Von der Kunst, nicht dermaßen begrenzt zu werden: Handlungsmacht von Geflüchteten als selbstorganisierte Prozesse

Dies ist der 14. Artikel unseres Blogfokus zu Flucht und Migration. Weitere Informationen gibt es hier.

von Johanna Bröse

Geflüchtete haben vielfältige Wege, eigene Handlungsfähigkeit zu entwickeln, sich zu vernetzen und ihre Forderungen um Rechte und Anerkennung als "neue Bürger_innen" zu artikulieren. Mein Beitrag setzt sich mit der transformativen Handlungsmacht von Geflüchteten auseinander und geht der Frage nach, wie diese bei dem Anspruch auf Rechte, Zugänge zu Bildung und sozialen Räumen entwickelt und eingesetzt wird – und inwiefern Wissenschaft und Hochschule dabei Unterstützung leisten können.

Geflüchtete als Opfer?

Geflüchtete werden in den medialen und politischen Debatten in Deutschland oft einseitig als Opfer oder Gefahren, nicht aber als Personen mit selbstbestimmter Agency, Handlungskompetenz und Rechten dargestellt. Auch wissenschaftliche Arbeiten widmen sich weniger der subjektiven Handlungsfähigkeit. Das liegt auch daran, wie Ulrike Krause in einem früheren Beitrag in dieser Blogreihe deutlich macht, dass die Forschung "über" und "mit" Geflüchteten ein Feld ist, auf dem mit zahlreichen Spannungsverhältnissen und Herausforderungen umgegangen werden muss. Sie macht aber auch deutlich, dass dabei aktuell einiges in Bewegung gerät und mehr und mehr Forschungsarbeiten entstehen.

Thomas de Maizière (CDU) echauffierte sich im Sommer 2015 darüber, dass die Geflüchteten sich erdreisteten, selbst über ihren Aufenthaltsort entscheiden zu wollen. "Jetzt gibt es schon viele Flüchtlinge, die glauben, sie können sich selbst irgendwohin zuweisen", so seine Klage. De Maizière meint ferner:

Sie gehen aus Einrichtungen raus, sie bestellen sich ein Taxi, haben erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte von Kilometer durch Deutschland zu fahren. Sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln in Asylbewerbereinrichtungen.

Das Wutschnauben im Sinne von "Die machen ja gar nicht brav, was man ihnen sagt – die machen ja, was sie wollen!" ist symptomatisch für den politischen Umgang einiger Parteien mit Geflüchteten. Die Beschwerde zeigt aber auch, dass sich ganz real Widerstände und Proteste gegen diese Zumutungen in einer Form regen, die wahrgenommen wird. Was bedeutet diese Entwicklung konkret für die Menschen mit Fluchterfahrung? Wie bewegen sie sich in sozialen Räumen und über Grenzen hinweg? Wo fordern oder nehmen Geflüchtete sich Räume, verschaffen sich Gehör, organisieren ihr Leben um? Welche Erkenntnisse darüber sind in der sozialwissenschaftlichen Forschung vorhanden?

Meine These ist, dass es auch die Aufgabe solidarischer Wissenschaftler_innen ist, die vielfältigen Praktiken der Geflüchteten anzuerkennen und sie dabei zu unterstützen, Räume zum gemeinsamen Austausch und zur Selbstartikulation zu öffnen.

Vielfältige Praxen des Einforderns von Zugängen

Mit einem Blick auf die internationale Forschung wurden in den vergangenen Jahren viele Beiträge zu Agency und Resilienz veröffentlicht, die langsam auch Einzug in die deutschsprachigen Debatten finden. Der Begriff Agency oder Handlungsmacht zielt auf eigensinnige, widerständige Dimensionen der Handlung, aus denen sich transformatorische Praktiken entwickeln können. Für Geflüchtete sind dabei vielfältige Anknüpfungspunkte relevant: Ihre Lage bewegt sich zwischen Mobilität und Immobilität, repressiven Rahmungen und Hilfsangeboten, symbolischen und materiellen Ausgrenzungen sowie der Forderung auf Anerkennung als neue Bürger_innen (im Sinne von Etiènne Balibars "New Citizen"; Balibar 2015). All diese Gratwanderungen sind ein Feld, in dem Praktiken der Transformation und vielfältige widerständige Haltungen sehr gut wahrzunehmen sind. Sie zeigen sich anhand des Umgangs mit den prekären, zeitlich begrenzten oder vorenthaltenen Rechten und daran, wie sich Geflüchtete selbst organisieren, um öffentlich für ihre Interessen einzutreten. Die Strukturen und Perspektivenwechsel, die dabei sichtbar werden, sind für die Forschung mit Geflüchteten zentrale Anknüpfungspunkte.

Die Proteste der Geflüchteten werden über Netzwerke strukturiert, die, wie Larissa Fleischmann darstellt, teilweise schon jahrelang bestehen (etwa das Voice Refugee Forum oder Women in Exile). In ihnen werden gemeinsame Forderungen artikuliert, die sich gegen rassistische Ausgrenzung und asylrechtliche Einschränkungen wie Lagerpolitiken oder Residenzpflicht richten. Die dort stattfindenden Praxen der Selbstermächtigung und der Selbstorganisierung führen bei den Geflüchteten zum einen dazu, in bestehenden Sozialräumen (etwa Stadtvierteln) und erweiterten Netzwerken der Migrationsgesellschaft (etwa antirassistischen Solidaritätsstrukturen oder Flüchtlingsinitiativen) Fuß zu fassen und gemeinsame Kämpfe zur Veränderung der Verhältnisse auszurichten. Gleichzeitig werden aber auch die mitgebrachten Kompetenzen in gemeinsamem Austausch aktualisiert und neu kontextualisiert, wie es etwa bei der selbstorganisierten Refugee-Plattform "Jugendliche ohne Grenzen" geschieht. Sie hat in den vergangenen Jahren durch Veranstaltungen, Vorträge und Veröffentlichungen immer wieder auf sich aufmerksam gemacht und konkrete Forderungen zur Verbesserung der Zugänge junger Geflüchteter zu gesellschaftlichen Ressourcen gestellt. So wurden etwa im März 2015 bei der Aktion "Mein Zeugnis für Merkel!" 130 Schulzeugnisse sowie Briefe junger Geflüchteter gesammelt und dem Kanzleramt übergeben, mit der Forderung, Geflüchtete ohne sicheren Aufenthaltsstatus stärker in die Bleiberechtsdebatte einzubeziehen.

Wie Giulia Borri und Elena Fontanari in einem aktuellen Artikel herausarbeiten, kann auch Mobilität als zentrales Lebensverhältnis von Geflüchteten als positive Strategie angewendet werden, um ihre Lebensvorstellungen zu verwirklichen. Dafür werden unter anderem informelle selbstorganisierte Netzwerke genutzt, die sich über Europa hinweg spannen und über die Informationen zu Transit-, Wohn- oder Arbeitsmöglichkeiten weitergegeben werden: "Durch Bewegungen und die Informationen, die in den Netzen zirkulieren, entsteht ein kollektives Wissen über die bürokratische Praxis an den verschiedenen Orten. Dieses kollektive Wissen wird von den Flüchtlingen genutzt, um einige Grenzen zu umgehen oder zu überwinden und um ihren Lebensvorstellungen zu folgen."

Bildungsinstitutionen im Umbruch

Ada [Name geändert], eine jungen Geflüchtete, deren Asylverfahren seit vielen Monaten nicht zum Abschluss kommt, suchte mich vor einiger Zeit aktiv auf, um mir ihre Geschichte zu erzählen. Sie sagte:

Ich möchte nicht mehr warten, bis sie sagen, ich kann genug Deutsch. Ich möchte jetzt studieren. Ich habe schon zwei Jahre mit Nichts-Tun [gemeint ist im Sinne der Bildung, Anm. J.B.] verbracht. Ich verpasse Jahre um Jahre meiner Jugend.

Ada wollte auch konkret Veränderungen einfordern, die sie für ihre Lebensplanung benötigt: Jetzt die Möglichkeit zu erhalten, zu studieren – nicht erst irgendwann. Sie und andere Menschen mit und ohne Fluchterfahrung setzen seit Jahren die verkrusteten Strukturen der Universitäten und Bildungseinrichtungen unter Druck, sich zu öffnen. Und es sind mittlerweile Veränderungen sichtbar: Aktuell sind an vielen Universitäten und Bildungseinrichtungen des Landes Prozesse im Gange, geflüchteten Menschen in bestehende oder neu entstehende Angebote aufzunehmen und ihnen einen Zugang zu (Weiter-)Bildung zu ermöglichen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat dafür jüngst angekündigt, die Hochschulen in den kommenden Jahren mit Fördergeldern von insgesamt rund 100 Mio. Euro zu unterstützen. Anknüpfungsmöglichkeiten für solidarische Unterstützung durch (Flucht-)Forscher_innen können in der Form bestehen, dass sie in die universitären Prozesse die Stimmen der Geflüchteten hineintragen können und so immer wieder neue Anknüpfungspunkte auf Grundlage der Bedürfnisse der Adressat_innen einbringen. Dies kann durch Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Forschung geschehen, aber auch durch das konkrete Wahrnehmen der eigenen Person als politische_r Akteur_in und Unterstützer_in. Die eigene Haltung ist dabei maßgeblich:

Wenn man diese Bewegung der Regierbarmachung der Gesellschaft und der Individuen historisch angemessen einschätzt und einordnet, dann kann man ihm, glaube ich, das zur Seite stellen, was ich die kritische Haltung nenne […] eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst, nicht regiert zu werden bzw. die Kunst, nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.

(Foucault 1992: 11-12)

Es bestehen bereits Kooperationen, die als gute Beispiele dienen können: Etwa bei den Urban Refugees, einer Forschungsgruppe der Universität Stuttgart, in der Personen mit und ohne Fluchterfahrung gemeinsam Partizipationsforschung betreiben. Daraus entstand ein sehenswertes selbstorganisiertes Projekt, in dem die Beteiligten mit anderen Geflüchteten gemeinsam Gespräche zu Bedürfnissen und Ideen zur besseren gemeinsamen Vernetzung und Sichtbarkeit in der Stadtgesellschaft führten. Ihr Bericht des Projekts "Interaction and capacity development through self-actualization" endet mit dem Satz: "Tell me, and I forget; teach me, and I remember; involve me, and I learn" (Urban Refugees 2015, S. 31). Eine ähnliche Zielsetzung ist auch in einem sozialräumlichen Projekt des Wiener Labor für Partizipative Aktionsforschung, ebenfalls universitär angesiedelt, sichtbar: Konzipiert werden urbane Bildungsräume für junge Geflüchtete – und zwar gemeinsam mit ihnen.

Die Bildungsinstitutionen können also einen weitreichenden Beitrag leisten: indem sie reale Räume zur Verfügung stellen, interdisziplinäre Unterstützungsangebote für interessierte Geflüchtete anbieten und sich auch nicht scheuen, nach möglichen Veränderungen der eigenen Ausrichtung von Forschung und Lehre hin zu einem inklusiveren Einbezug von Geflüchteten zu suchen. Und auch, indem sie im Sinne der Diversität der Hochschule Fragen nach Zugang zu Bildung entlang von Klassen- und Milieuzugehörigkeit stellen. Die Schriftstellerin Taiye Selasi führte hierzu aus: "To call one student American, another Pakistani, then triumphantly claim student body diversity ignores the fact that these students are locals of the same milieu".

Solidarität mit den "Refugee Struggles"

Die aktuellen Entwicklungen können, über unterschiedliche Kontexte hinweg, als eine fortwährende Darstellung der Handlungsmacht Geflüchteter gelesen werden. Sie selbst sind dabei die Erzähler_innen. Mit jeder öffentlichen Forderung entscheiden sie, sich selbst als handelnde Menschen mit Kompetenzen, Fähigkeiten und Rechten zu erfahren und darzustellen. Sie bringen durch ihr Engagement Wissen und Erfahrung ein und finden damit als Subjekte Anerkennung. Das Erheben der eigenen Stimme ist eine von vielen Bewältigungsstrategien, die in den deutschsprachigen wissenschaftlichen Forschungsprojekten oder journalistischen Berichten mehr und mehr Erwähnung finden und den Druck auf die gesellschaftlichen Strukturen erhöhen. Viele Geflüchtete in Europa sind fest entschlossen, ihre Stimme zu erheben und führen jeden Tag politische Aushandlungsprozesse gegen das militarisierte Grenzregime und die restriktiven Rechtslagen – etwa in dem Bündnis "Recht auf Stadt – Never Mind the Papers!" mit einer großer Demonstration am 14. November 215 in Hamburg, gemeinsam mit anderen Geflüchteten aus Afghanistan vor dem Berliner LaGeSo, oder in den Grenzlagern im slowenischen Brežice durch aufmerksamkeitserregende Protesthandlungen. Edward Said betont die Wichtigkeit, die eigene Geschichte zu erzählen, um Veränderung zu erzielen: "There seems to be nothing in this world which sustains the story; unless you go on telling it, it will just drop and disappear..." (zitiert nach Rushdie 1991: 178).

Geflüchtete, die nach Deutschland migrieren, sind nicht nur als Opfer und Empfänger_innen von wie auch immer gearteten Hilfen zu sehen. Vielmehr sind sie als eigenständige, kämpferische und politische Akteur_innen anzuerkennen, die von unterschiedlichen Umständen und Grenzsetzungen herausgefordert sind und eigene Strategien des Umgangs entwickeln können.

Notwendig sind eine solidarische Unterstützung der Forderungen nach Rechten und die Anerkennung durch Dritte. Dies bezieht sich auch darauf, dass die Verteilung von und der Zugang zu Ressourcen grundlegend in die Debatten und die daraus resultierenden Umsetzungen einzubeziehen ist. Für und mit Geflüchteten sind folglich immer weiter Räume als Arenen der Bedürfnisartikulation zu schaffen, in denen sie Zugang zu den Ressourcen der Gesellschaft erhalten und weiter ausbauen können. Mit "Räumen" sind dabei sowohl konkrete Sozialräume als auch kritische Reflexionsräume, zum Beispiel innerhalb von Forschungskontexten, gemeint.

Der weiter oben aufgeführte Foucault'sche Imperativ wird im Asylkontext besonders deutlich: durch die Sichtbarkeit der Zwänge, Restriktionen und Grenzen, der Kontrollen und Widersprüche. Aber auch durch das Zutagetreten der Notwendigkeit, moralische und politische Haltungen in Handlungen zu übersetzen, welche diese Zwänge und Einschränkungen in Frage stellen. Die damit verbundene "Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden" (Foucault 1992, S. 12) wirft für alle Beteiligten grundlegende Fragen zum Verhältnis von Solidarität mit (anderen) Geflüchteten, Veränderungen von Lebensbedingungen unter restriktiven Rechtslagen und einer auf Privilegien fußenden Politik und bildungspolitischen Praxis auf.


Literatur

  • Etiènne Balibar (2015): Citizenship. Cambridge: Polity.
  • Michel Foucault (1992): Was ist Kritik. Berlin: Merve.
  • Salman Rushdie (1991): On Palestinian Identity: A Conversation with Edward Said. In: Salman Rushdie, Imaginary Homelands. London: Penguin.
Johanna Bröse ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Sozialpädagogik mit dem Themenschwerpunkt "biografische Übergangsforschung" an der Eberhard Karls Universität Tübingen sowie in der Tübinger Forschungsgruppe für Migration | Integration | Jugend | Verbände. Sie ist Mitglied im Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung e.V., im Netzwerk Flüchtlingsforschung und im Netzwerk Kritische Psychologie (kritpsych).

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