Forschungsethische Reflektionen zu Möglichkeiten, Risiken und Limitierungen
von Ulrike Krause
Seit einigen Jahren ist ein Anstieg von Feldforschungsprojekten in den Sozialwissenschaften in Deutschland zu verzeichnen. Doch wie finden solche Projekte statt? Werden Flüchtlinge zu reinen Gegenständen der Untersuchungen oder können sie in der Forschung involviert werden?
Feldforschung
Seit einigen Jahren nimmt die Feldforschung in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen sowie der Flüchtlingsforschung im Spezifischen zu, was Anne Menzel als "Feldforschungs-Boom" beschreibt. Die Feldforschung wird als Untersuchungsrahmen von spezifischen Forschungsgegenständen verstanden, bei dem soziale Phänomene in ihren 'natürlichen' Räumen mit Hilfe unterschiedlicher qualitativer und/oder quantitativer Forschungsmethoden (wie bspw. partizipative Beobachtung, Interviews, Gruppendiskussionen, Umfragen) analysiert werden. Diese Vorhaben können äußerst kosten- und zeitintensiv sein, doch erlangen WissenschaftlerInnen dadurch tiefgreifende Einblicke in die komplexen Zusammenhänge der untersuchten Phänomene und können daraus Erkenntnisse generieren. Obgleich mit dem Begriff der "Feld"-Forschung häufig ferne Länder verbunden werden, können bspw. auch eine Bibliothek, ein Supermarkt oder die Nachbarschaft ein zu untersuchendes "Feld" darstellen.
Mit Blick auf die Friedens- und Konfliktforschung schreibt Susanne Buckley-Zistel, dass die "Feldforschung dazu [dient], ein besseres Verständnis von Frieden und Konflikten zu gewinnen". Dies kann äquivalent auf die Zwangsmigrations- und Flüchtlingsforschung und das bessere Verständnis von Flucht, Flüchtlingskontexten und Asyl übertragen werden. Da die Flüchtlingsforschung multi- und interdisziplinär ist, hängt die Art und Weise, wie Feldforschung umgesetzt wird, stark von der disziplinären Verortung und Ausrichtung ab. So arbeiten z. B. medizinische und psychologische Studien oft mit Kontrollgruppen, während sozialwissenschaftliche Disziplinen häufig offen(er), explorativ(er) vorgehen.
Flüchtlinge als Forschungsgegenstand?
In der Flüchtlingsforschung wird seit einigen Jahren zunehmend die Diskussion darüber geführt, wie Daten über Flüchtlinge in Feldforschungsvorhaben erhoben werden. Dabei wird die Art und Weise kritisch hinterfragt, wie Flüchtlinge in Forschungsprozessen integriert bzw. vernachlässigt werden.
Forschung über Flüchtlinge?
Hinter der Diskussion steht der Vorwurf, dass die Forschung vornehmlich über Flüchtlinge stattfindet oder -fand. Dadurch werden Flüchtlinge als Gegenstände der Untersuchungen aufgenommen, auf den sich bestimmte Forschungsfragen beziehen, und worüber Informationen gesammelt werden sollen. Allenfalls werden Flüchtlinge jedoch durch verschiedene Interviewformen involviert, sodass sie lediglich als Informationsschatz (aus-)genutzt werden. Dies erscheint grundsätzlich gerechtfertigt und unvermeidlich zu sein, wenn WissenschaftlerInnen Flüchtlinge und ihre Lebensräume erforschen möchten.
Die Kritik der Forschung über Flüchtlinge konzentriert sich allerdings darauf, dass aus diesem Vorgehen eine hierarchische Distanz entsteht oder entstehen kann, die sich in Herrschaftsgefällen von Forschenden auf Erforschte offenbart. Demnach stehen die Forschenden scheinbar über den zu erforschenden Flüchtlingen, wodurch die "Nutzung" von Flüchtlingen als Datenquellen über einer Interaktion auf Augenhöhe steht.
Roland Girtler spricht von der "Feldforschung mit Neugier und Abenteuer", betont aber auch, dass Forschende InformantInnen nicht als Objekte degradieren dürfen und sich über die eigene Rolle bewusst sein müssen. Zudem heben Karen Jacobsen und Loren Landau hervor, dass Forschende, die Feldforschung in Flüchtlingslagern oder urbanen "Ghettos" in Afrika und Asien durchführen, oft methodische Herausforderungen mit der Suche nach "ground truth" rechtfertigen, obgleich dadurch Schäden verursacht werden können. Während sie schlussfolgern, dass die Felderfahrungen keine Entschuldigung für falsche Methoden sein dürfen, ist ein solches Vorgehen unreflektiert und aus einer Machtposition heraus gefährlich. Denn die Forschenden nehmen es hin, dass durch ihr Handeln Gefahren für die Teilnehmenden produziert werden können.
Die Forschung über Flüchtlinge bedingt somit eine objektivierende Sicht auf Flüchtlinge durch die Flüchtlinge als homogene Massen passiver und hilfsbedürftiger Opfer mit vermeintlicher Geschlechterneutralität dargestellt werden, was u. a. Liisa Malkki und Stephen Lubkemann kritisieren. David Turton spitzt dies mit den Worten zu:
[...] we risk seeing them as a homogeneous mass of needy and passive victims. The truth is that there is no such thing as the 'Refugee Experience' […], and there is therefore no such thing as 'the refugee voice': there are only the experiences, and the voices, of refugees. (Turton 2003: 7)
Doch wie lässt sich dies vermeiden?
Forschung mit Flüchtlingen?
Eine zunehmende Anzahl von WissenschaftlerInnen, wie beispielsweise Block et al., Hugman et al. sowie Temple und Moran, spricht sich anstelle einer Forschung über Flüchtlinge für eine Forschung mit Flüchtlingen aus. Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Diskussion unterscheide ich zwischen drei Arten des Einbeziehens von Flüchtlingen in Feldforschungsvorhaben: Interviewen, Involvieren und Konsultieren. Während sich das Interviewen auf die Datenerhebung bezieht, findet beim Involvieren eine Zusammenarbeit bspw. durch gemeinsame Datenerhebung statt. Das Konsultieren rahmt wiederum eine noch intensivere Zusammenarbeit, wobei u.a. gemeinsam mit Flüchtlingen überlegt wird, wie Forschungsfragen im Feld angegangen werden können.
Jeder dieser Ansätze bedarf zweifelsohne spezifischer forschungsethischer Überlegungen, damit die Forschung unbefangen bleibt (wobei an dieser Stelle anzumerken ist, dass jede Forschung von persönlichen Interessengebieten geleitet ist, die gewisse individuelle Neigungen reflektieren, sodass eine vollkommene Objektivität nicht möglich ist). Um mögliche einseitige Tendenzen zu vermeiden, bietet sich die Nutzung von intersektionalen Linien an, wodurch Personen unterschiedlichen Geschlechts und verschiedener Bildungsgrade, Herkunftsregionen, ethischer Zugehörigkeiten etc. systematisch eingebunden werden.
Ob beim Interviewen, Involvieren oder Konsultieren, es ist stets sicherzustellen, dass Flüchtlinge freiwillig an Projekten teilnehmen und bereitwillig Informationen teilen, und dass sie wissen, dass sie ihre Teilnahme jederzeit beenden können. Mit besonderem Blick auf die involvierenden und konsultierenden Ansätze ist hervorzuheben, dass die Zusammenarbeit auf Vertrauensverhältnissen basiert. Wenn gemeinsam mit Flüchtlingen (konsultierend) Projekte konzeptualisiert werden, müssen die Forschenden nicht nur den Kontext, sondern auch die Personen gut kennen, um Möglichkeiten und Risiken abschätzen zu können.
Möglichkeiten, Risiken und Limitierungen
Obwohl die Planung und Durchführung eines Forschungsansatzes mit Flüchtlingen eine Herkulesaufgabe darstellt, da stets die eigene Rolle im Feld sowie Schadensminimierung und Gefahrenvermeidung vor Augen gehalten werden muss, betonen einige WissenschaftlerInnen, dass ein solcher Ansatz zum Empowerment und der Förderung der agency von Flüchtlingen dienen kann. Andere WissenschaftlerInnen nehmen sogar an, dass daraus reziproke Vorteilsansprüche für Flüchtlinge entstehen können, da sich greifbare Vorteile für die teilnehmenden Personen ergeben (sollen). Ich denke, dass die Forschung mit Flüchtlingen vielfältige Herausforderungen für die Forschenden vor allem bezüglich der notwendigen Unbefangenheit umfasst, sie aber insbesondere auch die Möglichkeiten bietet, tiefgreifende Einblicke in Kontexte und Lebenswelten zu erlangen, vielfältige Daten zu erheben, und Flüchtlinge als Menschen (und nicht nur als Flüchtlinge, Forschungsobjekte) zu erfassen.
Doch jede Feldforschung ist unterschiedlich, abhängig von Kontext und Personen. Gerade weil seit einigen Jahren ein Feldforschungs-Boom unter WissenschaftlerInnen wie auch Studierenden in den sozialwissenschaftlichen Feldern zu verzeichnen ist, sind eben diese Kontexte und Personengruppen sorgfältig zu berücksichtigen. Denn Feldforschungsvorhaben in der Zwangsmigrations- und Flüchtlingsforschung finden sehr wahrscheinlich in konfliktiven Räumen statt und können Personen involvieren, die traumatisierende Ereignisse durchlebt haben. Psychologische Studien nehmen an, dass ca. die Hälfte aller Opfer von Vergewaltigungen, Kriegen, Vertreibung und Folter traumatisiert sind und unter Folgestörungen leiden. Das muss bei der Planung und Durchführung von Feldforschung bedacht werden!
Feldbesuche dürfen daher weder der interessengeleiteten Besichtigung von Not, Elend und Leid noch der abenteuerlustigen Suche nach Grenzerfahrungen in einer Selbstfindungsphase oder der puren Neugier auf fremde "exotische" Länder dienen (was jedwede Feldforschung betrifft). Dabei soll Feldforschung insbesondere in Bereichen wie der Flüchtlingsforschung nur dann umgesetzt werden, wenn es für die jeweilige Forschungsfrage unabdingbar ist, und wenn die Forschenden entsprechendes Können mitbringen. Die eigenen Qualifikationen beziehen sich nicht nur auf fachliche Kenntnisse wie Methoden- und Kontextwissen, sondern auch auf persönliche Fähigkeiten und Eigenschaften (bspw. ob man/frau sich in "fremden" Kontexten bewegen kann, kultursensibel ist und nicht zu fordernd auftreten kann).
Diese konfliktiven Situationen können Herausforderungen und Sicherheitsrisiken für Forschende mit sich bringen, wozu u. a. physische Unsicherheiten, psychische Belastungen und alltägliche strukturelle Tücken (Transport- und Unterkunftsmöglichkeiten, etc.) gehören, was Francesca Esposito anhand von Inhaftierungslagern in Italien beschreibt. Vielmehr ist aber das Wohl der Flüchtlinge in den Mittelpunkt zu setzen. WissenschaflterInnen müssen bedenken, dass Flüchtlinge einerseits Hoffnungen, Erwartungen oder Ansprüche aus ihren Teilnahmen schöpfen können, und für sie andererseits Nachteile oder gar Gefahren aus der Zusammenarbeit oder auch der reinen Interaktion entstehen können. Sowohl die falschen Hoffnungen als auch die Gefahren sind zu vermeiden. Forschungsethisch sind daher Risiken und Nutzen dezidiert abzuwägen, die Sicherheit und Rechte der TeilnehmerInnen stets sicherzustellen, und vor allem die Vermeidung von möglichen Schäden konstant im Blick zu behalten.
In solchen herausfordernden Räumen kann eine Zusammenarbeit mit Flüchtlingen indes auch von großem Vorteil sein. Zum Beispiel können WissenschaftlerInnen mit Flüchtlingen Gesprächsleitfäden erarbeiten oder besprechen, wodurch kulturelle Kontexte berücksichtigt und Schäden oder weitere Traumatisierungen durch die Interviews vermieden werden. Denn die Art und Weise, wie Gespräche gehalten und Fragen gestellt werden, ist kontext- und kulturabhängig. Zudem können Flüchtlinge im Rahmen der Datenerhebung helfen, wodurch andere oder neue Blickwinkel aufgenommen werden können, die WissenschaftlerInnen ggf. vernachlässigt hätten (wobei auch hier konfliktsensible und forschungsethische Überlegungen wichtig sind).
Unabhängig davon, ob Forschung über oder mit Flüchtlingen durchgeführt wird, die Vermeidung von Schäden ist zentral – und das vor, während und nach der Feldforschung. Vor der Feldforschung bezieht sie sich u. a. auf die Wahl passender Methoden und die Aneignung von Kontextwissen; während der Feldforschung u. a. auf den kultursensiblen Umgang, die unparteiliche Wahl von TeilnehmerInnen und die Sicherstellung, dass aus der Interaktion von Flüchtlingen und Forschenden keine Gefahren für die Flüchtlinge entstehen; während und nach der Feldforschung u. a. auf die anonymisierte Nutzung der erhobenen Daten.
Ein Plädoyer für die Forschung mit Flüchtlingen
Während Feldforschung im Allgemeinen vielfältige Herausforderungen und zu beachtende Aspekte birgt, können WissenschaftlerInnen durch die Zusammenarbeit mit Flüchtlingen tiefgreifende Einblicke und Daten gewinnen. Während das kritisierte Machtgefälle minimiert werden kann und Flüchtlingen vielmehr auf Augenhöhe begegnet wird, bedarf es Vertrauen und Zeit, um gemeinsam zu arbeiten. Wenn Flüchtlinge Daten erheben und bspw. Interviews führen, sind auf mögliche Spannungsverhältnisse zu achten. Zudem ist stets offen zu legen, worauf Forschungsprojekte abzielen, um Missverständnisse und falsche Hoffnungen zu vermeiden.
Durch die Zusammenarbeit wird es einerseits WissenschaftlerInnen ermöglicht, mehr über Flüchtlinge als Personen in ihren individuellen Kontexten und Lebenslagen zu erfahren. Obwohl manche Informationen ggf. über die ursprünglichen Forschungsfragen hinausgehen, erreichen WissenschaftlerInnen ein weiterführendes Verständnis der komplexeren Zusammenhänge und Phänomene. Andererseits können sich Flüchtlinge engagieren, Wissen und Ideen einbringen und werden als Subjekte (nicht "nur" als Untersuchungsobjekte) anerkannt. Denn unabhängig davon wo Flüchtlinge fliehen, sie sind ebenso vielfältig und besitzen diverse Fähigkeiten und Kenntnisse wie alle anderen Menschen weltweit.
Letztlich sind WissenschaftlerInnen mit Hilfe dieser tiefgreifenden Informationen in der Lage, als Sprachrohr für die häufig "unsichtbaren Akteure" zu agieren, Erkenntnisse in Wissenschaft und Praxis zu tragen, Debatten anzuregen, und ggf. zur Verbesserung der Situationen beizutragen.
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