Gestern hat der Deutsche Bundestag mit nur einer Gegenstimme und einer Enthaltung zum ersten Mal den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg formal anerkannt. Die Türkei hat daraufhin sogleich ihren Botschafter zurückbeordert; weitere Maßnahmen z. B. die Aussetzung des Flüchtlingskompromisses könnten folgen. Die Krux jedoch von all‘ dem ist die Frage, ob es in den Jahren 1915-1917 einen Genozid an der eigenen christlich-armenischen Minderheit gab oder nicht:
Rückblende in das Jahr 1915: Im Kaukasus erfährt das Osmanische Reich an der anatolischen Ostfront eine verheerende Niederlage gegen Russland. Auf dessen Seite beteiligen sich auch armenische Freiwillige, die für einen unabhängigen armenischen Staat kämpfen. Obwohl die meisten Armenier als osmanische Soldaten loyal in der Armee des Sultans gegen die Russen kämpfen, geraten sie schnell unter den Generalverdacht der Kollaboration mit dem Feind. Sie werden entwaffnet und als Landesverräter in Arbeitsbataillonen erschossen. Das gleiche Schicksal ereilt die soziale Führungsschicht der Armenier in Konstantinopel: über 200 armenische Intellektuelle werden am 24. April 1915 verhaftet und liquidiert. Der Tag des Massakers steht fortan für den Beginn des Genozids, den Meds Yeghern oder auch die „große Katastrophe“. Nachfolgend wird die gesamte armenisch-osmanische Minderheit per Gesetz ihres Vermögens enteignet (Tehcir) und nach Süden in die syrische Wüste deportiert. Während der „Todesmärsche“ – so beschreiben Zeitzeugen wie z. B. der deutsche Missionar Johannes Lepsius die Vorgänge – müssen die vertriebenen Frauen, Kinder und Älteren grausam verhungern. Sie sterben vor Erschöpfung, wenn sie nicht vorher schon von diversen Mörderbanden schutzlos massakriert oder entführt werden. Laut armenischem Narrativ kamen so ca. 1.5 Millionen Armenier um ihr Leben.
Der türkische Blick auf die Ereignisse ist ein anderer. Die Türkei fühlt sich einer Diffamierungskampagne ausgesetzt, die ihren Staatsgründungsmythos, den Unabhängigkeitskrieg, ungerechtfertigt mit Blutvergießen befleckt. Im Bürgerkrieg während des Weltkriegs sei die Sicherheitslage gerade in den Ostprovinzen außer Kontrolle gewesen. Einzelne, spontane Massaker seien zwar vorgekommen, jedoch könne man nicht von einem gezielten Genozid an den armenischen Christen sprechen. Auf beiden Seiten seien Menschen umgekommen, auch viele Türken. Die Deportationen der Armenier waren eine kriegsbedingte Notwendigkeit – eine Umsiedlungsmaßnahme, um die Abspaltung der armenisch dominierten Ostprovinzen zu verhindern. Was das Ausmaß der Gewalttaten betrifft, legt Ankara eine Zahl von nur 300.000 armenischen Kriegstoten zugrunde. Die türkische Regierung weist das Stigma des Verbrechens klar von sich: Präsident Recep Erdoğan kommentierte beispielsweise den Versuch Frankreichs im Jahr 2006, den Versuch die Leugnung des Völkermords unter Strafe zu stellen mit dem Satz: „eine Lüge bleibt eine Lüge auch wenn ein anderes Parlament etwas anderes beschließt“.1
Wer hat nun Recht? Um diese Frage zu klären, gibt es drei Antwortmöglichkeiten: die historische und die rechtliche Ebene – beide objektiv – oder die politische, die zutiefst (inter-)subjektiv ist.
Erstens, völkerrechtlich ist die Sache eindeutig: die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ist (erst) seit Januar 1951 in Kraft getreten. Da im internationalen Recht auch der Grundsatz nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz – gilt, kann die Republik Türkei als Rechtsnachfolger des damals existierenden Osmanischen Reiches und der diktatorischen Interimsregierung der „Drei Paschas“ nicht zu Wiedergutmachungsleistungen (Reparationen, Gebietsrückgaben etc.) verpflichtet werden. Die Narrativfrage der Schuld ist somit völkerrechtlich nicht anwendbar.
Zweitens, historisch scheint die Sache nicht besonders umstritten zu sein: Die Geschichtswissenschaft bestätigt mehrheitlich nach Auswertung der vorhandenen Quellen und Archive einträchtig die armenische Perspektive der Ereignisse. So forderte beispielsweise die Internationale Vereinigung von Völkermordforschern die Türkei auf, endlich den „systematischen Genozid“ an den Armeniern als eine „faktische und moralische Realität“ anzuerkennen. Sollten doch noch Unklarheiten bestehen, könnte man auch auf den Vorschlag der Türkei zurückgreifen, eine bilaterale oder internationale Wahrheits- und Historikerkommission einzuberufen, die mittels eines ein oder zwei Jahre dauernden Mandats, die Ereignisse aufklären und Einblick in die historischen Archive nehmen darf. Der Abschlussbericht der Kommission wäre dann das gemeinsame Narrativ, auf das sich beide Seiten prozessoffen geeinigt oder a priori gegenseitig verpflichtet hätten. Natürlich wäre dann die personelle Besetzung der Kommission die eigentliche (politische) Frage, denn welche Seite sich hier in der Berufung mit ihren Expertinnen und Experten mehrheitlich durchsetzt, wird auch die gemeinsame historische „Wahrheit“ feststellen oder blockieren können. An dieser Stelle kommt man leider auch nicht weiter, weil genau aus diesem Grund die Türkei für die Einsetzung einer Historikerkommission ist, während die Armenier sie aus dem genau umgekehrten Grund ablehnen: Der Genozid sei keine Frage, sondern ein Fakt.
Drittens, die eigentliche Krux ist die politische Lösung der armenischen „Frage“. Hier hilft vielleicht die Einnahme einer radikal konstruktivistischen oder inter-subjektiven Perspektive: Realität ist nicht, was da draußen so scheinbar objektiv existiert, sondern was die beteiligten Akteure glauben, was wahr ist. Sprich: Ob es der Türkei gefällt oder nicht, die überwiegende – vielleicht sogar eher die erdrückende – Mehrheit der Akteure in den internationalen Beziehungen denkt, dass das, was mit den Armeniern geschah, ein Unrecht und ein schuldhaftes Verhalten war, welches wenigstens mit einer offiziellen Entschuldigung – also der Anerkennung des Unrechts – und / oder mit einer Wiedergutmachungsleistung zu bereuen ist: neben einer großen Anzahl von Staaten (z. B. Frankreich, Russland, Griechenland, die Schweiz, Schweden, Kanada und nun auch Deutschland) auch die wichtigsten internationalen Organisationen wie z. B. der Europarat,2 das Europäische Parlament3 oder die Vereinten Nationen im Whitaker Report. Das Paradox, welches daraus folgt ist:
Je mehr Ankara versucht, den Genozid der Vergangenheit abzustreiten, desto mehr konstruiert es den Völkermord (und seine Leugnung) als relevantes politische Thema in der Gegenwart der internationalen Politik.
Die Lösung ist: Es ist nicht wichtig, wie Istanbul war, sondern was Ankara heute daraus macht, z. B. ob es souverän mit dieser Frage umgehen kann. Schuld und Entschuldigungen sind politisch-moralische Kategorien. Hier betrifft das die Verantwortung der Türkei als den Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches. In jeder Nachfolge – auch privat – erbt man immer beide Seiten: Rechte und Pflichten, Vermögen und Schulden, und – was die Geschichte betrifft – die guten und die weniger schönen oder belasteten Erinnerungen der Familie, ob man möchte oder nicht. Es mag idealistisch klingen, aber irgendwann wird es einen türkischen StaatspräsidentIn oder einen/n PremierminsterIn geben, der/die für den Genozid in einem der Parlament um Entschuldigung bittet, der/die vielleicht – ähnlich wie Brandt in Polen – vor dem Völkermordmahnmal in Zizernakaberd sogar den Kopf neigt. Wenn nicht aufgrund der Pionierrolle eines mutigen Mitglieds der politischen Elite etwas geschieht, kommt ja vielleicht auch von „unten“ beziehungsweise von zivilgesellschaftlicher Seite mehr Bewegung in die Diskussion: Nach dem Hrant Dink, der Herausgeber der Zeitschrift Agos, im Januar 2007 auf offener Strasse erschossen wurde, gingen Zehntausende Türken auf die Strasse, um Dink, dem armenisch-stämmigen Türken, mit dem Ruf „Wir sind alle Armenier“ ihre Solidarität zu bekunden. Im Dezember 2008 haben mehr als dreißigtausend Türken eine online-Petition unterschrieben, in der sie die „Leugnung der Katastrophe von 1915 ablehnen“ und ihrer „armenischen Brüdern um Entschuldigung bitten“. Ja, es stimmt: mehr als doppelt so viele haben in nationalistischen Kampagnen unterschrieben und sich gegen diese zivilgesellschaftliche Entschuldigung ausgesprochen, aber es gibt Bewegung: Elif Shafaks Roman The Bastard of Istanbul (2006)4 and Fethiye Cetins Buch Anneannem (2004) waren beide Besteller in den Jahresrankings. Beide Bücher thematisieren den Völkermord als (teilweise autobiografische) Familiengeschichte. Ein weiterer Einflussweg könnte über die Europäische Union laufen und die Anerkennung des Genozids als eine formelle oder informelle Bedingung für die Mitgliedschaft machen. Allerdings ist das immer so eine Sache bei Entschuldigungen: sie können nicht verordnet oder unter Zwang abgerungen werden, denn dann sind sie nicht glaubhaft und – noch entscheidender – dann wirken sie nicht. Glaubwürdige Reue kann nur durch den Täter selbst und dessen eigene Anerkenntnis des Unrechts kommen. Solange das nicht geschieht, bleibt das o. g. Paradox, in dem die Türkei sich zurzeit befindet, bestehen. Und solange gelten auch die jüdischen Worte Richard von Weizsäckers in seiner berühmten Rede zum Kriegsende vor 40 Jahren im Jahr 1985: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil; das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“.5
- http://www.spiegel.de/politik/ausland/armenier-gesetz-tuerken-ueber-frankreich-erbost-a-442264.html ↩
- Council of Europe, 24. April 1989, Written Declaration 275Do8091. ↩
- EP Press Release 27. September 2006, REF: 20060922IPR10896 (1. Nov. 2009); cf. EP resolution of 18. June 1987. ↩
- Stern, 9. October 2008. ↩
- http://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200118_hr_weizsaecker ↩