von Ulrich Schneckener
Die allgemeine Verunsicherung lässt sich allein an der Anzahl der Sondersendungen und Talkshows zum Thema ablesen. Wie immer nach größeren Terroranschlägen in westlichen Demokratien, folgt derselbe mediale Mechanismus, der das ohnehin schon entsetzliche Ereignis in einer Art Dauerschleife in den Köpfen festsetzt und damit unvermeidlich den psychologischen Effekt steigert, auf den die Terroristen setzen. Verbunden wird das Ganze mit der fast schon doktrinären Aufforderung, sich nicht verunsichern zu lassen und „normal“ weiter zu leben. In vielen Aspekten handelt es sich um eine – seit 2001 – immer wiederkehrende Erfahrung, die zumeist mit den gleichen Fragen begleitet wird. Das eigentliche Neue an den Pariser Anschlägen ist jedoch, dass es sich um den ersten größeren, komplexeren, koordinierten und erfolgreichen Anschlag des Islamischen Staates in Europa handelt. Schon zuvor gab es kleinere Anschläge und Anschlagsversuche, offenbar vom gleichen Netzwerk belgisch-französischer Dschihadisten organisiert. Wofür stehen diese Anschläge und warum wählt der IS die Gewaltstrategie des globalen Terrorismus?
Es gibt durchaus gute Gründe, die Anschläge eher als ein Zeichen der Schwäche des IS zu deuten, auch wenn dies zunächst paradox klingen mag. Diese Sichtweise wird auch von Kennern der Region wie Olivier Roy (The International New York Times, 17.11.2015) und Bernard Haykel (Süddeutsche Zeitung, 18.11.2015, S. 11) vertreten. Die These wäre demzufolge, dass der IS mit seinem territorialen Projekt in Teilen von Syrien und Irak aus mehreren Gründen an seine Grenzen gestoßen ist. Solange der IS in der Lage war, erfolgreich Gebiete zu erobern und sich als Anziehungspunkt für Dschihadisten aus aller Welt zu etablieren, gab es außerhalb der Kriegsregion keine Anschläge, obgleich die Rückkehrer-Problematik seit Jahren virulent ist. Anders formuliert: Es haben sich offenkundig mehr Dschihadisten mit deutschem Pass in Syrien und Irak bei Selbstmordanschlägen in die Luft gesprengt als in Europa oder gar in Deutschland. Wenn nun die IS-Führung oder Teile des IS auf eine globale Terrorstrategie ausweichen und sich auf diese Weise mit der ganzen Welt anlegen wollen, stellen sie ihr ausgerufenes Kalifats- oder Staatsprojekt, den Aufbau einer neuen islamischen Gesellschaft, zur Disposition. Der IS glaubt offenbar selbst nicht an die Realisierung seines politischen Projektes, falls diese Absicht bei den führenden Kadern je bestanden haben sollte. Denn: Die Konsolidierung lokaler Herrschaft unter Bedingungen des Krieges erweist sich nicht zum ersten Mal als ein schwieriges Unterfangen. An der Umwandlung von purer Gewalt in auf Dauer ausgerichtete Herrschaft – oder in den Worten des Soziologen Heinrich Popitz von „bloßer Aktionsmacht“ in „bindende Aktionsmacht“ – sind schon zahlreiche nicht-staatliche Gewaltakteure gescheitert.
Was den IS über lange Zeit auszeichnete, war die rasche, zum Teil überfallartige Eroberung von Gebieten, bedingt durch das militärische Know-How nicht zuletzt durch sunnitische Offiziere der früheren irakischen Armee. Die territoriale Ausbreitung war indes nur möglich, weil keine andere Konfliktpartei bereit war, sich dem IS konsequent entgegenzustellen. Der IS stieß im sunnitischen Kerngebiet des Iraks und in den relativ schwach besiedelten Gebieten im Osten Syriens auf wenig Gegenwehr, auch weil alle Konfliktakteure den IS nicht als ihren zentralen Gegner sahen – dies gilt für die Türkei, den Iran und das Assad-Regime, für die irakischen Kurden ebenso wie für die irakischen Schiiten, denen es primär um den Schutz und die Absicherung ihrer Kernregionen geht. Auf erbitterten Widerstand traf der IS stets dann, wenn er in die Gebiete anderer Bevölkerungsgruppen, wie etwa den syrischen Kurden vorrücken wollte – der symbolträchtige Kampf um Kobane soll als Beleg genügen. Verbunden war die militärische Strategie des IS von Beginn an mit einer Brutalisierung nach innen und außen zur Abschreckung, Einschüchterung und Terrorisierung von Gegnern und Bevölkerung. Die Selbstinszenierung von Brutalität und Grausamkeit wurde zudem von einer professionellen Medienarbeit begleitet und weltweit verbreitet. Da bekanntlich nur wenig erfolgreicher ist als der Erfolg selbst, gewann der IS mit seinem Versprechen einer neuen politischen Ordnung für viele radikalisierte und vagabundierende Dschihadisten an Attraktivität. Während bei Bin Laden und Al-Qaida das Kalifat nicht mehr als eine ferne Utopie blieb, schien sich hier nun eine reale, territoriale Option zu manifestieren.
Aus anderen Konfliktkontexten wissen wir nun, dass die Gewaltstrategie des Terrorismus vor allem in zwei Konstellationen gewählt wird: Die erste Variante besteht darin, dass militärisch schwache Organisationen bzw. klandestine Kleingruppen, die sich für eine Avantgarde halten, versuchen, mit Anschlägen Aufmerksamkeit und Mobilisierung zu erzielen, nicht zuletzt durch provozierte Gegenreaktionen. Die zweite Konstellation bezieht sich auf Akteure, die im Zuge einer Eskalation auf die Terrorstrategie zurückgreifen, vor allem dann, wenn andere Optionen nicht mehr oder nicht mehr in der gewünschten Weise zur Verfügung stehen, wenn sich der Akteur militärisch unter Druck oder politisch auf dem absteigenden Ast sieht. Genau dies könnte beim IS der Fall sein. Eine ähnliche Dynamik lässt sich im Übrigen schon länger in Mali beobachten. Das militärische Zurückdrängen der Dschihadisten, die sich 2012 in Nordmali in IS-ähnlicher Geschwindigkeit ausgebreitet hatten, führte vermehrt zu Anschlägen andernorts im Land. Mit Blick auf den IS dürfte diese Konstellation daher kurzfristig nicht weniger Gewalt bedeuten, sondern eher eine erhöhte Gefahr von Anschlägen weltweit, sofern die Anschläge von Paris einen solchen Strategiewechsel markieren. Es geht dann darum, das Gewaltprogramm des IS auf andere, erweiterte Weise fortzusetzen, um auf eine Radikalisierung und Polarisierung zu setzen, um westliche Gesellschaften zu verunsichern und zu spalten, um das Verhältnis von Nicht-Muslimen und Muslimen zu verschlechtern, um „Bürgerkrieg“ zu exportieren und gleichzeitig den Westen immer mehr in den syrisch-irakischen Konfliktkontext militärisch hineinzuziehen, was – wie die erhöhte Zahl an Luftschlägen zeigt – auch gelingen könnte. Damit würde der IS letztlich auf die Al-Qaida-Strategie umschwenken, was aber das Ende des eigenen Kalifatprojekts einläuten dürfte.
Trotz der militärischen Eindämmung und Rückschläge kann jedoch der IS und seine Ideologie nur in Syrien und im Irak von den dortigen Konfliktparteien und – langfristig – von den Gesellschaften selbst bekämpft werden. Doch dazu ist bisher niemand bereit oder in der Lage. Selbst eine erfolgreiche Bekämpfung vor Ort, durch wen auch immer, wird nicht das Problem des transnationalen Dschihadismus lösen. Die internationalen Brigaden werden entweder zum nächsten Konfliktkontext weiterziehen (etwa nach Libyen, Jemen oder Mali) – oder sie kehren in ihre Herkunftsländer zurück, um dort nach dem Modell der Afghanistan-Rückkehrer lokale, militante Gruppen zu gründen. Hierbei dürften insbesondere Länder wie Tunesien, Marokko oder Jordanien gefährdet sein, aus denen nicht nur viele IS-Kämpfer stammen, sondern die auch – anders als Europa – nicht über einen effektiven Staat und Sicherheitsapparat verfügen.