von Behnam T. Said
Vorbemerkung:
Dieser Beitrag wurde vor der Attacke der Brüder Chérif und Saïd Kouachi auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris am 07. Januar 2015 und den Taten von Amedy Coulibaly (Mord an einer Polizistin, Geiselnahme in einem Supermarkt und Mord an vier Geiseln) verfasst.
Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es so aus, als habe zumindest Saïd Kouachi Kontakte zur al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAH; saudisch-jemenitische al-Qaida-Regionalorganisation) unterhalten und sich 2011 im Jemen aufgehalten. Zudem veröffentlichte der TV-Sender BFM ein Gespräch mit Chérif Kouachi, in dem dieser sich zu AQAH bekannte. Zu den vermuteten Verbindungen der Kouachi-Brüder zur AQAH passt auch, dass der im Text genannte Harith al-Nazari am 09. Januar 2015 eine Botschaft veröffentlichte, in der dieser die Täter, wenn auch nicht namentlich die Brüder, und den Anschlag lobte.
Amedy Coulibaly wiederum bekannte sich in einem Video zum IS und dessen Anführer Abu Bakr al-Baghdadi. Noch ist es zu früh, endgültige Schlüsse zu ziehen. Doch scheint es so, als könnte die Anschlagsserie mörderischer Ausdruck des sich seit Monaten zuspitzenden Konfliktes zwischen AQAH und IS und dem damit zusammenhängenden Wettlauf um Aufmerksamkeit sein. Die Bekenntnisse der Täter zu den beiden Organisationen bedeuten für diese eine Aufwertung in den Augen ihrer Anhänger, da die Geschehnisse demonstrieren, dass sie auch in der Lage sind, selbst in Europa zuzuschlagen – auch wenn noch unklar ist, ob die Täter sich lediglich auf IS und AQAH beriefen und selbständig handelten oder ob es – wie Chérif Kouachi für die Kooperation mit AQAH behauptete - Absprachen oder sogar logistische Unterstützung zwischen Tätern und den genannten Terror-Gruppen gab.
Seit November 2014 tritt eine Konfliktlinie im innerjihadistischen Streit immer deutlicher hervor: Die zwischen AQAH und IS.
Ein Beispiel hierfür ist die neueste Ausgabe des IS-Onlinemagazins „Dabiq“. Hierin enthalten ist ein Artikel, in dem sowohl al-Zawahiri als auch der Scharia-Verantwortliche der AQAH Harith Bin Ghazi al-Nazari attackiert werden. Wörtlich heißt es in dem Text beispielsweise: „Al-Nazari war also nicht wie die Soldaten des Jemen. Vielmehr schwafelte er in seiner leeren Erklärung und interpretierte die Rede des Kalifen in der schlimmstmöglichen Weise.“
Was ist der Hintergrund dieses offenen Angriffes auf einen wichtigen Repräsentanten AQAHs? Um diese Frage beantworten zu können, bietet es sich an, auf den November 2014 zurückblicken:
Am 10. November legten Jihadisten in Algerien, Ägypten, Libyen, Saudi-Arabien und Jemen den Treueeid auf al-Baghdadi ab. Drei Tage später meldete sich dieser mit einer Ansprache zu Wort und gab die Annahme des Treueeids bekannt:
„Frohe Botschaft, o Muslime wir geben euch gute Neuigkeiten indem wir die Expansion des Islamischen Staates in neue Länder, nämlich im Lande von al-Haramayn (Saudi-Arabien) und Jemen, Ägypten, Libyen und Algerien verkünden.“
Bezogen auf Saudi-Arabien insbesondere aber den Jemen war dies ein Affront gegenüber AQAH. Indirekt warf al-Baghdadi AQAH zudem vor, für das Erstarken der schiitischen Huthi-Rebellen verantwortlich zu sein, die im September die Hauptstadt Sanaa einnehmen konnten. Der Tenor der Botschaft lautete: Mit uns wäre dies nicht passiert.
AQAH gilt nicht nur als stärkster sondern auch als verlässlichster Zweig der al-Qaida, was sich unter anderem daran zeigt, dass der AQAH-Führer Nasir al-Wuhaishi von al-Zawahiri wahrscheinlich im Sommer 2013 zum Generalbevollmächtigten al-Qaidas ernannt wurde.
In dem Konflikt zwischen IS und al-Qaida hatte AQAH dennoch wenn, dann nur leise bzw. indirekte Kritik am Vorgehen des IS geübt, sich aber ansonsten weitestgehend herausgehalten – vermutlich auch ein Resultat einer Uneinigkeit innerhalb AQAHs wie man sich zu IS positionieren sollte, da es durchaus Stimmen innerhalb AQAHs gibt, zumeist aus der der mittleren Ebene (z.B. Jalal Bal´idi), die zum IS tendieren. Die zunächst feststellbare zögerliche Haltung AQAHs im Konflikt AQ vs. IS änderte sich jedoch im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 2014:
Zunächst veröffentlichten al-Qaida im islamischen Maghrib (AQM) und AQAH am 16. September 2014 erstmals ein gemeinsames Kommuniqué zur Lage in Syrien und Irak. Ausgangspunkt für die Erklärung war die damals neu geformte Allianz der USA gegen den IS, angesichts derer eine Aussöhnung der verschiedenen Jihad-Gruppen in Syrien und Irak gefordert wurde. Das Kommuniqué vermied jedoch eine eindeutige Positionierung zu Gunsten IS oder AQ/Jabhat al-Nusra.
Am 30. September wandte sich das hochrangige AQAH-Mitglied Nasir Bin Ali al-Ansi an die jihadistische Gemeinde und rief - im Ton ähnlich wie das vorausgegangene Kommuniqué - zur Einheit im Angesicht der anti-IS-Koalition, die sich gegen alle „Mujahidin“ richte. Zudem mahnte al-Ansai vor dem gemeinsamen Feind Iran, der sowohl in Syrien und im Irak als auch im Jemen Krieg gegen die „Mujahidin“ führe. Dieser Aufruf war wiederum vor dem Hintergrund der September-Offensive der Huthi-Rebellen im Jemen zu sehen, da AQAH Iran vorwirft, die schiitischen Rebellen zu steuern.
Im November erfolgten dann, wie oben geschrieben, sowohl der Treueschwur von anonym gebliebenen Kämpfern aus dem Jemen und aus Saudi-Arabien und die Annahme des Schwures durch al-Baghdadi. Hierauf reagierte nun am 21. November 2014 AQAH mit einer Videoansprache von Harith al-Nazari. Dieser bekannte sich hierin eindeutig zur Kern-al-Qaida und erneuerte den Treueeid an al-Zawahiri. Zudem betonte al-Nazari, dass die Art und Weise, wie al-Baghdadi das Kalifat ausgerufen habe (ohne Konsultation und Übereinstimmung der „Gelehrten“) illegitim sei.
Fazit
Im Kampf um die Dominanz innerhalb des Jihadismus zwischen AQ und IS ist AQAH das Zünglein an der Waage. Diese Regionalorganisation hat zum einen bereits vor längerer Zeit ganze Territorien im Jemen unter Kontrolle gebracht, zum anderen hat sie mehrmals bewiesen, dass sie willens und potenziell auch in der Lage dazu ist, Ziele im Westen anzugreifen. Mit der Arabischen Halbinsel ist AQAH zudem in einer Region aktiv, die für die Jihadisten aus religiösen und strategischen Gründen eine besondere Rolle spielt.
Es scheint derzeit, dass sich innerhalb AQAHs die pro-AQ Fraktion gegenüber den IS-Befürwortern durchgesetzt hat. Über das klare Bekenntnis von al-Nazari zu AQ und zu al-Zawahiri dürfte dieser mehr als zufrieden sein. Zawahiri bleibt durch die Positionierung AQAHs die wichtigste Regionalorganisation erhalten, was ein Erfolg für AQ in der Auseinandersetzung mit IS darstellt.
Mit der Deklaration einer „Expansion“ des IS in den Jemen und nach Saudi-Arabien hat der IS die Eskalationsschraube im Konflikt mit AQ jedoch weiter angezogen, da die irakisch-syrische Organisation damit auf bislang unumstrittenes AQ-Territorium vordringt, und eine Konfrontation mit AQAH eingeleitet. Ob der IS tatsächlich in der Lage sein wird, die starke AQAH zumindest teilweise aus deren Stammgebiet zu verdrängen scheint derzeit eher nicht wahrscheinlich. Doch hat der IS erste Versuche hierfür unternommen und damit starke Signale gesendet. Derzeitiger Höhepunkt der IS-Kampagne auf der Arabischen Halbinsel ist wahrscheinlich der Anschlag auf saudische Grenztruppen am 05. Januar 2015 (Grenzgebiet Irak). Zwar steht ein offizielles Bekenntnis des IS zu dem Anschlag noch aus, doch deutet vieles darauf hin, dass Anhänger des IS die Drahtzieher waren.
Doch im Jemen, wo das Hauptoperationsgebiet der AQAH liegt, ist der IS noch nicht massiv in Erscheinung getreten, wenn es auch vereinzelte Hinweise auf dortige Unterstützer gibt.
Ein Bündnis von IS mit AQAH scheint aufgrund der feindlichen Stimmung zumindest im Moment und unter derzeitigen Bedingungen ausgeschlossen. Es käme letztlich also nur eine „feindliche Übernahme“ des jemenitisch-saudischen AQ-Zweiges durch IS in Betracht. Dafür arbeitet al-Baghdadi wahrscheinlich auf eine Spaltung innerhalb der AQAH hin und versucht, einzelne Personen und Netzwerke auf seine Seite zu ziehen – auch durch militante Aktionen seiner Anhänger in der Region Saudi-Arabien/Jemen. Doch um sich als attraktive Alternative zu AQAH zu präsentieren, muss IS weitere Erfolge im Irak und in Syrien vorweisen. Ob dies, nachdem der IS ab der zweiten Jahreshälfte 2014 teilweise in Bedrängnis geraten ist, gelingen wird, scheint derzeit jedoch noch ungewiss. Auf der anderen Seite wird AQAH sich gegenüber den eigenen Anhängern unter Beweis stellen müssen, beispielsweise durch eine massivere Konfrontation der Huthi-Rebellen sowie spektakuläre Anschläge im Jemen und möglicherweise auch andernorts.
“…und den Taten von Amedy Coulibaly (Mord an einer Polizistin, Geiselnahme in einem Supermarkt und Mord an vier Geiseln)…”
es war nicht in irgendeinem Supermarkt, sondern in einem jüdischen und das war sicher kein Zufall. An dieser Stelle, an der es eigentlich um eine Analyse des Djihadismus gehen sollte, von dessen Antisemitismus zu schweigen halte ich für fatal, da er doch eine zentrale Komponente der Ideologie ist.
Außerdem hätte ich mir vom Text erhofft, einen Einblick in die Auswirkungen des Konfliktes zwischen den Organisationen für dem Djihad zugeneigte Muslime in Europa zu geben. Findet eine tatsächliche Auseinandersetzung über inhaltliche oder konzeptionelle Differenzen der Organisationen statt, bzw. welche Bedeutung hat sie?
@Majo: Sie haben völlig recht mit dem Hinweis, dass es ein jüdischer Supermarkt war. Allerdings “schweigt” der Artikel keineswegs über den Antisemitismus im Jihadismus, sondern dies war schlichtweg nicht Gegenstand der Betrachtung, aber ich kann mir das Thema gut in einem gesonderten Artikel vorstellen. Die Vorbemerkung zu dem hier in Rede stehenden Text habe ich am Tag vor der Veröffentlichung verfasst, um den Artikel zumindest ansatzweise vor den aktuellen Ereignissen zu kontextualisieren.
Die Situation in Europa war jedoch nicht das eigentliche Thema des Artikels, sondern eben die sich aus der Konkurrenzsituation ergebende Dynamik zwischen zwei wichtigen jihadistischen Milizen in den letzten Monaten. Ich bitte um Verständnis dafür, dass nicht jedes Thema in einem Artikel behandelt werden kann und vielleicht ergibt es sich in Zukunft, dass eine Kollegin/ein Kollege oder auch ich über ein von Ihnen angesprochenes Thema schreiben. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass zu europäischen Jihadisten zahlreiche Studien vorliegen.
Lieber Herr Said! Vielen Dank für den sehr aufschlussreichen Beitrag!
Die Anschläge in Paris werfen – so die “Bekenntnisse” der Attentäter korrekt wiedergegeben sind – jedoch eine wesentliche Frage auf: Wie passt es zusammen, dass sich die Kouachi-Brüder zu AQAH bekennen und der AQAH-Anführer Nazari die Anschläge lobt, während Amedy Coulibaly sich zum IS bekannte und sich seine Lebensgefährtin mutmaßlich zum “Islamischen Staat” nach Syrien abgesetzt hat?
Kurz gefragt: Ist al-Qaida oder IS für die Anschläge verantwortlich?
Oder gibt es auf operativer Ebene eine Kooperation? Sollte der “gemeinsame” Anschlag der Welt und vor allem den eigenen Anhängern diese neue Zusammenarbeit belegen?
Lieber Herr Rosiny,
die von Ihnen aufgeworfene Frage, wie sich ein Reim auf die unterschiedlichen Bekenntnisse der Täter zu AQAH und IS zu machen ist, ist in der Tat eine, die sich geradezu aufdrängt und auch viele Experten umtreibt. Kluge Antworten hierauf gab zuletzt Clint Watts: http://warontherocks.com/2015/01/inspired-networked-directed-the-muddled-jihad-of-isis-al-qaeda-post-hebdo/
Aus dem Artikel wird u.a. ersichtlich, dass es noch viele offene Fragen gibt, insbesondere hinsichtlich der tatsächlichen Beteiligung von AQAH und IS an den Anschlägen, wofür derzeit vor allem die Aussage von Cherif Kouachi gegenüber BFM sprechen würde. Im Moment würde ich dennoch dazu tendieren, die Taten als von den beiden Organisationen “inspiriert” zu betrachten aber nicht direkt orchestriert. Für diese Sichtweise spricht auch, dass al-Nazari sich nicht wirklich zu den Attentaten “bekannt” hat, in dem Sinne, dass er sie AQAH zugerechnet hätte. Vielmehr heißt er sie lediglich gut. Auch von IS-Seite kam bisher zwar Lob, aber mehr (z.B. Bekenntnis oder Annhame der bai´ya durch al-Baghdadi) ist derzeit nicht zu verzeichnen.
Zur Ebene der operativen Kooperation: Möglicherweise gibt es auf der operativen Ebene in Europa nicht immer die großen Gräben zwischen Anhängern der einen wie der anderen Organisation, auf die die Auseinandersetzungen auf Führungsebene schließen ließen. Es scheinen in diesem Fall persönliche Kennverhältnisse eine wichtigere Rolle als organisatorische Präferenzen gespielt zu haben (Ein weiterer guter Artikel zu dieser Diskussion findet sich hier:
http://www.wsj.com/articles/rival-groups-terror-agendas-melded-in-paris-attacks-1420924590 ).
Dass die Anschläge eine “neue Zusammenarbeit” belegen sollen glaube ich nicht. Da ist der Konflikt zwischen IS und AQ derzeit doch zu tiefgreifend. Auch aus den Aussagen der Attentäter ist nicht zu erkennen, dass sie Kritik an der Spaltung der Jihadisten formuliert hätten. Der Streit zwischen IS und AQ wurde meines Wissens nicht von ihnen thematisiert. Hätten sie zu einer Einigung IS/AQ beitragen wollen, hätten sie dies ja noch ansprechen können. Gelegenheit hätte es gegeben.
Wie gesagt: Es ist noch alles sehr früh und man wird weitere Entwicklungen abwarten müssen, bis man mehr über diese sehr interessante Fragestellung aussagen wird können. Aber ich finde es gut, wenn in diesem Forum Gedanken hierzu formuliert werden.
Ein weiterer Blogpost zum Thema: http://www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2015/jan/12/paris-attacks-waking-al-qaeda/?insrc=wbll
AKTUALISIERUNG: Gerade habe ich mir das heute erschienene Bekennervideo der AQAH angesehen. Ali al-Ansi spricht hierin ein Bekenntnis im Namen der AQAH zu der Charlie Hebdo Attacke aus. Er sagt, dass die Führung der AQAH den Anschlag geplant, finanziert und einen “amir” (Befehlshaber; vmtl. Said Kouachi) hierfür ernannt habe. Zudem fiel die Planung in die Zeit von Anwar al-Aulaqi, der als Verantwortlicher benannt wird. Den Westen fordert al-Ansi auf, “unsere” Länder zu verlassen und aufzuhören, “unsere Ressourcen zu plündern”