von Michael Kreutz
Die salafistische Propaganda kultiviert ein dichotomisches Weltbild, in dem den Muslimen die Rolle des kollektiven Opfers westlicher Expansionsgelüste zufällt. Die historischen Fakten, die dies untermauern sollen, werden jedoch arg strapaziert und sehr einseitig interpretiert. Die Realität ist sehr viel komplexer, als die salafistische Schwarz-Weiß-Malerei der Öffentlichkeit weismachen will.
Die Kreuzzüge und das muslimische Opferkollektiv
Zu den beliebtesten Topoi gehören die Kreuzzüge, die die Kulisse für die Vorstellung bilden, dass die gesamte islamische Welt von Marokko bis Indonesien ein einziges großes Opferkollektiv bildet, das sich den Angriffen christlich-abendländischer Mächte schutzlos ausgeliefert sieht.
Dabei wird mit dem Begriff der Kreuzritter durchaus großzügig umgegangen. Auch Muslime, die als Verräter an der islamischen Sache gelten, werden schnell mit diesem Begriff belegt. Das ISIS-Propagandajournal Dābiq, das dem dschihadistischen Spektrum des Salafismus angehört, spricht auf geradezu inflationäre Weise von Kreuzrittern, die quasi von überall her die Muslime bedrängen.
Das Narrativ von einem gesamtmuslimischen Trauma, ausgelöst durch die Kreuzzüge, machen sich auch viele selbsternannte Nahostexperten in Deutschland zu eigen. Tatsächlich hat dieses Narrativ mit den historischen Fakten wenig zu tun.
Die Kreuzzüge hat es natürlich gegeben, aber die meisten Opfer hatte die byzantinische Seite zu beklagen, vor allem während des vierten Kreuzzugs 1204. Für die Muslime des Mittelalters unterschieden sich die Kreuzzüge in militärischer Hinsicht nicht sonderlich von den Grenzstreitigkeiten mit Byzanz. Zudem standen die Kreuzzüge in muslimischer Wahrnehmung ganz im Schatten weitaus bedrohlicherer Ereignisse wie dem Vordringen der Fatimiden und Mongolen, sowie der Pest.
Daher nimmt es nicht wunder, dass die arabische Sprache bis zum 19. Jahrhundert noch nicht einmal ein Wort für „Kreuzzüge‟ hatte. Dieses wurde geschaffen, als eine Darstellung der Kreuzzüge aus dem Französischen ins Arabische übersetzt wurde. Im 20. Jahrhundert dann bildeten die Kreuzzüge das Deutungsmuster für den Imperialismus der Briten und Franzosen. Der Übersetzer war übrigens ein melkitischer Christ.
Das alles wird von der salafistischen Propaganda ausgeblendet, weil ihre Anwerbungsstrategie ganz darauf aus ist, die Vorstellung von einem Opferkollektiv zu beschwören. Deswegen werden auch solche Fakten unterschlagen, die sich mit der Opferrolle nicht vereinbaren lassen. Dazu gehört die Tatsache, dass es im Mittelalter auch von arabisch-muslimischer Seite Vorstöße auf die andere Seite des Mittelmeeres gegeben hat.
So fiel Sizilien im 9. Jahrhundert nach einer achtzigjährigen Periode wiederkehrender Angriffe muslimischer Araber und auch andere Teile Italiens erlitten Angst und Schrecken. Solche Eroberungen hat es auf allen Seiten gegeben, von katholisch-fränkischer Seite ebenso wie von orthodox-byzantinischer und arabisch-islamischer. Diese Konstellation in ein simples Täter-Opfer-Schema zu pressen, wird der historischen Komplexität nicht gerecht.
Die Erzählung von der guten Herrschaft Andalusiens
Ein weiterer Topos ist Andalusien, das für Salafisten gerne als Beleg für die wohltuende Wirkung muslimischer Herrschaft über Nichtmuslime herangezogen wird. Diese Vorstellung ist ebenfalls erst im 19. Jahrhundert entstanden, als europäische Gelehrte auf der Suche nach arabischen Handschriften auf eine Schrift des 16. Jahrhunderts stießen, das die islamische Herrschaft über Andalusien glorifizierte. Einmal ediert und übersetzt, fand die Schrift ihren Weg zurück in die muslimische Welt, wo sie mit einer Übersetzung ins Osmanische versehen weithin von muslimischen Literaten rezipiert wurde.
Das vermeintliche Trauma des europäischen Kolonialismus
Womit wir beim „europäischen‟ Kolonialismus wären. Die Bezeichnung „europäischer Kolonialismus‟ ist zwar nicht falsch, zumindest im arabisch-islamischen Kontext aber irreführend. Hier waren es fast ausschließlich Briten und Franzosen, die als Kolonialmächte auftraten – und die Osmanen. Letztere wurden im Zuge der aufkeimenden Nationalidee von säkularen arabischen Intellektuellen zunehmend als Besatzungsmacht empfunden.
In der Forschung weiß man seit längerem, wie sich das Türkenbild in der arabischen Literatur seit dem 19. Jahrhundert verschlechterte. Säkulare arabische Intellektuelle in dieser Zeit bewunderten den hohen zivilisatorischen Stand gerade Frankreichs und gaben die Schuld für den Zustand ihrer eigenen Gesellschaft den Türken (Osmanen). Dem türkischen Sultan warfen sie sogar vor, dass seiner Untätigkeit wegen das arabische Andalusien an die Kreuzritter verlorengegangen sei.
Die anti-türkische Einstellung teilten sie mit den Nationalbewegungen der christlichen Völker auf dem Gebiet des osmanischen Reiches, vor allem der Griechen und Serben. Die konkurrierenden territorialen Ansprüche der einzelnen Nationalbewegungen wiederum führten dazu, dass diese Unterstützung bei den Großmächten, vor allem Frankreich und England, aber auch Russland suchten.
Das salafistische Narrativ, demzufolge die islamische Welt eine Rechnung mit Europa zu begleichen habe, übersieht dies ebenso wie die Tatsache, dass die Osmanen gerade auf dem Balkan Aufstände brutal niederschlugen und die Religionsfreiheit einschränkten.
Auf arabischer Seite kam es erst mit dem Ende des 1. Weltkriegs und der Friedenskonferenz von Paris zum Aufstieg eines neues Narrativs, als arabische Nationalisten die Gleichheit mit den Türken beschworen, mit denen gemeinsam sie die unterdrückte Umma bildeten. Erst als die von der syrischen Nationalbewegung beanspruchte Region um Alexandretta von der türkischen Republik einverleibt wurde, entdeckte man in Damaskus die sog. Palästinafrage für sich, die nun zu einem Problem der arabischen Nation hochstilisiert wurde.
Der Hass auf Israel
Auch dies wird von der salafistischen Propaganda systematisch unterschlagen, die stattdessen den Mythos von der „palästinensischen Wunde‟ kultiviert, die das Ergebnis eines westlichen Dolchstoßes sei. Auf dem Titelbild einer antisemitischen Hetzschrift namens „Israel, der Dolch Amerikas‟, sieht man einen Dolch in den Umrissen Israels (einschließlich der Westbank), das von einer mit der amerikanischen Flagge behängten Hand in die arabische Welt gerammt wird.
Israel aber ist, anders als die salafistische Propaganda glauben machen möchte, keineswegs ein Projekt westlicher Mächte, sondern hat seine Anfänge in den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts, wie sie überall auf osmanischem Boden entstanden waren. Die heutige nationalstaatliche Ordnung ist das Ergebnis von Kriegen und Vertreibungen auf beiden Seiten des Mittelmeeres. Israel sticht in diesem Prozess nicht hervor, seine Existenz wird jedoch von den Salafisten ebenso wenig für legitim erachtet wie die heutige spanische Herrschaft über Andalusien.
Letztlich ist die salafistische Sichtweise eine ahistorische. Für orientierungslose Jugendliche, die sich radikalisieren, mag es reizvoll sein, sich als Teil einer Opfergemeinschaft zu fühlen, in der das individuelle Leiden absorbiert wird. Darin bestärken darf man sie jedoch nicht. Besser ist es, ihnen die Einsicht des bedeutenden syrischen Reformers Muḥammad Kurd ʿAlī (1876-1953) zu vermitteln, dass Zivilisationen erst im Austausch mit anderen Kulturen ihre Größe begründen.
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