von Stefan Kroll
Seitdem im Juli die Schiedsentscheidung über die Territorialkonflikte im südchinesischen Meer gefällt wurde, wird in Zeitungen und Blogs intensiv darüber diskutiert, wie diese Entscheidung einzuordnen ist und welche Folgen sich daraus ergeben. Das Schiedsgericht hat nicht über Fragen der Souveränität selbst entschieden, sondern über die rechtlichen Grundlagen, aus denen Souveränitätsansprüche abgeleitet werden können. In diesem Zusammenhang hatte das Gericht die interessante Frage zu klären, inwieweit die durch China angeführten „historischen Rechte“ geeignet sind, einen Gebietsanspruch zu begründen. Klar ist, dass der Schiedsspruch nicht geeignet ist, den Konflikt zu beenden. China hat von Beginn an deutlich gemacht, dass es das Verfahren weder anerkennen noch sich daran beteiligen würde und hat daher schließlich auch die Entscheidung als rechtwidrig abgelehnt. Die Funktion des Verfahrens ist daher auch weniger die Konfliktlösung, die es nicht leisten kann, als vielmehr das Herausarbeiten einer rechtlich gerechtfertigten Position.
Die besondere Brisanz dieses Schiedsspruchs liegt nun darin, dass hier auf dem Wege der rechtlichen Rechtfertigung eine andere Form der Rechtfertigung, nämlich die historische, in unterschiedlicher Weise delegitimiert wurde. China beansprucht historische Rechte über ein Gebiet, welches durch die sogenannte „Nine-Dash-Line“ markiert wird. Bei dieser Markierung handelt es sich um eine gestrichelte Linie, die den größten Teil des südchinesischen Meers umfasst und die sich in historischem Kartenmaterial findet. Zwar variiert die genaue Positionierung der Striche (und auch ihre Anzahl) auf verschiedenen Karten, aber eindeutig ist, welche Inselgruppen und Felsformationen davon umfasst sind. China beharrt darauf, dass sich seine Souveränität über dieses Gebiet im langen Verlauf der Geschichte geformt habe.
Die Schiedsentscheidung hat diese historischen Ansprüche nun in mehrfacher Weise zurückgewiesen: (1) Zunächst hat es entschieden, dass selbst wenn China über historische Ansprüche verfügen würde, diese durch das Recht der United Nations Convention on the Law of the Sea und Chinas Beitritt hierzu nun überlagert seien. (2) Unabhängig von dieser grundsätzlichen Zurückweisung historischer Ansprüche nimmt die Entscheidung eine genauere Bestimmung dessen vor, wie im Völkerrecht Ansprüche etwa auf historische Buchten und historische Gewässer begründet sein könnten. Grob zusammengefasst wäre dies die dauerhafte Ausübung einer exklusiven Kontrolle über diese Gebiete. Genau dies aber vermag das Gericht im vorliegenden Falle nicht zu erkennen. (3) Die Frage historisch abgeleiteter Rechtfertigung ist schließlich auch in Hinblick auf die konkret umstrittenen Landformationen im südchinesischen Meer von Bedeutung. Wie bereits in einem weiteren Beitrag zu diesem Thema in diesem Blog diskutiert, hatte das Gericht darüber zu entscheiden, was, im Sinne des Seerechts, eine Insel von einem Felsen unterscheide. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass keine der von China beanspruchten Formationen den Status einer Insel beanspruchen könne. Auch dies hat eine historische Dimension, wie sehr schön in einem Blog-Beitrag von Ryan Mitchell (Yale University) zum Ausdruck kommt:
Die Beobachtungen machen deutlich, dass die juristische Einordnung historisch begründeter Ansprüche komplizierte Fragen aufwerfen, die auch durch den Schiedsspruch nicht abschließend beantwortet zu sein scheinen. Einerseits die grundsätzliche Frage, unter welchen Bedingungen historische Rechtfertigungsmuster berücksichtigt werden. Zum anderen, nach welchen Kriterien das Gericht selbst historische Einschätzungen vornimmt. Es wird spannend sein zu beobachten, welche längerfristigen Auswirkungen der Schiedsspruch diesbezüglich für die Rechtswissenschaft haben wird und in welcher Weise sich auch Historiker und Rechtshistoriker in die Debatte einbringen werden.
Darüber hinaus wird an diesem Schiedsspruch aber vor allem deutlich, wie sehr die Spannung zwischen rechtlichen und historischen Rechtfertigungsnarrativen die Lösung des Konflikts erschwert. Erwartungsgemäß hat der Schiedsspruch in China große Ablehnung hervorgerufen. Nicht nur die offizielle Presse und Vertreter der Partei brachten dies zum Ausdruck. Eine interessante Facette der chinesischen Entrüstungspolitik sind auch Weibo- und Instagram-Posts chinesischer Popstars, die sich auf die Unverhandelbarkeit der historischen „Nine-Dash-Line“ beziehen. Ebenso ein militaristische und popkulturelle Elemente verbindender Clip, welcher der China Digital Times zu Folge einer Gruppe zugeordnet wird, die mit dem Kommunistischen Jugendverband in Verbindung steht. Hierzu passt gut ein aktueller Bericht der New York Times, der zu belegen scheint, dass China den militärischen Ausbau der Formationen weiterbetreibt. In Karikaturen wurde darüber hinaus die Rolle der USA und Japans ins Spiel gebracht, die die Philippinen und das internationale Recht nur als Marionette verwendeten, um eigene strategische Interessen durchzusetzen.
Insgesamt handelt es sich hier ohne Zweifel um historisch untermauerte nationalistische Propaganda. Diese verfängt in China aber auch deshalb so gut, weil sie an Chinas frühe Erfahrungen mit dem Völkerrecht und der internationalen Gemeinschaft anspielt. Chinas erste Begegnungen mit dem Völkerrecht zum Ende des 19. Jahrhundert sind geprägt von dessen Doppeldeutigkeit. Einerseits schien das Völkerrecht ein geeignetes Mittel, die kolonialen Souveränitätsverletzungen westlicher Staaten zurückzuweisen, andererseits war es das Völkerrecht der ungleichen Verträge, welches die Exterritorialität in China rechtfertigte. Nicht zuletzt aufgrund dieser historischen Erfahrung besteht China seit jeher auf dem Prinzip der Nichtintervention und hegt ein Misstrauen gegenüber dem Völkerrecht als einem Instrument zur Transformation nichtwestlicher Staaten.
Auch wenn es insgesamt ungerechtfertigt erscheint, findet dieses Misstrauen nun scheinbar Bestätigung in einem Schiedsspruch, welcher die historische Dimension der chinesischen Gebietsansprüche nicht anerkennt. Eine Lösung des Konflikts wird kaum möglich sein, ohne die Spannung zwischen rechtlicher und historischer Rechtfertigung abzubauen, die durch den Schiedsspruch in unerwartetem Ausmaß verstärkt wurde. Während eine klassische Frage politikwissenschaftlicher und rechtswissenschaftlicher Forschung im Bereich der internationalen Beziehungen die Verhältnisbestimmung von Recht und Politik ist, scheint im vorliegenden Fall auch das Verhältnis von Recht und Geschichte von ganz entscheidender Bedeutung zu sein.