstoffe und Vorprodukte würde Jahre dauern und wäre in einem laufenden Bürgerkrieg kaum zu bewerkstelligen. Die Deadline für Juli 2014 erscheint daher – vorsichtig ausgedrückt – ambitioniert. Internationale Inspektoren könnten aber die syrischen Bestände immerhin gegen heimliche Entnahmen sichern und Produktionsanlagen funktionsunfähig machen, wofür aber angesichts der Sicherheitslage die Unterstützung durch eine internationale UN-Schutztruppe nötig sein dürfte. Auch könnten die Inspektoren die Waffen zumindest teilweise neutralisieren und für den Einsatz unbrauchbar machen. Damit wäre die unmittelbare Gefahr des Einsatzes und der Proliferation der syrischen Chemiewaffen gebannt. Die Vernichtung eines so großen Arsenals in einer Bürgerkriegssituation ist präzedenzlos. Viele wichtige Einzelheiten des Prozesses sind noch nicht geklärt und stellen potenzielle Stolpersteine für das ganze Unterfangen dar. Die Herausforderung ist also enorm, die Umsetzung aber nicht unmöglich, sofern bei allen Beteiligten wirklich der politische Willen existiert.
Könnte Assad das CWÜ unterlaufen und trotz internationaler Kontrollen Chemiewaffenbestände zurückbehalten? Theoretisch ja. Praktisch würde ihm das aber wenig nützen. Ein Abschreckungspotenzial, das es gar nicht mehr geben darf, taugt nicht wirklich zur Abschreckung. Ein weiterer Chemiewaffeneinsatz würde wohl eine entschlossenere internationale Reaktion hervorrufen - diesmal wirklich. Und ein Verstoß gegen andere CWÜ-Bestimmungen dürfte, sofern bewiesen, ebenfalls eine internationale Ahndung nach sich ziehen, der sich auch Iran und Russland kaum verweigern könnten.
Warum gibt Assad seine Chemiewaffen auf?
So erfreulich der syrische CWÜ-Beitritt und die Einigung auf eine schnelle Abrüstung aus abrüstungspolitischer Sicht also sind, so überraschend kamen sie auch. Was könnte Assad bewogen haben, dieser Abrüstung zuzustimmen? Und was bedeutet das für den Bürgerkrieg?
Innerhalb kurzer Zeit haben der Giftgasangriff, die UN-Untersuchungen, die militärischen Drohungen der USA und anderer sowie die Einigung auf die chemische Abrüstung einen Komplex geschaffen, der den nach wie vor wütenden Bürgerkrieg scheinbar in den Hintergrund treten lässt. Vermutungen über mögliche kausale Zusammenhänge anzustellen, ist zum jetzigen Zeitpunkt - und vielleicht überhaupt - nur ansatzweise möglich. Trotzdem hier ein erster Versuch…
Der Bericht des Expertenteams, das auf Geheiß des UN-Generalsekretärs die Vorfälle des 21. August untersucht hat, enthält aussagekräftige und unabhängig gewonnene Informationen zum eingesetzten Kampfstoff (Sarin) und den Ausbringungsmitteln (Boden-Boden-Raketen). Wenn er auch mandatsgemäß keine Schuldzuweisung vornimmt, spricht vieles für eine Täterschaft der Assad-Truppen: Die Art und Qualität der Raketen, die Menge und Qualität des Sarin sowie der vermutete Abschuss aus verschiedenen, von Regierungstruppen kontrollierten Gebieten. Auch wenn unklar bleibt, ob Assad selbst den Einsatz in diesem Ausmaß befohlen hat oder ob es in der Kommandokette Eigenmächtigkeiten oder Fehler gegeben haben könnte – Assad sah sich ohnehin dem Vorwurf des Chemiewaffeneinsatzes unter seiner Herrschaft ausgesetzt, und es stand zu erwarten, dass die UN-Untersuchung den Verdacht gegen ihn erhärten würde. Die Ablenkung von der Schuldfrage könnte daher ein Anreiz für die Einwilligung in die Abrüstung gewesen sein: Es ist immerhin möglich, dass die internationale Gemeinschaft die Abrüstung des Chemiewaffenarsenals zumindest mittelfristig über das Ziel stellt, die Verantwortlichen des Giftgasangriffs zur Rechenschaft zu ziehen. Die vor der Veröffentlichung des UN-Berichts aufgebaute militärische Drohkulisse und die Chance auf einen Zeitgewinn vor einem möglichen Angriff der USA mögen ebenfalls zum Einlenken Assads in der Chemiewaffenfrage beigetragen haben. Ob die Drohkulisse auch ohne die anstehende Veröffentlichung der UN-Untersuchungsergebnisse ähnlich gewirkt hätte, ist eine spannende, aber offene Frage.
Denkbar ist auch, dass Russland – entgegen seiner öffentlichen Unterstützung für das Assad-Regime – angesichts der Chemiewaffenvorfälle inoffiziell Druck ausgeübt hat. Weder hätte Russland als CWÜ-Mitglied einen so gut wie erwiesenen Chemiewaffeneinsatz durch Assad-Truppen öffentlich tolerieren, noch einen möglichen Chemiewaffenbesitz durch Rebellengruppen akzeptieren können. (Russland hatte der UNO bereits einen nicht veröffentlichten Bericht über eigene Untersuchungen übermittelt, nach denen Rebellen am 21. August chemische Kampfstoffe eingesetzt haben sollen. Der syrische CWÜ-Beitritt und Chemiewaffenverzicht bindet nun formal auch die Rebellengruppen.) Die Vermeidung eines US-Angriffs sowie die durch die Abrüstungsentscheidung gesicherte fortgesetzte russische Unterstützung könnten für Assad wichtiger gewesen sein als das Festhalten an Waffen, für die es nach dem 21. August ohnehin keine wirkliche Einsatzmöglichkeit mehr gab – oder deren Kontrolle er sich nicht mehr restlos sicher sein konnte.
Schließlich stärkt die Abrüstungsbereitschaft Assads politische Position im Konflikt: Da seine Truppen nach wie vor das chemische Arsenal kontrollieren, wird er mit dem Fokus auf der chemischen Abrüstung zum zentralen Interaktionspartner. So hat er mit dem CWÜ-Beitritt seine Rolle als Vertreter des syrischen Staates unterstrichen, die ihm unter anderem von der Arabischen Liga bereits abgesprochen worden war.
Auswirkungen der Abrüstungsvereinbarung auf den Bürgerkrieg
Dies dürfte auch einer der wichtigsten Gründe sein, warum die Freie Syrische Armee der Vereinbarung über die Chemiewaffenabrüstung kritisch gegenübersteht. Aus ihrer Sicht lassen die USA & Co. die Opposition im Stich, wenn im Zuge dieser Vereinbarung die Chemiewaffenangriffe keine direkten schärferen Konsequenzen mehr nach sich ziehen. Dass die lange angekündigten US-Waffenlieferungen nun aufgenommen wurden, könnte auch ein Versuch der Besänftigung dieser Oppositionsgruppen sein. Ob dies gerade mit Blick auf den Bürgerkrieg insgesamt sinnvoll ist, soll hier zwar nicht näher diskutiert, aber immerhin angezweifelt werden.
Angesichts der negativen Reaktionen der aus westlicher Sicht wichtigsten Gesprächspartner unter den Rebellen müssen nun große politische Anstrengungen unternommen werden, um möglichst viele Gruppen doch zur Unterstützung der chemischen Abrüstung zu bewegen. Dies ist nötig, um den internationalen Inspektoren für ihre Arbeit ein so sicheres Umfeld wie möglich zu geben und um bei dem nach wie vor offenen Ausgang des Bürgerkriegs die größtmögliche Nachhaltigkeit dieser Abrüstung zu gewährleisten. Politische Anstrengungen sind aber auch nötig, um die ohnehin geringen Chancen auf eine politische Bearbeitung des Bürgerkriegs angesichts der veränderten Dynamik nicht weiter zu schmälern. Die Einberufung einer neuen Konferenz, die die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch bringen soll, ist hierfür ein wichtiger Schritt.
Das Risiko, dass die syrische Zivilbevölkerung durch eine eskalierende chemische Kriegsführung zusätzlichem enormem Leiden ausgesetzt wird, kann durch die jüngsten Abrüstungspläne gebannt werden. Nun müssen alle Beteiligten ihre Bemühungen ebenso darauf richten, die Menschen auch vor den Leiden des „konventionellen“ Bürgerkriegs, die zum Teil nicht minder schwer sind, so schnell wie möglich und so nachhaltig wie möglich zu schützen. Die positiven Effekte der Chemiewaffeneinigung müssen dafür ausgenutzt, die möglichen negativen durch intensive politische Bemühungen und die Zusammenarbeit aller Beteiligten schon im Entstehen abgewendet werden.
Schließlich müssen die Schuldigen für die begangenen Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden. In einem ersten Schritt könnte der UN-Sicherheitsrat eine Untersuchung des nun unabhängig bestätigten Chemiewaffeneinsatzes sowie der möglichen weiteren früheren Einsätze durch den Internationalen Strafgerichtshof veranlassen. Strafrechtliche Untersuchungen anderer Kriegsverbrechen müssen jedoch folgen - die Ahndung der Chemiewaffeneinsätze ist zwar ein wichtiger Schritt, darf angesichts des Ausmaßes des Bürgerkriegs aber nicht der einzige bleiben.