Von Irene Weipert-Fenner
Die große Aufmerksamkeit für den Islamischen Staat (IS) hängt nicht nur mit dessen militärischen Erfolgen zusammen, sondern auch mit seinem Anspruch, einen neuen Staat aufzubauen. Das Phänomen der hohen Anzahl ausländischer Kämpfer gerade aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens scheint die Anschlussfähigkeit dieser Idee zu unterstreichen. Inwieweit der Anspruch auf Staatsaufbau tatsächlich eingelöst werden kann, hinterfrage ich in diesem Beitrag. Danach beleuchte ich die Ausgangslage ausländischer Kämpfer aus der MENA-Region und vertrete die These, dass die Attraktivität des IS für viele junge Männer vor allem auf der Krise der Staatlichkeit in ihren Heimatländern basiert.
IS - Auf dem Weg zum Staat?
Das aktuelle Territorium des IS wird oft mit der Größe von Jordanien oder Belgien verglichen. Was „Kontrolle“ dabei genau heißt – über ein zusammenhängendes Gebiet oder nur zentrale Punkte und Verkehrswege - wurde bereits hinterfragt. Unstrittig ist zwar die hohe Bevölkerungszahl in den vom IS kontrollierten Gebieten von etwa acht Millionen. Über wie viele Kämpfer der IS jedoch verfügen müsste, um seine Herrschaft zu sichern, und über wie viele er tatsächlich verfügt, wird ebenfalls diskutiert. Dass der IS momentan auf lokale Unterstützung zählen kann, muss nicht für eine dauerhafte Staatsbildung sprechen. Allianzen in einem Bürgerkrieg können schnell zu Bruch gehen. Gerade die Heterogenität der aktuellen Bündnispartner des IS lässt daran zweifeln, ob dessen Ordnungsvorstellungen von allen geteilt und Institutionen wie Scharia-Gerichte akzeptiert werden.
Was hat der IS jenseits der Errichtung eines Gewaltmonopols bisher erreicht? Aus Mosul kommen Nachrichten über die schlechte Versorgungslage: verunreinigtes Wasser, Stromausfälle, Benzin- und Gasknappheit. Ähnliche Berichte erhält man auch aus Raqqa, insbesondere nach den Bombardements der USA auf Elektrizitätswerke und Kläranlagen (raqqa-sl.com). Doch könnte dies auch den IS stärken, wenn die Menschen die USA für die Verschlechterung der Lage verantwortlich machen, zumal die amerikanische Intervention in offensichtlicher Abstimmung mit dem im Vergleich zum IS nicht minder brutalen Assad-Regime erfolgt.
Über die Grundversorgung hinaus sind weitere Einnahmequellen und deren Verteilung entscheidend: Hat der IS tatsächlich ein Interesse am Aufbau einer funktionierenden Wirtschaft? Was bisher über den IS bekannt ist, lässt sich eher aus der Logik von Kriegsökonomien begreifen: Einnahmen aus Lösegeldern aus Entführungen und Plünderungen (u.a. von antiken Kulturgütern) sowie die Versklavung und der Verkauf insbesondere von Frauen. Schwerer zu beurteilen ist dagegen das Eintreiben von Geldern von der jeweiligen lokalen Bevölkerung: Sollte man hier von Steuern sprechen – oder von Schutzgeldern? Was ist mit den Einnahmen aus dem Ölexport – Schmuggel oder Handel? Darüber hinaus ist zu fragen, wie diese Einnahmen investiert und verteilt werden und ob die Führungsspitze der Islamisten ihre Bündnispartner ausreichend in die Verteilung der Pfründe einbezieht.
Der Rückzug des Staates und die Informalisierung der Existenzsicherung
Die offenen Punkte bezüglich des Staatsprojekts des IS werfen die Frage auf, ob die Muslime in der arabischen Welt tatsächlich darauf gewartet haben, auf diese Weise, wie vom IS proklamiert und in unseren Medien viel diskutiert, die im Kolonialismus gezogenen nationalstaatlichen Grenzen zu überwinden. Ein genauerer Blick auf den Großteil der Kämpfer, die aus ressourcenarmen Staaten und dort wiederum aus prekären sozialen Bedingungen stammen, lässt einen anderen Schluss zu: Deren Lebenswelt zeichnet sich vor allem durch die Ferne des Staates aus, der sich seit den 1970er Jahren immer weiter von Wohlfahrtsfunktionen zurückgezogen hat. Statt weiterhin Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor zu schaffen, entstand im wachsenden privaten Sektor nur eine begrenzte Anzahl an Jobs unter schlechteren Arbeitsbedingungen. Für viele Menschen blieb allein die formale Arbeitslosigkeit, die der Staat in vielen Ländern nicht versorgen konnte oder wollte. Im Gegenzug wurde weniger staatlich reguliert und ein wachsender informeller Sektor zugelassen. Dieser zeichnet sich durch prekäre Arbeitsbedingungen und vornehmlich negative Erfahrungen mit dem Staat aus. So erfahren beispielsweise informelle Straßenhändler wie der durch seine Selbstverbrennung zur Ikone gewordene Tunesier Muhammad Bouazizi Staatlichkeit vor allem als Repression und Korruption: vor der Polizei fliehen oder Schutzgelder zahlen. Ebenso wurde der staatliche Wohnungsbau zurückgefahren und stattdessen informelle Siedlungen, jedoch ohne Anschluss an öffentliche Infrastruktur, toleriert. Dort blieb auch die Versorgung mit Strom, Wasser oder Transport informell zu regeln. Dies begünstigte die Ausbreitung mafiöser Strukturen in Slums und Schmugglernetzwerken gerade in Grenzregionen. Dschihadistische Organisationen nutzen diese als Einnahmequellen sowie Transportlogistik für Kämpfer und Waffen (siehe Zenith 05/2014 „Business mit dem Dschihad“).
Diese Perspektivlosigkeit, die im Jahr 2011 Millionen Menschen in der Region mit dem Ruf nach Würde und sozialer Gerechtigkeit auf die Straße trieb, wurde bis heute nicht durch neue Aussichten auf z.B. Arbeitsplätze ersetzt. Damit wird zumindest ansatzweise verständlich, dass ausgerechnet Tunesien, das arabische Land mit dem bisher größten Erfolg in der Demokratisierung, die meisten dschihadistischen Kämpfer im syrischen Bürgerkrieg verzeichnet. Die Krise im Verhältnis zum eigenen Staat ist damit ein zentraler Faktor, der den Islamischen Staat und dessen Anspruch, ein Gegenmodel zu bestehender Ungerechtigkeit und Tyrannei zu sein, zumindest bisher attraktiv erscheinen lässt.
Demnach sind sich wohl Staat und Räuberbande in diesem Fall so ähnlich, dass sie in ihrer Funktion, aus Perspektive der Betroffenen, nicht mehr zu unterscheiden sind.
Damit steht man vor dem Dilemma, den schwachen Staaten der Region ihre Staatlichkeit abzusprechen, oder dem “IS” seine Anführungszeichen zu nehmen.
Menschenrechte als Maßstab heranzuziehen wird wahrscheinlich ebenfalls scheitern, weil die Verstöße sich zwar graduell unterscheiden mögen, sich aber doch bei allen Akteuren finden.
Bleibt traurigerweise nur die willkürliche völkerrechtliche Anerkennung zur Unterscheidung von Staat und Räuberbande. Wenn das stimmen sollte, wäre das traurig.