von Philipp Holtmann
Tertium datur, heißt hier „es gibt einen dritten Weg.“ Damit meinen die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der östereichische Schriftsteller Robert Menasse in ihrem kürzlich in Le Monde diplomatique erschienenen Artikel den Weg Europas aus der Flüchtlingskrise. Der vorgeschlagene Ansatz könnte heftige Debatten auslösen, wenn weder Repression noch laissez-faire mehr funktionieren, Wohlstand und Sattheit endgültig der Panik weichen. Und warum sollten wir den Rechtspopulisten die Initiative bei der Entwicklung neuer gesellschaftlicher Konzepte überlassen?? In ihrem Artikel fordern Guérot und Menasse: Nicht Grenzen zu, nicht Grenzen auf, sondern Grenzen weg und her mit den Menschen! Flüchtlinge sollen im Sinne Immanuel Kants als Weltgäste willkommen geheißen werden, und sie sollen bei uns, in den Gastländern ihre eigenen Städte nachbauen. Soziologisch gesehen führten viele sich frei entwickelnde Parallelgesellschaften zu einem produktiveren Miteinander als Stigmatisierung, Integrationskurse und nach drei Jahren mögliche Abschiebung, so die Autoren.
Segregation wird von Guérot und Menasse als „Form der Toleranz unter dem Dach des gleichen Rechtes“ verstanden, was sie dem mechanistischen Aufpfropfen einer Leitkultur vorziehen. Zudem, so das Leitideal der Autoren, haben wir als Weltbürger auf einem gemeinsamen Planeten keinerlei Recht uns in Europa abzugrenzen, oder bestimmte Gebiete zu verschließen, während andere durch von uns mitverursachte Konflikte leiden müssen, ihre Heimat zur unbewohnbaren Wüsten oder gar vom Meer verschluckt wird. Stattdessen fordern sie Migration und friedliche Kolonialisierung auf dem „eigenen“ Boden zur Vereinigung aller Nationen und Völker!
Dieser Denkansatz muss erst einmal in seiner abschreckenden Tiefenwirkung auf unseren Kulturkreis verstanden werden. Das erklärt, warum viele ihn als „nette Idee“ lächerlich machen, scharf kritisieren und zynisch abtun werden. Die Idee der Besiedlung fremden Raumes und des Nachbaus der eigenen Kultur in fremden Landen erweckt im europäischen Unterbewusstsein sofort Bilder der Schuld – und die sind durchaus unerwünscht. Auswanderung und Besiedlung hängen mit Tod, Verdrängung, Ausbeutung und Dezimierung zusammen – einmal im Sinne des Opfermythos der eigenen Vertreibung, wie die der Protestanten, die gen Amerika zogen, dann aber vor allem im Sinne unseres Missbrauchs der Kolonialisierten als Kolonialherren. Durchaus präsent ist auch das Faktum, dass der Kolonialismus für die westliche Zivilisation künstliche staatliche und wirtschaftliche Strukturen und Abhängigkeiten geschaffen hat, die Millionen von Menschenleben gekostet haben und kosten, bis heute andauern und sehr profitabel sind! Insofern stößt der westliche Geist beim Gedankenexperiment einer friedlichen Kolonialisierung der eigenen Lande an Grenzen – dieser Ansatz ist für uns in Anbetracht der eigenen perfektionierten Ausbeutungstechniken schwer fassbar. Wir fürchten uns davor, dass andere unser Vorbild nachahmen und wir zu Opfern werden. Wenn idealistisch-humanistische Utopien ins Lächerliche gezogen werden, kann man sich diesen Zusammenhang vor Augen halten.
Guérot und Menasse ordnen die jetzige Migration weniger als völlig unerwartete Flüchtlingskatastrophe ein, denn als eine neue, strukturell bedingte Völkerwanderungswelle, von denen dieser Planet bereits einige gesehen hat. Eigentlich also kein Grund zur Sorge. Wären wir nicht in einem Weltsystem verhaftet, in dem die bestehenden, äußerst rigiden territorialen Grenzen einer völlig fluiden „Realität der Grenzenlosigkeit“ von Kommunikation, Mobilität, Austausch und Interdependenz widersprechen. Ihre gedankliche „Skizze“ von einer grenzenlosen Welt, so Guérot, soll als Ansporn dienen, unsere Systeme an unsere Lebensrealitäten anzupassen – Nationalstaaten gehören offenbar nicht mehr dazu.
Die Vorschläge Guérots und Menasses hören sich zuerst einmal wie eine Mischung aus Rudolph Steinerscher Anthroposophie und den Kernforderungen der anarchistischen „No-Borders!“ Bewegung an – und gleichzeitig wie der Albtraum konservativer und rechter politischer Spektren in Europa. Ihre Denkweise ist völlig indiskutabel für alle, die sich hinter festen Denkmauern von Schwarz-Weiß, Gut-Böse, Nord-Süd verstecken.
In einem Deutschlandfunk-Interview expliziert Guérot ihren Entwurf. Moderator Peter Kapern warnte bereits vor Beginn des Gesprächs, es werde bestimmt wieder einen Haufen Hörerpost geben. Nicht nur das: Grenzzertrümmernde Sätzen von Guérot wie „anstatt daß wir diese Familien trennen, Asylgeld bezahlen, die Leute auf verschiedene Stadtteile verteilen, lassen wir die Städte nachbauen. Wir bauen jetzt Neu Aleppo, wir bauen Neu Damaskus und so weiter, wie man damals Neu Hannover gebaut hat.“ Beim Gedanken an „Neu-Kundus“ kurz vor Hannover blieb vermutlich einigen Hörern das Frühstücks-Brötchen im Hals stecken.
Guérot und Menasse gehören nicht in die Ecke der verblendeten Idealisten, der naiven Weltverbesserer und absolut realitätsfernen Denker – Träumer sind wahre Realisten. Es geht vielmehr darum, darüber nachzudenken, wie diese altbekannten egalitären Ansätze uns weiterbringen können. In den Social Networks, die einerseits enthemmen aber in denen auch viele Leute offener für neue Ideen sind, haben sie eigenen Aussagen nach bereits Einiges an Unterstützung erfahren. Nun bleibt abzuwarten, ob kluge Geister auf Entscheidungsebenen sich auch damit beschäftigen werden. Wir sollten diese utopische Skizze nicht mit apokalyptischer Angst betrachten, sondern als realistische Möglichkeit, uns konstruktiv und humanistisch mit Rettungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen – denn ganz real sitzen wir auf einem sinkenden Schiff.
Als historische Vorbilder für das Modell des „Städtenachbaus“ zitieren Guérot und Menasse die Flüchtlinge Europas, die in die USA gingen und Städte wie New Hanover, New Hamburg, New Hampshire bauten, und wo dann in New York in Little Italy die Italiener ein ganzes Stadtviertel für sich hatten. Oder auch die im 17. Jahrhundert nach Deutschland gekommenen Hugenotten, die Städte wie Celle und Bayreuth bauten, ebenso wie die Sudetendeutschen. Diese Beispiele sollen laut Guérot Grundlage für ein erweitertes, auf die heutigen Anforderungen basiertes Konzept zur Schaffung erfolgreicher Parallelgesellschaften sein, die sich aber dann nicht ghettoisieren und nur im eigenen Kulturkreis verbleiben. Die Autoren gehen bei diesem soziologischen Modell von der Annahme aus, dass Flüchtlinge, die baulich ihre eigene Soziokultur ab- und nachbilden können, auch offener für äußere Einflüsse sind – im Laufe der Zeit würde durch soziale Interaktion und Handel eine natürliche Vermischung stattfinden und die Subkulturen würden sich wieder auflösen. Wenn man das oben angesprochene kolonialistische Trauma als Denkbarriere eines solchen Ansatzes abschalten kann und sich die bisherigen Effekte des völligen Mismanagements der Ghettosierung von Flüchtlingen in künstlichen und sterilen Camps betrachtet, so ist es durchaus ein positiver Ansatz, das „Unmögliche“ zumindest einmal zu denken.
Als Schlusswort soll ein Zitat von Guérot dienen: „Alles ist fluide. Wir leben in einer Welt, in der wir von Pipelines und von Breitbandkabeln und von Reisewegen unbedingt verlangen, dass sie grenzenlos sind. Wir wollen das für unser eigenes Leben. Wir wollen morgen nach Thailand fliegen können. Wir wollen das Gas aus Russland. Wir wollen da keine Grenzen mehr, auch nicht beim Breitbandkabel [...und so geht es nicht, dass] Nationalstaaten die einzigen sind, die statische Grenzen haben wollen, wo der Rest fluide ist.“