Chinas interner Kampf gegen den Terrorismus

von Barbara Korte

Am 27. Dezember 2015 verabschiedete der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses das erste Antiterrorgesetz in der Geschichte der Volksrepublik China (VRC). Damit wurde eine über 25 Jahre erarbeitete umfangreiche Antiterrorstrategie zu Papier gebracht und mit ihr endlich eine verbindliche rechtliche Definition von "Terrorismus." Bereits gängige Praktiken wie öffentliche Medienzensur oder die Verpflichtung von Telekommunikationsunternehmen und Internetprovidern zur Bereitstellung von Inhaltsdaten wurden formalisiert und verschärft, sowie auch die Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen auf eine rechtliche Grundlage gestellt. Allerdings stellt das Gesetz nur den finalen, formalen Schritt einer fünfundzwanzigjährigen Entwicklung dar. Tatsächlich kämpft Beijing seit Anfang der 1990er Jahre in der Provinz Xinjiang mit einer Mischung aus separatistisch und islamistisch motivierter politischer Gewalt, an deren Spitze seit spätestens 2008 das East Turkestan Independence Movement (ETIM) steht. ETIM weist ideell und organisatorisch eine Nähe zu Al Qaeda auf, und arbeitet transnational mit der Islamischen Bewegung Usbekistans, Tehrik-i-Taliban (Pakistan) und der al-Nusra Front (Syrien) zusammen.

Islamistischer Terrorismus in China

Der geographische Ursprung separatistischer politischer Gewalt und islamistischen Terrorismus in der VRC – und dementsprechend auch der Fokus von Antiterrormaßnahmen - liegt in der im Nordwesten des Landes gelegenen autonomen uighurische Region Xinjiang. Xinjiang ist das Siedlungsgebiet von rund acht Millionen Uiguren, die neben den stark sinisierten Hui die zweite muslimische Volksgruppe der VRC darstellen. Ethnographisch, sprachlich, religiös und kulturell sind die Uiguren deutlich näher mit den Turkvölkern Zentralasiens als mit den chinesischen Han verwandt. Seit ihrer Eingliederung in das chinesische Kaiserreich im 18. Jahrhundert wird das Verhältnis zwischen Xinjiang und der chinesischen Herrschaft von Autonomiefragen dominiert. Aufgrund der inneren Heterogenität der Uiguren war die Herausbildung einer gemeinsamen Identität jedoch erst Resultat der maoistischen Minderheitenpolitik und Erfahrungen von Segregation, religiöser Verfolgung, wirtschaftlicher Ungleichheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Ende des Kalten Krieges und der Welle unabhängiger Staatsformationen in Zentralasien sahen separatistische Ambitionen greifbare Beispiele. Zeitgleich kehrten mehrere hundert uigurische Kämpfer von der afghanischen Front zurück, mit politischen und teils radikalen Versionen des Islams, Beziehungen zu islamistischen Organisationen in Afghanistan, Pakistan und Usbekistan sowie Erfahrung in der Planung von Attentaten. Beginnend mit dem Baren-Aufstand im April 1990, übten verschiedenste separatistische und islamistische Organisationen in den 1990er Jahren immer wieder Gewalt mit politischen Zielsetzungen aus, vielfach gegen staatliche Einrichtungen, immer wieder aber auch mit Bombenattentaten in Menschenansammlungen gegen die Zivilbevölkerung Xinjiangs. Während sich die Identifikation von Organisationen und Attribuierung von Attentaten zwischen offizieller chinesischer Berichterstattung und gruppeneigenen Historiographien in dieser Zeit extrem schwierig gestaltet, so lässt sich nach einer Periode der relativen Stabilität zwischen 1997 und 2008 ein deutlich klarerer Trend formulieren: eine Teilung der Dissidenten in zwei Lager. Auf der einen Seite stehen unter dem Dachverband des 2004 gegründeten und in München sitzenden Weltuigurenkongresses jene Organisationen, die sich explizit gewaltfrei gegen Menschrenrechtsverstöße chinesischer Sicherheitskräfte und für ein Recht auf uigurische Selbstbestimmung aussprechen. In den letzten Jahren pochen sie aber anstelle von Sezession auf mehr Autonomie innerhalb des existierenden Regierungssystems. Auf der anderen Seite stehen gewaltbereite islamistische Organisationen mit dem East Turkestan Independence Movement (ETIM) an der Spitze. Mit Attentaten wie der Denotation von Autobomben auf dem Tiananmenplatz im Oktober 2013 und auf einem Markt in Urumqi im Mai 2014 oder der Explosion von 17 Paketbomben in Guangxi im September 2015 visiert ETIM in den letzten vier Jahren häufiger geographisch auch in Ostchina und öffentlichkeitswirksam chinesische Zivilsten an. In Bekennervideos und einem eigenen Hochglanzmagazin ("Islamic Turkistan") propagieren Mitglieder die gewaltsame Sezession Xinjiangs und Vereinigung mit zentralasiatischen Nachbarländern in einem islamischen Gottesstaat.

Die "drei Teufel" von Separatismus, Extremismus und Terrorismus als Bedrohung für die Partei

Obgleich die von der reinen Anzahl der zwischen 2012 und 2014 von islamistischen Organisationen aus Xinjiang verübten 50 Attentate mit etwa 400 Todesopfern und die Größe der auf maximal 400 Mitgliedern geschätzten ETIM (Stratfor) auf eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden hochgerechnet - zugespitzt formuliert - eine eher kleinere Bedrohung darzustellen scheint, so stellt die ETIM für die chinesische Regierung tatsächlich nur die Spitze eines deutlich tiefer liegenden und weiter reichenden Problems dar. Beijing sieht Terrorismus nicht als isoliertes Phänomen, sondern als Teil der "drei Teufel": Separatismus, Terrorismus und religiösen Extremismus. Diese drei Phänomene stellten bereits in den 1990er Jahren eine deutlich über die physische Sicherheit hinausgehende komplexe Bedrohung für Beijing dar. Xinjiang war schon immer strategisch wichtig gewesen, als Brückenkopf nach Zentralasien und als einer von mehreren Schauplätzen separatistischer Ambitionen in der VRC. Diese Ambitionen, ebenso wie islamistisch motivierte Gewalt, stellen auf ideeller Ebene die Gültigkeit der von der Kommunistischen Partei (KP) propagierten sozialrevolutionären Theorie infrage, der zufolge sich die interethnische Unterschiede und Autonomieforderungen im Zuge des Klassenkampfes in der sozialistischen Gesellschaft auflösen würden. Auch bedroht politische Gewalt in Xinjiang den seit den 1980er Jahren vollzogenen Wandel in der Legitimation des Herrschaftsanspruch der KP von ihrer Rolle als Avantgarde der sozialistischen Revolution hin zur Hüterin der "harmonischen Gesellschaft" und der "friedlichen Entwicklung,", womit vor allem Wirtschaftswachstum und wachsender Wohlstand für alle gemeint waren, auf physischer Ebene. Seit der Entdeckung von über 25 Millionen Tonnen Rohöl, 25 Milliarden Tonnen natürlichem Gas und mehr als 40 Prozent des landesweiten Braunkohlevorkommens trägt der Aufbau des petrochemischen Sektors in Xinjiang maßgeblich zur Teilautonomisierung der chinesischen Energieversorgung bei. Außerdem ist die Region Haupttrasse infrastruktureller Anbindung nach Zentralasien im Rahmen von Xi Jinpings Vision einer neuen Seidenstraße. So ist der Erhalt von Sicherheit und Stabilität in Xinjiang eine unabdingbare Voraussetzung für die künftige Gewährleistung stabilen nationalen Wirtschaftswachstums. Gewalt in Xinjiang bedroht keineswegs nur die geographische Peripherie, sondern zentrale Legitimationspfeiler des chinesischen Regimes. In diesem Sinne symbolisiert der Begriff der "drei Teufel" also eine höchst komplexe Bedrohung, der die KP auf ebenso vielschichtige Art und Weise begegnet.

Gewaltsame Prävention

Ein Hauptstrang des Kampfes gegen die "drei Teufel" stellt die nominell unter dem Banner der Strafverfolgung durchgeführte gewaltsame Bekämpfung dar. Dieser fußte bis zum Antiterrorgesetz auf einem sehr breiten politischen und rechtlichen Rahmen, der eine so weitreichende Auslegung staatsgefährdender Akte ermöglichte, dass selbst moderate Intellektuelle wie der Schriftsteller Nurmuhemmet Yasin im Februar 2005 für die Veröffentlichung seiner Kurzgeschichte "Die blaue Taube" wegen allegorischer Anstiftung zum Extremismus zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Den weitreichendsten Einschränkungen obliegt die Ausübung des Islams in Xinjiang. Obgleich die Regierung in Beijing immer wieder betont, dass die "drei Teufel" keiner besondere Ethnie oder Religion angehängt werden dürften, entspricht weder die diskursive Dämonisierung des uigurischen Islams als zentralem identitätsstiftenden Moment noch die regelmäßig erneuerten "illegalen religiösen Praktiken" dieser Vorgabe der Neutralität. Durch die Chinese Islamic Association greift der Staat von innen in das muslimische Leben Xinjiangs ein. Imame werden immer wieder auf ihre Übereinstimmung mit einem ideologischen Verifikationsdossier überprüft, die Inhalte des Freitagsgebets vorher von staatlicher Stelle bewilligt, religiöse Publikationen unterliegen inhaltlicher Zensur. Damit nutzt der Staat jegliche Chance, politischen und als extrem perzipierten Inhalt zu eliminieren. Durch die Verbote in der Öffentlichkeit zu beten oder sich zu religiösen Anlässen wie Hochzeiten zu versammeln, wird der Islam auch aus dem öffentlichen Raum verbannt. Mit Bestrafung von Widerstößen durch hohe Haftstrafen bis hin zur Todesstrafe wirken die Maßnahmen eher als präventive Geißelung des uigurischen religiösen, literarischen und gesellschaftlichen Lebens denn als unmittelbare Extremismus- oder Terrorismuspräemption.

Insbesondere tritt dies zutage im Rahmen sogenannter "Strike Hard" Kampagnen, während derer Mitglieder der Volksbefreiungsarmee, der Bewaffneten Volkspolizei und lokaler Polizeikräfte massenhaft Hausdurchsuchungen und Verhaftungen durchführen, nach denen beschleunigten Justizverfahren zu ebenso zahlreichen wie schweren Urteilen führen. In der Regel sind diese Kampagnen - vor allem 2003, 2009 und 2014 von internationalen Medien und Menschenrechtsorganisationen dokumentiert - auch von zahlreichen erzwungenen Verschwinden, Folter und außergerichtlichen Tötungen begleitet.

Physische Gewaltanwendung ist also ein elementarer Bestandteil des chinesischen Antiterrorengagements in Xinjiang. Tatsächlich lebt die Effektivität der Kampagnen jedoch über sie hinaus von der glaubhaften Projektion von Gewalt durch die physische Präsenz der Volksbefreiungsarmee, verschiedener paramilitärischer Organisationen und der Lokalpolizei. 2005 kamen auf acht Millionen Uiguren in Xinjiang etwa drei Millionen (Para-)Militärs, was über die überwachende Durchdringung der uigurischen Gesellschaft durch Partei, Chinese Islamic Association und Nachrichtendienste hinaus eine beachtliche, an einen Besatzungszustand grenzende, Kapazität darstellt.

Gewaltlose Prävention

Neben der gewaltsamen Bekämpfung der "drei Teufel" verfügt die KP innerhalb des Verwaltungs-, Bildungs- und Wirtschaftssektors über verschiedene Präventionsmechanismen. Zwar stehen Xinjiangs Uiguren in ihren autonomen Siedlungsgebieten nach den Autonomiegesetzen von 1984 und 2004 formal weitreichende politische Selbstbestimmungsrechte bis hin zu "affirmative action"-Maßnahmen zu. Die Parzellisierung des Landes, strategisch-wirtschaftliche und infrastrukturelle Erschließung sowie die Kontrolle der Partei über die Einstiegsebenen jedweder politischen, administrativen oder wirtschaftlichen Karriere bewirken allerdings, dass sich bislang keine echte Autonomie entfalten konnte, die moderaten Forderungen hätte nachkommen können oder ein nachhaltiges Aushandeln der Gewalt zugrunde liegenden Themen zugelassen hätte. Allerdings erweist sich das System als durchaus geeignet, um Beijing-affine Uiguren einzubinden, damit dissidenten Organisationen zumindest potenzielle moderate Unterstützer zu nehmen, und gleichzeitig die ideologische und überwachende Präsenz der KP innerhalb der uigurischen Gesellschaft zu stärken. Diese Einbindung ist also personell und funktional, stellt aber keine flächendeckende Primärprevention in dem Sinne dar, dass sie für Extremisten ausbeutbare, die kulturelle Identität betreffende Missstände beheben würde.

Etwas tiefer schürfen all jene bildenden Maßnahmen, die dazu dienen, die aus Sicht der KP korrekte uigurische Historiographie, das korrekte Verhältnis zwischen Minderheiten und Mehrheit sowie ein dem chinesischen Laizismus verträgliches Bild von "gutem" uigurischen Islam zu propagieren. Als diesen Zwecken dienlich erweist sich die staatliche Kontrolle über das standardisierte Bildungssystem und die dort vermittelten Inhalte sowie die Kontrolle über staatliche wie auch nicht-staatliche Medien. Ohne ein zu totalitäres Bild ideologischer und politischer Indoktrinierung zu malen, zeichnen sich hier doch eindeutig posttotalitäre Kapazitäten zur Mobilisierung und Steuerung der öffentlichen Meinung ab. Während man sich in liberalen Demokratien gemäß deliberativer Tradition mit radikalem Gedankengut aktiv auseinandersetzt, um es durch rationale Entzauberung seiner Anziehungskraft zu berauben, nutzt die chinesische Regierung alle ihr zur Verfügung stehenden Kanäle, um Gedankengut in Gut und Böse zu unterteilen und zweiteres schlicht zu übertünchen. Diese Tendenz findet sich auch in den Provisionen zur Verschärfung der Medienzensur und der Identifikation weiterer inhaltlicher Präventionsmaßnahmen im neuen Antiterrorgesetz. Die Uiguren Xinjiangs sind zwar weiterhin Hauptziel dieser präventiven Praktiken, aber die KP sucht auch mehr und mehr die gesamtchinesische Gesellschaft im Rahmen des "Volkskrieges" ("People's War") in die Prävention einzubinden. Damit ist nicht nur eine ideologische Mobilisierung gegen die "drei Teufel" gemeint, sondern die Einrichtung formaler und freiwilliger Graswurzelorganisationen, die sich selbst und Menschen in ihrer Umgebung hinsichtlich Anfälligkeit für radikales Gedankengut überwachen und quasi als Bürger im Schlapphut die terrorismusspezifische Verlängerung staatlicher Überwachungstentakel in kleinste gesellschaftliche Einheiten darstellen.

Zusammenfassung

Die VRC verfolgt eine umfangreiche Antiterrorstrategie, die sich auf Gewaltanwendung, glaubhafte Machtprojektion, institutionelle Mechanismen zur Einbindung von Teilen vulnerablen Bevölkerung und Verbreitung parteifreundlicher Inhalte stützt. Die Implementation dieser Maßnahmen hängt maßgeblich von der Struktur des politischen Systems der VRC ab, in dem die Partei als de facto Souverän viele Fäden zur gesellschaftlichen Überwachung, Kontrolle und Mobilisierung in der Hand hält. In gewisser Weise stellen Antiterrormaßnahmen in Xinjiang damit eine Extrapolation regulärer Praktiken der Herrschaftskonstitution und Machtdurchsetzung in der VRC dar, sodass insbesondere jene Aspekte der Antiterrorstrategie, die durch gesamtgesellschaftliche Mobilisierung getragen werden, nicht ohne weiteres in den Kontext anderer Staaten übertragen werden könnten. Darüber hinaus stellt sich mit Blick auf die kollektive Zielwerdung der uigurischen Minderheit und die sich radikalisierende und aktiver werdende ETIM auch die Frage, ob der chinesische Ansatz trotz seiner Breite und Tiefe tatsächlich umfassend genug ist. Möglicherweise gießt er jedoch just  in dieser Konfiguration das Kind mit dem Bade aus, indem er in seiner teils undifferenzierten Radikalität moderate Uiguren mittelfristig in Richtung radikaler Vertreter ihrer Interessen treibt. 

Quellen und weiterführende Lektüre

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korteBarbara EA Korte studierte Politikwissenschaften, Sinologie und Psychologie an der LMU München. Als Doktorandin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main arbeitet sie zu Antiterrorstrategien in autoritären Systemen.

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