von Lisa Bogerts
Stellen wir uns vor, SozialwissenschaftlerInnen würden öfter ihre Komfortzone verlassen und sich in Feldexperimente begeben, anstatt vor Rechnern zu hocken und über ferne Wirklichkeiten zu rätseln und zu urteilen. Der G7-Gipfel im oberbayerischen Elmau bot Leuten, die sich mit (innerer) Sicherheit, Macht und Protest auseinandersetzen dazu eine hervorragende Möglichkeit. Die hier interviewte Politikwissenschaftlerin nahm an den Protesten teil. Da sie aufgrund eines eventuell drohenden Strafverfahrens um ihre eigene Sicherheit fürchtet – die ihres Rufs und ihrer zukünftigen Arbeitsverträge – möchte sie anonym bleiben.
Lisa Bogerts (LB): Du warst insgesamt fünf Tage im Geschehen: zuerst beim Alternativgipfel und der Großdemo in München, dann bei den Demonstrationen in Garmisch-Partenkirchen. Es wurde ja viel über die – oft als überzogen kritisierten – Sicherheitsvorkehrungen geschrieben. Hat die Polizeipräsenz deiner Meinung nach zum Gefühl der Sicherheit beigetragen?
Anonym: Eine hohe Waffenpräsenz wird ganz unterschiedlich wahrgenommen – von den einen als Garant für Sicherheit, von den anderen als Hinweis auf Unsicherheit. Es wurden in Garmisch über 20.000 PolizistInnen eingesetzt, das entspricht mehr als fünf pro Protestteilnehmende/n. Über die Abschreckung der Anwohnenden und die Einschränkungen für die Protestierenden wurde schon viel geschrieben1, das muss ich hier nicht alles wiederholen. Auf der Demo selbst trug die Omnipräsenz der zumeist schwarz gekleideten, schwer bewaffneten PolizistInnen, die den Protestzug mit bis zu drei Reihen starken Spalieren begleiteten, wohl eher zur Abschreckung bei, sich der Demo anzuschließen. Was diese Art von Machtdemonstration aber tatsächlich bedeutet, spürte ich erst, als ich festgenommen und danach von bis zu drei schwer bewaffneten BeamtInnen gleichzeitig bewacht wurde – ob bei der obligatorischen Fotosession, bei der Leibesvisitation (ganz klassisch am Sixpack), beim Toilettengang oder einfach beim stundenlangen Warten.
LB: Du hattest mit ca. 50 anderen an einer Aktion zivilen Ungehorsams teilgenommen. Wie würdest du deine soziologischen Erkenntnisse aus deinem „Experiment“ zusammenfassen?
Anonym: Mal den Wissenschaftssprech beiseite: In der Gefangenensammelstelle fühlte ich mich zeitweise wie bei der Police Academy. Die meisten BeamtInnen hatten keine Ahnung, wie sie die Formulare ausfüllen sollten oder sogar was nun eigentlich die Tatvorwürfe waren. Als wir nach der Freilassung die Kopien unserer Kurzberichte verglichen, stellten wir fest, dass auf allen etwas anderes stand – von der Ordnungswidrigkeit über Strafverfolgung bis hin zur Gefahrenabwehr – und das, obwohl wir uns alle gleich verhalten hatten. Einer anderen Demonstrantin droht z. B. nicht nur eine Anzeige wegen Nötigung, sondern auch wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung, obwohl auch sie freiwillig die Sitzblockade verlassen hatte. Das hat mir schon eine gewisse Angst vor der Willkür „des Systems“ gemacht, wie ich sie als gutgläubige Politikwissenschaftlerin ohne linksradikales Engagement nie hatte. Dass sich Menschen aus Angst vor möglichen Konsequenzen nicht an Protesten und gewaltlosem Widerstand beteiligen, wird ja häufig als eine gezielte Wirkung von Verhaftungen und ggf. Repressionen bezeichnet. Bei mir kommt nun auch noch die Befürchtung von Polizeifehlern und willkürlichen Strafen hinzu.
LB: Was war das für ein Gefühl für dich, jetzt mal als Wissenschaftlerin?
Anonym: Es war schon ein krasses Gefühl, wie eine bemitleidenswerte, „asoziale“ Schwerverbrecherin behandelt zu werden, nur, weil ich zusammen mit anderen Leuten für ein paar Minuten auf einer Straße gesessen hatte. Ziviler Ungehorsam ist eine etablierte Form der politischen Partizipation in Demokratien, die von Gandhi bis hin zur US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung genutzt wurde, um auf politische Probleme aufmerksam zu machen. Sie tut niemandem weh und stellt das staatliche Gewaltmonopol nicht infrage.2 Sie kann als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, so wie wenn jemand zu schnell fährt oder bei Rot über die Ampel geht. Allerdings kann, trotz der betonten Gewaltfreiheit einer Sitzblockade, der Gewaltbegriff anders ausgelegt werden – und schon hat man eine Strafanzeige wegen Nötigung oder gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr am Hals. Es wird also plötzlich zur Frage der finanziellen Situation oder der beruflichen Sicherheit, ob man sich einen solchen Widerstand leisten kann.
LB: Nach den Ausschreitungen bei früheren G8-Gipfeln oder bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt hatten viele Menschen Angst, so etwas könnte sich wiederholen. Ist diese Angst nicht verständlich?
Anonym: Auch bei den erwähnten Ausschreitungen ist bekannt, dass die Medienberichterstattung überzogen war. Du wohnst doch in Frankfurt, warst du während der Proteste nicht hier?
LB: Doch. Als es online schon hieß „Frankfurt brennt!“, war nur in zwei bis drei Straßen etwas los, im Rest der Stadt scherte sich niemand darum. Und trotzdem reden heute noch alle von Zuständen „wie im Kriegsgebiet“.
Anonym: In Garmisch nahmen viele der Protestierenden die Panikmache – wie die Warnung des bayerischen Justizministers vor 2.000 bis 3.000 Gewaltbereiten oder das Verbot des Protestcamps wegen angeblicher Hochwassergefahr – als Kriminalisierung wahr. Im Demozug selbst verbreitete sich immer, wenn sich die BeamtInnen die Helme aufsetzten oder sich die Tränengas-Kanister wie Schulranzen auf den Rücken schnallten, ein Bedrohungsgefühl. Was ganz vorne bei der kurzen Eskalation passierte, wo Tränengas und Schlagstöcke tatsächlich zum Einsatz kamen, kann ich nicht sagen, weil ich ein Stück dahinter ging. Aber in 99% des Demozugs war ganz sicher Peace & Happiness angesagt, von gutbürgerlich bis zu humoristisch… fast schon ein bisschen zu hippiesk, für meinen Geschmack.
LB: Also ging es doch nicht primär um die politischen Inhalte, sondern ums Feiern…?
Anonym: Eine einseitige Fokussierung auf diese sogenannten „pleasures of protest“3 ist falsch und man sollte Demonstrierende nicht als bloße HedonistInnen oder „fun lovin´ criminals“ darstellen, denen „die Sache“ völlig egal ist – Hauptsache es gibt was zu Feiern oder man kann jemandem aufs Maul hauen. Das raubt dem Protest seinen eigentlichen, kämpferischen Charakter. Ein ernsthaftes politisches Engagement ist durch Spaß an der Sache ja nicht ausgeschlossen, selbst wenn es nur gelegentlich ist. Außerdem kann auch schon die Demonstration von Gemeinschaft, Freude oder Humor gegenüber einer als falsch empfundenen Machtausübung als etwas Politisches angesehen werden. Zum Beispiel stand in Garmisch auf einem Plakat: „25000 Polizist_innen, 116 Richter_innen, 16 km Zaun... sicher, dass das reicht?“. Als im Januar 2014 mehrere Stadtteile Hamburgs zum Gefahrengebiet erklärt wurden, hängten Anwohnende in St. Pauli ein Banner mit der Aufschrift „Wir fordern Blauhelme!“ aus dem Fenster. Im Grunde geht es doch darum, dass die Zivilgesellschaft demonstriert, dass sie ihre demokratische Pflicht wahrnimmt, die Politik kritisch zu begleiten – und so vielleicht sogar auch Einfluss darauf nimmt, ob skandalöse Deals wie TTIP zustande kommen.
LB: Was die Polizei angeht, könnte man auch sagen, sie erfüllt ja nur ihre Arbeit, um das Gewaltmonopol des Staates und die innere Sicherheit zu garantieren...
Anonym: Man sollte weder die Demonstrierenden noch die Polizei einseitig darstellen, die polizeiliche Arbeit ist ja oft sehr sinnvoll. Das G7-Sicherheitskonzept des österreichischen BMI, das seine Polizei ja auch im Grenzgebiet einsetzte besagt: „Die Aufgaben der Polizistinnen und Polizisten beim G7-Gipfel [...] sind 1. der Schutz der Veranstaltung und ihrer Teilnehmer, 2. die Gewährleistung des Demonstrationsrechtes und 3. die Abwehr und Verhinderung von Anschlägen.“4 Das sagt genau, wie die Prioritätenverteilung eigentlich sein sollte. Allerdings schien es am Ende vielmehr so, als ob nicht die Teilnehmenden selbst, sondern alle anderen vor ihnen geschützt werden und das Demonstrationsrecht nicht gewährleistet, sondern eingeschränkt werden sollten. Die Abwehr von Gefahren von potentiell viel größerem Ausmaß, wie Terroranschläge, Bomben oder abstürzende Flugzeuge, ist dadurch völlig in den Hintergrund geraten.
LB: Du hattest ja vorhin die Demonstration einer Haltung durch verschiedene Protestformen, wie Plakate, erwähnt. Spielt denn der visuelle Aspekt für die Kommunikation von bzw. zwischen „Herrschaft“ und „Widerstand“ eine so große Rolle?
Anonym: Sicher. Die Medien haben sich ja überschlagen mit ihren Berichten zur „perfekten Inszenierung“ des Gipfels als Großereignis – vom „Familienfoto“ vor Alpenidylle bis hin zu Obamas Lederhosen-Gag im eigens dafür errichteten Biergarten. Symbolische Politik und visuelle Phänomene werden in der Politik- und Kommunikationswissenschaft untersucht und finden auch in den IB immer mehr Beachtung. Dabei geht es bei den G7 nicht nur um die Demonstration von Macht und vertrauenserweckender, „familiärer“ Zusammenarbeit, sondern auch von Sicherheit und Entschlossenheit. Gerade nach der Finanzkrise ab 2008 muss die Gruppe ihrem negativen Image als „ergebnisloser Party der Reichen“ mit einer demonstrativen Wendung hin zum Allgemeinwohl als „Wächterin demokratischer Werte und Garantin von Sicherheit und Frieden“ entgegenwirken.5 Die betonte Harmonie und Lässigkeit sowie auch die eventartige Inszenierung bei den Hubschrauber- und Flugzeuglandungen mit rotem Teppich bezeichnet Jennifer Gronau als „moderne Variante des adeligen Rituals des Hofhaltens“6, eine fotografische Strategie der Selbstlegitimation. Diese Harmonie steht im krassen Gegenteil zu den Demonstrierenden, die als Störenfriede dargestellt werden, die die Staatschefin durch Sicherheitsvorkehrungen im Zaum halten muss. Eine durchgeplante visuelle Demonstration der „legitimen“ Herrschaft, die „illegitimem“ Widerstand entgegensteht.
LB: Um zum Schluss noch einmal auf die Selbstreflexion zurück zu kommen: Auch einflussreiche WissenschaftlerInnen, wie Foucault, wurden bei Demonstrationen verhaftet – und danach als „Militante von der Straße“ bezeichnet. Findest du das gut oder widerspricht solch eine aktivistische Aktion nicht der Idee der wissenschaftlichen Wertneutralität?
Anonym: „Neutral“ ist ja eh fast niemand. Wissenschaftliche Arbeiten sind nicht nur ein Machtinstrument, sondern auch immer von subjektiven Weltsichten geprägt, ob man will oder nicht. Ich finde, wenn man sich schon nicht vormachen kann, man sei objektiv, dann kann – und sollte – man auch mitmachen, wenn auch nur gelegentlich. Unsere Aktion war sicher keine Ruhmestat, aber sie hat sich für mich persönlich gelohnt. Ein Professor hat uns Studierenden einmal in seiner Einführungsvorlesung verkündet, wir müssten zumindest einmal eine Nacht in einer Gefängniszelle verbracht haben, um echte Friedens- und KonfliktforscherInnen zu sein. Auch wenn ich das mit der Nacht ja nun nicht geschafft habe, werde ich ihm von meinem „Zwischenerfolg“ berichten.
- s. z. B. http://www.sueddeutsche.de/bayern/g-gipfel-in-elmau-es-darf-gezeltet-werden-1.2503756 oder http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/politik-gesellschaft/g7-nach-dem-gipfel-100.html (Zugriff: 17.6.2015) ↩
- zu gewaltlosem Widerstand und zivilem Ungehorsam s. u. a. Ebert, Theodor 2012: Erfolg durch zivilen Ungehorsam?, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 25: 1, S. 60-65; Daase, Christopher 2014: Was ist Widerstand? Zum Wandel von Opposition und Dissidenz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64: 27, S. 3-9, hier insbes. S. 6f. ↩
- zum Begriff „pleausures of protest” s. u. a. Jasper, James M. 1997: The Art of Moral Protest, London. ↩
- http://www.bmi.gv.at/cms/cs03documentsbmi/1631.pdf (Zugriff: 17.6.2015) ↩
- Gronau, Jennifer 2015: Die Selbstlegitimation internationaler Institutionen: G8 und G20 im Vergleich, Frankfurt a. M., S. 313-327. ↩
- ebd., S. 426 ↩
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