von Klaus Hummel
Manchmal lohnt sich ein Blick über den Zaun. Wie halten es andere EU-Staaten mit dem Salafismus, was wissen sie über Anhängerzahlen oder über die Ausbreitung des Phänomens und nicht zuletzt, wie schätzen sie die Gefahren ein, die insbesondere mit Blick auf dschihadistischen Terrorismus vom Salafismus ausgehen? Eine derartige vergleichende europäische Perspektive steht noch aus, ist aber unabdingbar, würde sie doch auf "blinde Flecken", Fragestellungen und Sichtweisen, die noch zu wenig Berücksichtigung finden, verweisen. Und vielleicht erhöht sie auch den akademischen und politischen Austausch, der gerade bei transnationalen Phänomenen wie Salafismus oder Dschihadismus wichtig erscheint. In jedem Fall bewahrt sie vor einem „methodologischen Nationalismus“.
Vor diesem Hintergrund soll hier ein kurzer Blick auf ein Nachbarland Deutschlands neue Sichtweisen ermöglichen. Es handelt sich um die Niederlande, die mit ihrer ausgeprägten salafistischen Szene schon Ende der 1990er Jahr Anlaufpunkt der gerade in Entwicklung begriffenen deutschen Salafi-Bewegung war. Zudem tut sich das Land mit einer differenzierten sicherheitsbehördlichen Phänomenwahrnehmung hervor, um die es in diesem Beitrag auch gehen soll. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie bei der Etikettierung des Salafismus als „extremistisch“ ebenso Zurückhaltung walten lässt wie bei der Nennung entsprechender Anhängerzahlen.
Salafismus als vernachlässigtes Feld der Deradikalisierung
Die Publikation des AIVD zur „Transformation“ der dschihadistischen Szene in den Niederlanden hatte es in sich. Vor allem deswegen, weil sich die Behörde damit im Jahr 2014 zu einer Neueinschätzung genötigt sah: Salafismus bilde wieder einen Nährboden für den Dschihadismus. In Zusammenarbeit mit dem Nationalen Koordinator für Sicherheit und Terrorismusbekämpfung (NCTV) bestätigt der AIVD in einer Studie vom Oktober 2015 die veränderten Verhältnisse. Wegen des syrischen Bürgerkrieges, der Entstehung des so genannten Islamischen Staates und einer ebenso erstarkten wie veränderten Szene einheimischer Dschihadisten, ist Salafismus wieder Thema. Dabei kam der AIVD noch 2010 zu der bemerkenswerten Einschätzung, dass der Salafismus trotz seiner intoleranten, isolationistischen und antidemokratischen Botschaft, nicht länger als Nährboden des dschihadistischen Terrorismus fungiert. Revidieren die Behörden jetzt ihre Einschätzung?
Ja und Nein. Ja, weil der AIVD nicht umhin kommt, die Relevanz salafistischer Strukturen und Akteure bei der Hinwendung zur Gewalt zu konstatieren. Nein, weil die Behörden damals wie heute anerkennen, dass der Salafismus eine solche Rolle spielen kann. Die Erkenntnis, dass Salafismus unter bestimmten Umständen und zu einer bestimmten Zeit eine radikalisierende Wirkung zu entfalten vermag, hat eine zentrale Konsequenz: Salafismus wird so zur beeinflussbaren Größe und andere Fragen treten in den Vordergrund. Etwa nach den Maßnahmen, die nötig sind, damit Salafismus keinen Nährboden für dschihadistische Gewalt bildet? Auf diese Weise eröffnet sich ein bislang weitgehend unbearbeitetes Feld der Deradikalisierung. Wer es bearbeiten will, kommt nicht umhin, sich seiner wandelbaren Organisationsform zu stellen.
Informelle Organisationsform als zentrale Herausforderung
Salafisten in den Niederlanden treffen sich in salafistischen Zentren und Moscheen. Sie treffen sich aber auch außerhalb dieser, in Wohnungen und im Internet oder auf der Straße. Wie ihre Glaubensbrüder und -schwestern in Deutschland folgen sie keineswegs zwangsweise einem oder nur einem Prediger. Die Grenzen, insbesondere die zwischen nicht gewaltbereiten Salafisten und gewaltlegitimierenden Dschihadisten erschließen sich auch Eingeweihten oft erst auf den zweiten Blick, wobei sich manch einer wiederum online anders und viel härter als offline gibt. Kurzum, es gibt formale und nicht formale Strukturen, wechselnde Überzeugungen und fließende Übergänge oder multiple Loyalitäten, die niederländische Sicherheitsbehörden in zweierlei Auffassungen bestärken können. Zum einen darin, sich aufgrund von organisatorischer Vielfalt und Diffusität bei der Nennung von Anhängerzahlen zurückzuhalten und zu konstatieren, dass der Besuch eines Seminars, eine Person noch nicht zum Salafisten oder gar Radikalen macht. Zum anderen und nicht weniger bedeutsam, dass die auch in Deutschland beobachtbare Tendenz zum Fluiden und Informellen ein, wenn nicht das zentrale Problem beim Nexus von Salafismus und Jihadismus darstellt.
Schon in dem oben erwähnten AIVD-Bericht aus dem Jahr 2010 wurden Verdrängungseffekte antizipiert, die man aus dem deutschen Salafismus bestens kennt: Vereins- und Moscheeverbote führen zur Umstrukturierung von Szenen, die meist in netzwerkartigen Neugruppierungen resultiert und nicht selten mit weiteren Radikalisierungen einhergeht. Am 2012 verbotenen „Verein“ Millatu Ibrahim Gruppe lässt sich das gut nachvollziehen. Zum einen wegen des Entstehens von stark internetbasierten Nachfolgestrukturen, zum anderen, weil maßgebliche Akteure das Verbot zum Anlass nahmen, sich kämpfenden Gruppen im Ausland anzuschließen. Hier zeigt sich eine klassische nicht beabsichtigte Folgewirkung repressiven Handelns. Denn für manche Akteure wirkt Verfolgungsdruck wie eine „Innovationspeitsche“. Neue Handlungsoptionen drängen sich auf, wobei besonders das Bedürfnis treibt, sich neu aber loser zu organisieren und damit unangreifbarer zu machen. Es sind genau diese vorhersehbaren und vielfältigen Tendenzen der Informalisierung, die noch zu wenig Aufmerksamkeit erfahren: der Rückzug in private Wohnräume etwa und nicht weniger das Abtauchen ins Internet oder ins Ausland. Staatliches Handeln ist dabei ein Faktor, doch als treibende Kraft lässt sich ein bestimmter Typus von Predigern im salafistischen Gewand ausmachen.
Der Kampf um die Grauzone
Es ist schon fast ein Allgemeinplatz: Salafismus ist kein Monolith. In den Niederlanden gibt es, nicht anders als in Deutschland, salafistische Stimmen, die sich deutlich vom globalen Dschihadismus à la IS oder Al-Qaeda distanzieren, aber auch solche, die ihm das Wort reden. Gleichzeitig erstarkt bereits seit geraumer Zeit eine weitere Fraktion, die der AIVD bereits im Jahr 2014 im Blick hatte, als er die Wandlung des niederländischen Dschihadismus zu konstatieren hatte. Eine neue Szene „unabhängiger“ Prediger tue sich dabei hervor, die Trennlinie zum Dschihadismus willentlich zu verwischen. Nichts anderes passiert hierzulande, wo sich salafistische Verkünder als Dschihadisten outen, nur um wenig später ganz friedfertig den Koran zu verteilen und wo Friedenskongresse abgehalten werden, aber keine Scheu besteht, mit IS-Symbolik zu kokettieren. Sich den Strategien dieser Aktivisten und den von ihnen bewusst adressierten Ambivalenzen in der Gewaltfrage anzunehmen, ist unabdingbar. Zumindest dann, wenn man den vielzitierten Kampf um die Herzen und Köpfe nicht schon verloren geben will, bevor er gekämpft wurde. Umso mehr, wenn man salafistische Anhängerschaften als das erkennt, was sie eigentlich sind: die anvisierte Zielgruppe des globalen Dschihad.
Der zeitgenössische Salafismus ist rückwärtsgewandt und fundamentalistisch. Gleichzeitig ist er äußerst modern und geprägt von der Big Brother Logik modernster Unterhaltung, die von Zerwürfnis und Versöhnung lebt, vom Gockeln und der Öffentlichkeitswirksamkeit und nicht zuletzt vom Liken und Disliken. Mit essentialisierender Verallgemeinerung, mit moralisierender Entrüstung und kognitiver Überzeugungsarbeit, ist dem Phänomen nicht beizukommen. Ganz im Gegenteil. Aktionismus ist für die Strategen der Grauzone der Treibstoff ihrer Bewegung. Hierzulande wie bei unseren Nachbarn muss es deshalb darum gehen, den Kontrast zwischen Dschihadismus und gewaltfreiem Salafismus zu schärfen. Dazu braucht es barrierefreies und EU-weites Denken, keine generalisierte Salafismus-Prävention. Das zumindest dürfte im Sinne derjenigen sein, die bereits Erreichtes für wiederholbar halten und wollen, dass es bald möglichst wieder heißt: Salafismus ist nicht länger ein Nährboden für Dschihadismus.
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