von Nico Prucha
“Tomorrow belongs to those who can hear it coming.”
David Bowie
Der Dschihadismus im Internet ist ein Phänomen, das sich in den letzten fünfzehn Jahren massiv ausgebreitet hat. Vor allem seit den Terroranschlägen am 11. September 2001 hat sich der Dschihadismus online kontinuierlich und systematisch im Zeichen der verfügbaren technologischen Entwicklung entfaltet. Die Ideologie, die al-Qaida (AQ) ins Leben rief und seit den 1980er Jahren etabliert, erreichte 2014 mit der AQ-Splittergruppe „Islamischer Staat“ (IS) einen vorläufigen Zenit. Insbesondere der selbsternannte „Islamische Staat“ (IS) nutzt gezielt Social Media Sites, wie allen voran Twitter und Telegram, während AQ zeitgleich massiv an Unterstützung eingebüßt hat.
Kriegsführung im Internet: von al-Qaida zum Islamischen Staat
Es waren die ‚klassische‘ AQ und insbesondere die Gruppe um Yusuf al-Uyairi und Abd al-Aziz al-Muqrin in Saudi-Arabien, die über viele Jahre eine kohärente Präsenz in den virtuellen Welten aufgebaut und stets mit neuen Inhalten – primär Schriften und Videos – gefüllt haben. Trotz einiger Rückschläge und Versuche die Internet-Foren des Dschihads bzw. Webpräsenzen zu schließen, gelang es den Sympathisanten und Unterstützern entweder neue Foren zu erzeugen oder – was meistens der Fall ist – die alten Foren wiederherzustellen. Ironischerweise wird das modernste Mittel der Kommunikation genutzt, um gegen die Moderne zu kämpfen, wenn auch mit einer armseligen Theologie (Rüdiger Lohlker). Eigene Medien-Bataillone und quasi-offizielle Medienabteilungen werden betrieben, die Videos, Bekennerschreiben, Schriften u.dgl. mit entsprechenden Logos und Namen professionell verarbeitet und zum einfachen digitalen Konsumieren im Internet sowie zum Herunterladen angeboten. Diese frei verfügbaren Propagandamaterialien bestehen aus Schriften und Videos und werden von Sympathisanten und potentiellen Rekruten des Dschihads multipliziert, indem einzelne Daten (insbesondere Videos) durch persönliches Engagement weiter im Internet verbreitet werden. Die teilweise sehr professionellen Videos sind unzertrennlich mit dem schriftlichen online Corpus des Dschihads vermengt und bieten den Konsumenten ein geschlossenes und geordnetes Wertesystem und Lebensmodell, das es nachzustellen und nachzueifern gilt.
Der Corpus radikal-extremistischer Schriften und vor allem der dazugehörigen Videos ist sehr umfangreich und wird durch beständige Veröffentlichungen diverser Mediengruppen des Dschihad täglich erweitert. Auch das sogenannte Web 2.0, die new und social Media, wird konsequent von Sympathisanten und (virtuellen) Führern des Dschihads systematisch und professionell genutzt, um auf möglichst allen Ebenen des gegenwärtigen Internets mit ideologischen Schriften und teilweise extrem graphischen Videos präsent zu sein. Das ermöglicht dem IS eine Interaktion mit potentiellen Befürwortern und dient neben der aktiven Rekrutierung vor allem der Verbreitung dieser Materialien durch indoktrinierte individuelle Sympathisanten mit dem Ziel, möglichst viele Adressaten zu erreichen.
Die Nutzung des Internets durch AQ und ihre verwandten Gruppen war vor allem durch die effektive Verwendung von Online-Foren geprägt. Die ideologische Grundlage und die da’wa Arbeit durch AQ ist der Nährboden, aus dem der IS in seiner Ausprägung hervorgeht. Der IS hat AQ im Internet isoliert und bis auf ein oder zwei Internet Foren alle ‚klassischen‘ AQ Dschihad Foren für sich reklamiert. Drastischer – und somit revolutionärer – ist das Momentum, das der IS vor allem in Syrien und im Irak erreichen konnte. Hier wurde der ultimative Traum verwirklicht, ein zusammenhängendes „Staatsgebilde“ vorstellen zu können und die handlungsgebende und identitätsstiftende Ideologie zu implementieren. Der IS verkörpert somit die ultimative AQ-Theorie: (i) Ein Staat für Muslime auf Grundlage der extremistischen Interpretation der Gesetze und Normen der Scharia in Verbindung mit (ii) Medienabteilungen, die diese Form der aktiven Umsetzung ideologischer Parameter in jeder Provinz (wilaya) des ausgerufenen „Kalifats“ vor allem audio-visuell dokumentieren. Das ist letztendlich die Fusion der virtuellen Räume mit echtem Territorium.
Der IS hat in seiner Existenz innerhalb Syriens und als Fortsatz der Vorgängerorganisation im Irak in kurzer Zeit das erreicht, wofür das weltweit operierende Terrornetzwerk AQ seit Jahrzehnten zu kämpfen vorgibt: durch den bewaffneten Kampf die Macht lokaler Regime zu brechen und dadurch den „befreiten“ Sunniten einen „islamischen Staat“ zu ermöglichen, der seit der Aufgabe des Kalifats 1924 von Islamisten und militanten Dschihadisten glorifiziert und idealisiert wird.
Wirken der Propaganda
Deutschland – aber auch andere (europäische) Staaten – wird in diesen Beiträgen immer wieder als legitimes Ziel angeführt. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Beteiligung an der Afghanistan-Mission und dem Syrien-Einsatz, und als Bündnispartner der Amerikaner. Deutsch wurde ein Teil der Online-Dschihad-Kultur und wird aktiv von deutschen, österreichischen und schweizerischen Staatsbürgern, die sich den Mujahidin in Syrien, im Irak unter der Führung des IS bzw. AQ angeschlossen haben, propagandistisch genutzt. Sprachliche Vielfalt ist Teil der professionellen Medienabteilungen, die im letzten Jahrzehnt zunehmend auch in Deutschland Sympathisanten erreichte und aktiv ihre Deutung oder Interpretation des „Islams“ als absolute Hoheit verbreitet. Mit der Ausrufung des Kalifats durch Abu Bakr al-Baghdadi, dem Anführer des IS, Ende Juni 2014 ist der Zulauf an „ausländischen Kämpfern“ sogenannten Foreign Fighters (FF) zum IS ungebrochen. Die überwiegende Mehrheit der Propaganda richtet sich an ein arabischsprachiges Zielpublikum. Dementsprechend sind es vor allem FF aus dem arabischen Raum, die sich dem Gedankengut des IS zuwenden und sich dem „Staat“ anschließen. Nicht-arabische FF haben einen immensen Propagandawert. Die sprachliche Divergenz der nicht-arabischen FF wird vom IS medial genutzt. Während die überwiegende Mehrheit der IS Propagandavideos und Schriften arabisch ist und sich primär an ein divergentes arabisches Zielpublikum richtet, werden nicht-arabische FF immer wieder in speziellen Videos dargestellt. Dabei richten sich die meist aus Europa oder Russland stammenden nicht-arabischen FF in ihrer jeweiligen Sprache an ihre Heimatgemeinden und erreichen somit Individuen und Milieus, die zuvor nicht in dieser Form angesprochen werden konnten.
Der IS ist vorrangig eine arabische Bewegung mit dem Anspruch einen „Staat“ zu errichten und dessen Unabhängigkeit militärisch abzusichern. Insbesondere nicht-arabische FF werden, wenn sie nicht als Selbstmordattentäter, auf dem Schlachtfeld oder für den Aufbau von Infrastruktur eingesetzt werden, strategisch und taktisch vor allem für die Medienarbeit des Dschihads einbezogen – wohlwissend, dass nicht-arabischkundige Analysten und die westlichen Medien solche Videos und Inhalte entsprechend aufnehmen und Aufmerksamkeit erzeugen. Der IS verfügt mit seinen FF aus über 100 Staaten über „Auslandskorrespondenten“, die aus dem vermeintlich tiefsten Inneren des IS ihre Botschaften in einer sprachlichen Vielfalt über das Internet projizieren und ein riesiges Publikum erreichen. In der Regel werden ihre Beiträge und Videos mit arabischen und englischen Untertiteln versehen, um eine maximale Aufmerksamkeitsspanne zu erzielen. Spezielle Videos des IS werden als Projektionsfläche und Plattform, auf der britische, deutsche, österreichische, französische, russische usw. Angehörige des IS ihre individuelle Motivation und Beweggründe erklären..
Die Bedeutung sprachlicher Diversifizierung in den Kanälen des Internets
Nicht nur aber gerade durch das Internet gelingt es den Dschihadisten ein breites Spektrum an Rezipienten zu erreichen und religiöse Alltagsbegriffe zu unterwandern. Hierbei gibt es vor allem zwei Phänomene, die bei der (re-)Distribution und der Vermittlung AQ’s Ideologie sowie deren pragmatischen Umsetzung durch den IS und seines Milieus auf Deutsch aktiv in Erscheinung treten:
- Deutsche Staatsbürger bzw. aus Deutschland stammende Muslime, die sich als an der Front stehende und betende „Soldaten Gottes“ (jund allah) definieren und als solche die ultimative Erfüllung der propagierten religiösen Verpflichtungen erfüllen. Somit werden sie teilweise aktiver Teil der online Medien des Dschihads, die sie an die Front riefen und erfüllen neben einer kämpfenden Rolle ebenfalls eine Funktion als beispielsweise Prediger. Dabei berufen sie sich auf historische Vorbilder sowie die frühen Muslime zu Zeiten des Krieges unter der Führung des Propheten Muhammads. Sie sind Mujahidin, die physisch die Auswanderung (hijra) in die Schauplätze des Dschihads „geschafft“ haben und somit in der Lage sind, ihre Geisteshaltung ausleben. Sie verstehen sich als die „wahren Muslime“ und rufen ihre Sympathisanten mit der Waffe in der Hand zum Dschihad in ihren Heimatländern auf, sollten sie nicht in der Lage sein, diese zu verlassen.
- Jedoch hat sich die Rolle der qa’idin in den letzten Jahren in der Wahrnehmung der Mujahidin zum Positiven gewandelt, denn die Sympathisanten sind essentieller Teil des medialen Dschihads geworden. Pro-militante Salafisten, die beispielsweise in Deutschland leben, befinden sich anders als die Mujahidin nach wie vor der potentiellen Sünde und Erniedrigung ausgesetzt, wovon sich die ausgewanderten Kämpfer befreit haben: In westlichen Gesellschaften „lebten wir in Erniedrigung, obwohl wir ashab al-haqq (Gefährten der Wahrheit) sind. Unsere Herzen riefen nach Heilung,“ so etwa Yassin Chouka, ein Dschihadist aus Bonn der im pakistanischen Wasiristan Videobotschaften produzierte.
- Die Mujahidin agieren durch die von ihnen verwendeten Medien als Mittler, die auf lokale Prediger des pro-militanten salafistischen Spektrums in Deutschland, Österreich und der Schweiz wirken und teilweise unterstützend reagieren – wie im Fall der Botschaft „Tod der Pro-NRW“. Kämpfende Mujahidin und die als unbewaffnete Missionare auftretenden Salafisten propagieren weltweit gemeinsame Elemente der salafistisch-dschihadistischen Geisteshaltung. Während deutschsprachige Dschihadisten in ihren Video-Predigen vorgegeben, sich im globalen Dschihad zu befinden und ihrem Publikum im Internet die Notwendigkeit des bewaffneten Widerstandes gegen die Abtrünnigen und Ungläubigen (kuffar) verkünden, werden diese vorgelebten Rollenbilder von der in Deutschland verbliebenen Prediger-Gemeinschaft entsprechend propagiert, mit der Aufforderung des Nacheiferns. Der Mujahid ist das ultimative Vorbild für die Salafisten in den westlichen Gesellschaften, wo er ebenfalls Feinden gegenübersteht. Es gilt dem Mujahid mental nachzueifern, so wie dieser in seiner Umgebung der vermeintlichen "Reinheit" (physisch durch die Hijra, psychisch durch Rituale) den Propheten und die ersten Muslime nachstellt bzw. imitiert.
Missionarisches Wirken im Internet
Für die Medienarbeit des globalen Dschihads hat sich das Internet in den letzten Jahren als das breitenwirksamste Medium der Dschihadis etabliert, um sich weltweit Gehör zu verschaffen, Interessenten und Sympathisanten zu erreichen, Rekruten anzuwerben und um ihre Ideologie, ihr Know-how und ihre Propaganda in alle Welt zu exportieren.
Der Kampf um die „hearts and minds“ ist ein Kampf um die Hegemonie der Interpretation und Anwendung religiöser Skripten. Es geht darum die Vorherrschaft zu definieren, zu definieren, was es bedeutet ein „wahrer Sunnit“ zu sein, und um die Autorität der saudischen, ägyptischen und sonstigen islamischen Gelehrten auszuhebeln. Dabei ist das Internet von strategischer Bedeutung, wo sich derzeit insbesondere der IS einer reichhaltigen, meist schriftlichen Ideologie von AQ bedient, und diese innerhalb in dem vom IS kontrollierten Territorium anwendet. Damit projiziert der IS eine vermeintliche Legitimität, die auf redundanten Interpretationen religiöser Skripten beruht, aber auch ein geschlossenes Weltbild bietet, das äußerst kohärent ist.
Die ideologische Kohärenz, die schlüssige Vermittlung ihrer Botschaften, Werte, und „IS-Staatsideologie“ wird in technisch robusten und widerstandsfähigen Netzwerken im Internet vermarktet und ununterbrochen in Social Media Kanälen ausgestrahlt. Die Verzahnung und besonders die kurzen Intervalle, in denen der IS durch seine Führungsebene sowie durch die Kriegs- und Medien-Minister mit „offiziellen“ Pressesendungen und Statements auf politische Entscheidungen westlicher und arabischer Staaten und des Iran reagiert, tragen zu dem Gesamtbild bei. Die professionelle und gut organisierte Handhabung von blutigen und „state-building“ Propagandafilmen für ein globales Publikum, verbunden mit dem Anspruch, die einzig wahre sunnitische Vertretung zu sein, wird den IS weiterhin als Faktor im Irak und in Syrien und vor allem aber auch als weltweite Gefahr erhalten.
Die Taktik des IS ist bisher aufgegangen. Nach der gezielten Veröffentlichung englischsprachiger Filme mit arabischen Untertiteln, die die Hinrichtung amerikanischer und britischer Journalisten sowie Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen Mitte 2014 zeigten, hat der Westen schließlich Luftangriffe initiiert. Somit kämpft der IS in einer apokalyptischen Selbstwahrnehmung als „Vertreter Gottes“ gegen verschiedene lokale und internationale Feinde, einschließlich den schiitischen Iran. Die gezielte und taktische Nutzung der Sozialen Medien wird voraussichtlich weiter zunehmen und somit zur Legitimierung des IS und dessen Attraktivität für Sympathisanten in der ganzen Welt weiter beitragen.
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