Salafistische Narrative und ihre Bedeutung für (De-)Radikalisierung
von Nina Wiedl
Globale Dschihadisten, die Deutschland als legitimes Angriffsziel beschreiben, begründen dies unter anderem damit, dass die Bundesrepublik ein im globalen „Krieg gegen den Islam″ eingebundener „Feindesstaat″ sei. Andersdenkende Salafisten wie Mohamad Gintasi alias Abu Jibril und als gemäßigte Islamisten bezeichnete Akteure wie Samir Mourad (DIdI e.V.), aber auch Repräsentanten einiger etablierter Islamverbände, halten ihnen entgegen, deutsche Muslime hätten mit Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft oder durch Erhalt ihrer Aufenthaltserlaubnis einen islamrechtlich bindenden Sicherheits(garantie)vertrag (amān) geschlossen. Dieser verpflichte sie, solange sie Sicherheit zugesprochen bekämen und, so ergänzen einige, den Islam praktizieren könnten, geltendes Recht zu achten.
In diesem Beitrag werden Argumente und Narrative von Vertretern beider Positionen – namentlich Deutschland als Feindesstaat oder Land eines Sicherheitsvertrages – nachgezeichnet und ihre möglichen Bedeutungen für Prozesse der Radikalisierung und Deradikalisierung diskutiert.
Dschihadistische Rechtfertigungen von Anschlägen in Deutschland
In dschihadistischen Publikationen werden Anschläge auf Ziele in Deutschland häufig mit Verweis auf die direkte oder indirekte Beteiligung des Staates am globalen „Krieg gegen den Islam″ legitimiert. So wurden beispielsweise die Teilnahme der Bundeswehr am ISAF-Einsatz in Afghanistan (2001-14) – oder, wie es in einer Veröffentlichung der Deutschen Taliban Mudschaheddin heißt, die Besatzung islamischen Bodens durch die „ungerechten deutschen Kreuzritter″ –, die Beteiligung am Irakkrieg durch Geheimdienstaktivitäten und die Unterstützung von Kräften, die am Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) beteiligt sind, als Legitimationsgründe für Anschläge angeführt. Politische Gewalt wird so im Sinne des defensiven Dschihads, der in das Heimatland des (fernen) Feindes getragen wird, legitimiert. Es lassen sich aber auch Verweise auf die Situation der Muslime und des Islam in Deutschland finden. Die Globale Islamische Medienfront (GIMF) veröffentlichte 2012 ein Dokument mit dem Titel „Abrechnung mit Deutschland″, das Muslime zu Anschlägen auf deutsche Politiker, Rechtspopulisten und deren Unterstützer aufruft. Die Begründung hierfür lautet, dass unter dem Schutz der Regierung der „geliebte Prophet Muhammad″ von „wertlosen Halbaffen″ beleidigt, der Koran verbrannt und Muslime unschuldig inhaftiert und gefoltert würden.
Der ewige Kampf zwischen al-haqq und al-batil
Die Legitimationsgründe für Anschläge in Deutschland sind eingebettet in ein mit Rückbezug auf den Koran und die Sunna konstruiertes Narrativ eines ewigen Konfliktes zwischen al-haqq (Wahrheit) und al-bātil (Falschheit), dem Islam und dem Unglauben (kufr). Dieser wird oft als Kampf des „Westens″ gegen „den Islam″ gerahmt und in dieser Version auch von Predigern der Salafibewegung vermittelt, die nicht zum bewaffneten Kampf mobilisieren. Während letztere primär „westliche″ Regierungen als Feind identifizieren, verwenden Dschihadisten auch Begriffe wie „Völker des Westens″ oder „die kuffār (Ungläubige)″, suggerieren also, jedes einzelne Mitglied dieser konstruierten Gemeinschaften sei ein Feind. Kraftvolle Unterstützung erhält dieses Narrativ durch das Motiv der „modernen Kreuzritter″, das Erinnerungen an Angriffe des „christlichen Nordens″ auf die muslimische Welt während der Kreuzzüge (1096-1272) weckt, aber auch durch Slogans wie „muslimisches Blut ist billig″ und Bezugnahmen auf aktuelle Kriegsverbrechen wie den Abu-Ghuraib-Folterskandal, die zu Symbolen der Ungerechtigkeit und Aggression gegen Muslime wurden. Diese können Gefühle der Erniedrigung, Wut und des kollektiven Opferdaseins fördern und identitäts- und gemeinschaftskonstituierende Feindbilder stärken. Aufgrund des von Psychiatern wie James Gilligan und Terrorismusexperten wie Jessica Stern konstatierten Zusammenhanges zwischen Erniedrigung, Wut und Gewaltbereitschaft/Selbstzerstörung bzw. Terrorismus können sie, falls sie nicht mit gewaltfreien Lösungsvorschlägen, sondern mit dschihadistischen Gewaltlegitimationen kombiniert werden, militanten Aktionismus fördern.
In einigen dschihadistischen Publikationen, beispielsweise im IS-Propagandamagazin Dabiq, findet sich aber auch eine Rahmung des Konfliktes zwischen al-haqq und al-bātil als offensiver bewaffneter Kampf für die weltweite Etablierung einer islamischen Ordnung, der keinesfalls mit der „Befreiung″ muslimischer Länder ende. Vielmehr werde er fortbestehen bis ‘Īsā (Jesus) in der Endzeit den Masīḥ ad-Dajjāl (falscher Messias/Antichrist) töten und den Unglauben (kufr) endgültig zerstören werde. Hierbei werden Muslime nicht nur als Opfer, sondern auch als starke und heldenhafte Kämpfer dargestellt. Diese Rahmung wird mit Motiven der Sahāba (Gefährten des Propheten Muhammad) während der frühen islamischen Eroberungsfeldzüge und Bildern siegreicher Kämpfer aus dem Herrschaftsbereich des IS gestützt. Sie dient u. a. dem Ziel, Muslime zur Emigration (Hidschra) und zum bewaffneten Kampf zu mobilisieren.
Der Sicherheitsvertrag
Dschihadistische Rechtfertigungen der politischen Gewalt bleiben innerhalb der Gruppierungen von Salafisten und sogenannter gemäßigter Islamisten nicht unwidersprochen. Ein verbreitetes Gegenargument, das nicht primär eine Reaktion auf Dschihadisten darstellt, sondern an klassische Traditionen anknüpft, verweist auf einen meist als amān bezeichneten Sicherheitsvertrag, der Muslime an deutsches Recht binde. Diese Pflicht zur Gesetzestreue gelte selbst dann, so betont Abu Jibril, wenn Deutschland sich an einem Militäreinsatz in einem muslimischen Staat wie in Afghanistan beteilige. Das Konzept des amān wird u. a. abgeleitet aus Sure 9:6, „Und wenn einer der Götzendiener bei dir Schutz sucht, dann gewähre ihm Schutz, bis er Allahs Worte vernehmen kann; hierauf lasse ihn den Ort seiner Sicherheit (ma'mana) erreichen […].″ Dieses Konzept fand ursprünglich im Sinne eines Asylgesetzes für Nichtmuslime in islamischen Staaten Anwendung, diente aber auch als Grundlage für Verträge, die den Aufenthalt nichtmuslimischer Pilger und Händler im islamischen Herrschaftsbereich regelten. Darüber hinaus wurde das Konzept des amān auf zwischenstaatlicher Ebene zur Rechtfertigung von diplomatischen und ökonomischen Beziehungen und Staatsverträgen mit nicht islamischen Ländern herangezogen. Obwohl Sicherheitsversprechen nicht islamischer Staaten an Muslime ursprünglich nicht als amān, sondern als idhn (Erlaubnis) bezeichnet wurden, diente der amān auch als rechtliche Basis für den Aufenthalt muslimischer Händler und Abgesandter in nicht islamischen Ländern.
Das Konzept des amān kann als Bestandteil eines islamischen Narratives betrachtet werden, der ein friedliches Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen legitimiert und einfordert, ohne die Existenz eines ewigen Konfliktes zwischen Glauben und Unglauben grundsätzlich in Frage zu stellen. Vergleichbar mit dem Konzept der Schutzbefohlenen (ahl al-dhimma) werden Muslime als religiöse Minderheit gerahmt, die sich zwar dem Recht des Gastlandes unterordnet, deren primärer Bezugspunkt aber die Scharia bleibt. Dieses Narrativ fordert weder eine Akzeptanz des deutschen Rechtssystems als ein der Scharia überlegenes System noch die Aufgabe einer primär islamischen Identität, und er wird mit Rückbezügen auf die Primärquellen des Islam und einem klassischen islamrechtlichen Konzept gestützt, das Dschihadisten prinzipiell akzeptieren.
Deradikalisierung
Da Übereinstimmungen mit Glaubenssystemen, Werten, Narrativen und Rahmungen von Dschihadisten existieren, könnte dieses Narrativ bei dieser Zielgruppe und ihrem Umfeld Resonanz erzeugen und im Rahmen der Deradikalisierung als argumentative Ressource Wirkung entfalten, insbesondere wenn es von Salafisten und ehemaligen Dschihadisten propagiert wird. Für den Bereich der Prävention hingegen erscheint es ungeeignet, da u. a. stereotype Abgrenzungsrahmungen (boundary frames) und keine moralische Verurteilung politischer Gewalt vermittelt werden. Zudem findet keine kritische Überprüfung der Angemessenheit des Konzeptes des Sicherheitsvertrages für muslimische Bürger eines säkularen demokratischen Staates statt. Kommentare in dschihadistischen Publikationen deuten jedoch darauf hin, dass die Wirkungskraft einer sich einzig auf diesen Vertrag stützenden Argumentation begrenzt ist. Dschihadisten, die Angriffe auf Deutschland befürworten, bestreiten schlicht die für die Gültigkeit des amān essentielle Existenz von Sicherheit und Religionsfreiheit in Deutschland und konstatieren, europäische Staaten seien u. a. durch ihre Beteiligung am „Krieg gegen den Islam″ und die Prophetenbeleidigung in den Medien vertragsbrüchig geworden.
Für eine Deradikalisierung dieser Zielgruppe und ihres Umfeldes scheint daher auch eine breite, kritische Auseinandersetzung mit dschihadistischen Rahmungen der politischen und gesellschaftlichen Situation sowie eine von der Zielgruppe rezipier- und nachvollziehbare Infragestellung und Dekonstruktion dieser Deutungen, einschließlich der in sie eingebetteten Feindbilder, notwendig zu sein. Ansatzpunkte hierfür variieren je nach Akteur und Zielgruppe und können an dieser Stelle nur knapp angerissen werden. Islamische Prediger können dschihadistische Feindbilder in Frage stellen, indem sie klar zwischen dem Phänomen „Unglauben″ und der Person des Nichtmuslims differenzieren oder verdeutlichen, dass sich auch Andersgläubige gegen die Unterdrückung von Muslimen einsetzen. Journalisten und Politiker sollten Botschaften vermeiden, die suggerieren, Muslime würden aufgrund ihres Glaubens kriminalisiert und bekämpft. Hierzu gehören mediale Rahmungen terroristischer Ereignisse, die Muslime unter einen Generalverdacht stellen oder suggerieren, eine bestimmte Gesinnung („mutmaßlicher Islamist″) sei der Grund für die Verhaftung eines Terrorverdächtigen. Letztlich kann aber auch der Begriff „Salafismus-Bekämpfung″ den Eindruck erwecken, der Staat bekämpfe nicht verfassungsfeindliche Bestrebungen, sondern eine religiöse Glaubenslehre samt ihrer quietistischen Anhänger.
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