von Götz Nordbruch
„Darf ich als Muslim wählen?“, „Ist Augenbrauenzupfen halal?“, „Dürfen Musliminnen Halloween feiern?“ Antworten auf diese Fragen suchen junge Musliminnen und Muslime immer seltener bei ihren Eltern und Koranlehrern. Einfacher – und lebensweltnäher – ist die Suche bei „Sheikh Google“. Gerade hier dominieren allerdings oft salafistische Stimmen die Debatten und prägen somit das Religionsverständnis vieler Jugendlicher. Umso wichtiger ist es, religiöse Fragen auch im Unterricht aufzugreifen und damit alternative Foren für eine Auseinandersetzung mit Werten, Normen und Traditionen anzubieten. Dabei geht es nicht um „Religionsunterricht“, sondern um Gespräche über Themen, die Jugendliche im Alltag beschäftigen – und die für alle Jugendlichen unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit relevant sind. In der Präventionsarbeit haben sich verschiedene Ansätze bewährt, religiöse Themen in den Unterricht zu integrieren. Sie unterscheiden sich zum Teil deutlich in der Herangehensweise und Kontextualisierung. Außer in interreligiösen Zugängen werden religiöse Fragen auch in politisch-bildnerischen Ansätzen aufgegriffen.
Die Auseinandersetzung mit religiösen Interessen und Bedürfnissen spielt nicht allein im bekenntnisorientierten Unterricht in muslimischen Lerngruppen eine Rolle. Auch in religiös und kulturell heterogenen Klassen und unabhängig vom religiösen Fachunterricht und Alter bietet sich das Gespräch über religiöse Fragen und Perspektiven an, um Reflexionsprozesse über religiöse Lehren, Werte und Praktiken anzustoßen und damit rigiden und manichäischen religiösen Orientierungen vorzubeugen. Anders als im bekenntnisorientierten Religionsunterricht geht es hier nicht um die Vermittlung religiöser Inhalte. Vielmehr geht es um politische Bildung im weiteren Sinne: Es werden religiöse Fragen, die sich muslimischen Jugendlichen im Alltag stellen, die aber zugleich auch für nichtmuslimische Jugendliche relevant sind und sich mit allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Themen verknüpfen lassen, aufgegriffen.
Im Folgenden werden drei Ansätze vorgestellt, die in den vergangenen Jahren entwickelt und erprobt wurden. Sie stehen exemplarisch für unterschiedliche Möglichkeiten, religiöse Themen jenseits des Religionsunterrichts anzusprechen.
„Maxime Wedding“ – Das Gemeinsame aufzeigen
Der Ansatz, der im Projekt Maxime Wedding des Violence Prevention Network verfolgt wurde, setzt auf interreligiöse und interkulturelle Zugänge zu religiösen Themen im Ethik- und Gemeinschaftsunterricht. Die Workshops, die von praktizierenden Muslimen, Christen und Juden durchgeführt werden, behandeln u.a. die Glaubensgrundlagen und religiösen Rituale der monotheistischen Religionen und machen „emphatisch das Gemeinsame und alle Menschen Verbindende“ sichtbar. Dabei werden explizit auch Konflikte und religiös begründete Ressentiments angesprochen, wobei die Trainer-Tandems mit ihren unterschiedlichen religiösen Hintergründen als „authentische Vorbilder“ für eine interreligiöse Verständigung auftreten. Gerade mit Blick auf Konflikte in Schulklassen oder Jugendgruppen, die sich an religiösen oder konfessionellen Unterschieden festmachen – und die durch den Israel-Palästina-Konflikt oder den Bürgerkrieg in Syrien und Irak bestärkt werden – ermöglicht es dieser Ansatz, die Normalität religiöser Vielfalt herauszustellen und konstruktive Umgangsformen mit religiösen Unterschieden aufzuzeigen.
Ufuq.de: „Wie wollen wir leben?“
Religiöse Fragen sind auch Ausgangspunkt der Workshops, die vom Berliner Verein ufuq.de in Schulen und Jugendeinrichtungen angeboten werden. Anlass sind dabei nicht selten bestehende Spannungen zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, aber auch ein allgemeines Interesse am Islam und religiösen Alltag, das von Jugendlichen formuliert wird. Religiöse Fragen und Erfahrungen der muslimischen Schülerinnen und Schüler bilden hier einen lebensweltbezogenen Einstieg in politisch-bildnerische Gespräche, bei denen das Verhältnis von Islam und Demokratie, Islam und Gewalt, innerislamische Vielfalt, aber auch Erfahrungen mit antimuslimischen Ressentiments und Alltagsrassismus im Mittelpunkt stehen. Gleichwohl geht es in den Workshops, die von jeweils zwei (in der Regel muslimischen) Teamern moderiert werden, nicht darum, theologische Antworten im Sinne eines vermeintlich „richtigen“ oder „guten“ Religionsverständnisses zu geben. Religiöse Fragen dienen vielmehr als Anstoß für Gespräche über die Hintergründe von Werten, Ritualen und Normen, bei denen ausdrücklich auch nicht religiöse Perspektiven (zum Beispiel zu den Themen Gerechtigkeit, Gleichheit oder Freiheit) sichtbar werden. Mit der Leitfrage „Wie wollen wir leben?“ werden religiöse Themen in allgemein ethische und gesellschaftliche Fragen übersetzt, die letztlich für alle Schülerinnen und Schüler – unabhängig von Herkunft oder Religionszugehörigkeit – von Bedeutung sind. Dabei kann es um demokratische Werte gehen oder um das Problem der Ausgrenzung und Abwertung „anderer“. Ziel ist es, ein Bewusstsein für unterschiedliche religiöse und nicht religiöse Zugänge zu Werten, Glauben und Identität zu fördern und die Handlungskompetenzen im Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden zu stärken.
KIGA Berlin: „ZusammenDenken“
Wichtige Erfahrungen mit dem Umgang mit religiösen Themen wurden auch in Projekten der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA) für die Sekundarstufen I und II gesammelt. Hier bilden Erfahrungen von Musliminnen und Muslimen in Deutschland den Ausgangspunkt der inhaltlichen Arbeit. Trotz einer solchen Ausrichtung an „Klassenverbänden mit mehrheitlich muslimisch sozialisierten Jugendlichen“ betonen die Initiatoren die Relevanz auch für nichtmuslimische Schüler. So umfasst das Konzept der auf ein Jahr angelegten Seminarreihe für die Sekundarstufe I insgesamt fünf Module, die in jeweils vier bis fünf Seminaren behandelt werden. Die Module konzentrieren sich auf die Themen „Muslim-Sein in der deutschen Migrationsgesellschaft“, „Moscheebaukonflikte und antimuslimischer Rassismus“, „Mediale Darstellungen von Islam und Muslim/-innen“, „Jüdisches Leben und Antisemitismus heute“ und „Gerechtigkeit im Kontext von Geschlecht und sexueller Orientierung“. Um die Themen Identität, Zugehörigkeit und gesellschaftliche Vielfalt geht es auch in den Projekttagen, die für die Sekundarstufe II angeboten werden. Mit der Breite dieses Themenspektrums verbinden die Initiatoren das Ziel, die Schülerinnen und Schüler „in ihren kritischen Diskurskompetenzen zu stärken, so dass sie in einer möglichen Konfrontation mit islamistischem Denken und Positionen diese für sich als nicht relevant erachten.“ Neben der Intensität der inhaltlichen Auseinandersetzung zeichnet sich das Projekt vor allem auch durch die Einbindung von „Peer-educators“ und von externen Expertinnen und Experten aus. Ähnlich wie in anderen Peer-to-peer-Ansätzen wird auch hier auf eine erleichterte Ansprache der Schülerinnen und Schüler gesetzt, die sich in den Biografien und Erfahrungen der peers wiedererkennen und Anknüpfungspunkte entdecken können. Die Einladung von Expertinnen und Experten u.a. der Jungen Islam Konferenz oder des Mediendienstes Integration bietet darüberhinaus die Möglichkeit, konkrete Handlungsoptionen im Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt aufzuzeigen.
Ergänzend zu diesen unterrichtspraktischen Ansätzen wurden in den vergangenen Jahren Unterrichtsmaterialien entwickelt, die eine Auseinandersetzung mit präventionsrelevanten Themen erleichtern sollen (Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg/ufuq.de 2014, Programm Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes 2014, Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage 2014, Bundeszentrale für politische Bildung 2012). Auch hier wird die Breite des Themenspektrums sichtbar. Neben Fragen zum religiösen Selbstverständnis und zum Umgang mit religiösen Lehren und Traditionen werden zum Beispiel auch Geschlechterrollen und das Verhältnis von Islam und Demokratie bearbeitet. Gemeinsam ist diesen Materialien zumeist eine Ausrichtung an Jugendlichen ab 14 Jahren. Erfahrungen aus der Bildungsarbeit verweisen zugleich auf einen wachsenden Bedarf an Unterrichtsmaterialien für jüngere Altersgruppen, mit denen sich Reflexionen über religiöse Selbstverständnisse und Konflikte in pluralistischen Lerngruppen anregen lassen.
Hier werden die Überschneidungen deutlich, die sich zwischen präventiven Ansätzen zu religiös begründeten Extremismen und Ansätzen der Diversity-Pädagogik ergeben. Zielgruppe sind hier nicht vorrangig junge Musliminnen und Muslime oder Migrantinnen und Migranten, sondern alle Jugendliche unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit. Im Mittelpunkt steht dabei nicht die Dekonstruktion von demokratie- und freiheitsfeindlichen Einstellungen, sondern ein Empowerment von Jugendlichen im Umgang mit kulturellen und religiösen Unterschieden. Die Auseinandersetzung mit und Anerkennung von unterschiedlichen Formen von Religiosität spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Wahrnehmung unterschiedlicher Identitätskonstruktionen und biographischer Erfahrungen.
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