von Dietmar Molthagen
Im vergangenen Jahr verloren in den westlichen Ländern so viele Menschen durch Terroranschläge islamistischer Extremisten ihr Leben wie seit dem Jahr 2001 mit dem schicksalsschweren 11. September nicht mehr. Und die Anschläge sind erneut nah an Deutschland herangerückt: Gleich zweimal wurden tödliche Anschläge in Paris verübt, Brüssel ist zu einem Hotspot des islamistischen Extremismus geworden und der vereitelte mutmaßliche Anschlag auf ein Radrennen im Raum Frankfurt hat einmal mehr die Terrorgefahr auch hierzulande verdeutlicht. Nach dieser Lesart ist der islamistische Extremismus also eine reale Bedrohung und stellt das friedliche Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft in Frage – aber nicht nur aufgrund von Anschlagsgefahren, sondern vor allem weil sich islamistischer Extremismus und Islamfeindlichkeit gegenseitig zu gefährlichen, illiberalen Dynamiken hochschaukeln. Dieser Beitrag führt kurz in dieses Wechselspiel ein, das die offene Gesellschaft in die Zange nimmt und benennt Handlungsempfehlungen für verschiedene Akteursgruppen in Deutschland mit dem Ziel, das Fundament unserer offenen, pluralen Gesellschaftsordnung zu bewahren und zu stärken.
Die Angst vor einem Anschlag ist angesichts der Nachrichtenlage verständlicherweise in der Gesellschaft vorhanden. Zuletzt vermischte sie sich zudem mit Ängsten angesichts der Einwanderung von Geflüchteten, wie die intensive, teils schrille öffentliche Debatte um die Übergriffe gegenüber Frauen in Köln und an anderen Orten in der Silvesternacht gezeigt haben. Das nach den Übergriffen ein Kommentator im Berliner Tagesspiegel schrieb: „Es geht um den Islam, nicht um Flüchtlinge“ zeigt diese wenig hilfreiche Vermischung verschiedener Fragen. Nicht jeder Einwanderer aus einem muslimischen Land ist gläubiger Muslim und wer den islamischen Glauben ernst nimmt, betrinkt sich nicht.
Die Hysterie wächst
Dass nach der Silvesternacht auch in Regionen, in denen kaum geflüchtete Menschen untergebracht worden sind, Pfeffersprays ausverkauft sind, sich allein in Berlin die Anzahl der Anträge auf Erteilung des kleinen Waffenscheins in wenigen Wochen vervierfacht hat und sich in mehrern deutschen Städten Bürgerwehren gegründet haben, sind keine guten Signale für ein gelingendes Zusammenleben in Vielfalt.
So war 2015 auch das Jahr, in dem Moscheen, vor allem aber Flüchtlingsunterkünfte bundesweit das Ziel von Anschlägen wurden – fast 500 Anschläge zählte das Bundesinnenministerium auf Flüchtlingsunterkünfte bis Anfang Oktober. In Verbindung mit dem Wissen, dass knapp 18 Prozent der Bevölkerung islamfeindliche Einstellungen aufweisen1, ist davon auszugehen, dass bei vielen Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte Islam- und Fremdenfeindlichkeit eine gewaltsame Mischung eingehen.
Islamfeindlichkeit und Radikalisierung
Islamistischer Extremismus und Islamfeindlichkeit bedrohen also die offene Gesellschaft. Sie sind nicht direkt miteinander verbunden, aber beide Phänomene beeinflussen einander. Radikalisierte Muslime geben regelmäßig an, dass Triebfedern ihrer Radikalisierung das Gefühl von Ablehnung gegen Muslime in Deutschland und reale Diskriminierungserfahrungen gewesen seien. Berichte über islamistischen Extremismus, brutale Gewalttaten von Kämpfern des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS) oder Anschlägen wie im vergangenen November in Paris können die individuelle Entwicklung islamfeindlicher Stereotype fördern. Für beide Herausforderungen braucht es also dringend Strategien des Umgangs mit ihnen – politisch, sicherheitstechnisch, gesellschaftlich und diskursiv. Um die Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit voran zu bringen und an der Entwicklung von Handlungsstrategien beiden Herausforderungen gegenüber zu entwickeln, hat die Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2015 einen Kreis von 35 Expert/innen aus Politik, Sicherheitsbehörden, muslimischen Organisationen, der Wissenschaft sowie der Zivilgesellschaft zusammengerufen. Unter der Leitung von Berlins langjährigem Innensenator Dr. Ehrhart Körting und Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney wurden Handlungsempfehlungen erarbeitet, die im November publiziert und der Bundesregierung übergeben worden sind. Vorgeschlagen wurde von dem Expertengremium unter anderem:
Was tun? Einige Empfehlungen
Die rechtliche Gleichstellung muslimischer Gemeinschaften zu anderen Religionsgemeinschaften muss erreicht werden. Dies bedeutet Aufgaben sowohl für muslimische Organisationen als auch für Gesetzgeber und Verwaltung. Eine dauerhafte Ungleichbehandlung der größten religiösen Minderheit ist nicht förderlich für den gesellschaftlichen Frieden. Umgekehrt würde die juristische Anerkennung islamischer Gemeinschaften mittelfristig zu einer Normalisierung des pluralen Miteinanders in der deutschen Gesellschaft beitragen.
Muslimische Organisationen sind Schlüsselakteure in der Präventionsarbeit gegenüber islamistischem Extremismus. Deswegen brauchen sie Zugänge zu entsprechenden staatlichen Förderprogrammen (wie etwa „Demokratie leben!“ im Bundesfamilienministerium). Dies würde zur dringend benötigten Professionalisierung der bislang nahezu ausschließlich ehrenamtlichen Arbeit beitragen. Intern müssen muslimische Organisationen den Aufbau tragfähiger Strukturen voran bringen, die eine Repräsentanz möglichst vieler Muslime gewährleisten und demokratische Prinzipien in den Verbänden verankern. Nur so können sie als legitimer und legitimierter Verhandlungspartner für Politik und Verwaltung auftreten.
Eine weitere Aufgabe der muslimischen Organisationen selbst ist der Aufbau einer innerislamischen Gegenargumentation zum islamistischen Extremismus. Gerade die jungen Institute für islamische Theologie an deutschen Hochschulen können dabei eine herausragend wichtige Rolle einnehmen. Zudem stammen nach wie vor viele deutschsprachige muslimische Angebote von Salafisten oder anderen radikalen Gruppierungen. Sowohl im Internet als auch in Moscheen braucht es für in Deutschland sozialisierte Jugendliche deutschsprachige Angebote eines nicht-radikalen Islam.
Es gibt nicht „den Islam“ in Deutschland und kein Gegenüber von „den Muslimen“ und „den Deutschen“. Statt pauschaler Urteile braucht es eine Anerkennung der innerislamischen Vielfalt sowie mehr Sensibilität für Islamfeindlichkeit. Da viele Muslime über Diskriminierungserfahrungen berichten, sollten staatliche Institutionen wie Schulen oder Kommunalverwaltungen für die Sichtweise der Betroffenen sensibilisiert sein.
Ein unmittelbarer Gesetzgebungsbedarf zur Verhinderung islamistischer Terroranschläge wurde nicht gesehen. Die Hoffnung, durch schärfere Sicherheitsgesetze Gewalt verhindern zu können, teilt das Expertengremium nicht. Dennoch müssen Strafverfolgungsbehörden kompetent und ausgestattet sein, um gegen islamistisch-extremistische Personen und Gruppierungen ermitteln zu können. Zudem wird vorgeschlagen, analog zu antisemitischen Straftaten auch islamfeindliche Taten statistisch zu erfassen.
Es gibt erfolgreiche Ansätze der Deradikalisierungsarbeit, die ausgebaut werden könnten. Dafür braucht es jedoch mehr Fördermöglichkeiten – nicht zuletzt für verurteilte Straftäter in Justizvollzugsanstalten. Da nicht alle, aber viele islamistische Extremisten Jugendliche sind, braucht es entsprechend fachkundige Angebote der Jugendsozialarbeit. Angesichts der derzeit hohen Flüchtlingszahlen sollte die Präventionsarbeit auch und gerade in Flüchtlingsunterkünften stattfinden und generell in der Flüchtlingshilfe mitbedacht werden. Salafistische Gruppen versuchen bereits, in Flüchtlingsunterkünften neue Anhänger anzuwerben und es ist wahrscheinlich, dass einige Geflüchtete einer radikalen Interpretation des Islams offen gegenüber stehen. Umso wichtiger sind entsprechende Angebote.
Ab in die Praxis!
Soweit einige Vorschläge des Expertengremiums der Friedrich-Ebert-Stiftung, die gegenwärtig an verschiedenen Stellen der Bundes- und Landespolitik diskutiert werden. Im aktuellen Diskurs über die starke Einwanderung von Geflüchteten nach Deutschland ist immer wieder davon die Rede, dass Integration eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ sei. Dies ist sicherlich richtig und muss dazu führen, dass alle Institutionen, Organisationen und Netzwerke der Gesellschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten für Diskriminierungsfreiheit, für die Zurückweisung von Rechtsextremismus, islamistischem Extremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit eintreten und offen sind für den gleichberechtigten Austausch mit anderen Sichtweisen, Interessen und kulturellen, religiösen oder lebensweltlichen Prägungen. Mit diesem Ziel wurden die Handlungsempfehlungen entwickelt – sie haben einen Praxistext verdient!
- Andreas Zick, Anna Klein: Fragile Mitte, unsichere Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. Bonn 2014, S. 73. ↩
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