Die Causa Hindenburg: Ein Lehrstück über Geschichtspolitik und umstrittene Identitäten

von Stephan Engelkamp

Im westfälischen Münster tobt seit Monaten ein Streit, der die Bürger der Stadt in zwei Lager spaltet: Es geht um die Frage, ob man heute einen Platz nach dem ehemaligen Reichspräsidenten und Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg benennen sollte. Was vordergründig wie eine Provinzposse erscheint, offenbart auf den zweiten Blick erstaunliche Einblicke in das ambivalente Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu ihrer eigenen Geschichte.

Worum geht es? Im Jahr 2008 beantragte die SPD Münster, den Hindenburgplatz, also den zentralen innerstädtischen Platz vor der Uni, umzubenennen. Dieser Antrag setzte einen über dreijährigen Diskussionsprozess in Gang, in dem eine mit renommierten Experten besetzte Historikerkommission ein Gutachten zur Rolle Hindenburgs vorlegte, es gab darüber hinaus zahlreiche Podiumsdiskussionen, eine Ausstellung zu Münsters „belasteten“ Straßennamen unter dem Titel „Ehre, wem Ehre gebührt“ und eine repräsentative Bürgerumfrage. Im März 2012 beschloss der Rat der Stadt Münster schließlich mit großer Mehrheit, den Hindenburgplatz in Schlossplatz umzubenennen und eine erläuternde Gedenktafel an dem Platz anzubringen, die an die Vorgeschichte des Namens erinnern sollte. In Teilen der Bevölkerung und insbesondere in konservativen Kreisen blieb die Umbenennung jedoch umstritten: am Tag nach dem Ratsbeschluss gründete sich daraufhin die Bürgerinitiative „Pro Hindenburgplatz – Contra Bilderstürmerei“, die schließlich erfolgreich einen Bürgerentscheid erwirkte. Dieser findet nun am 16. September statt. Und seitdem tobt der Streit in Leserbriefen der lokalen Zeitungen, vor allem wird er aber äußerst engagiert im Internet bei Facebook und in anderen Blogs und Foren geführt.

In dieser Debatte treffen zwei gegensätzliche und zugleich sehr grundsätzliche Positionen aufeinander. Die „Schlossplatzbefürworter“, die sich gegen die Rückbenennung des Platzes vor dem Uni-Schloss aussprechen, argumentieren mit neueren historischen Erkenntnissen über den Reichspräsidenten, die mit dem Mythos des unpolitischen, greisen Generalfeldmarschalls gründlich aufräumen. Der „Retter von Ostpreußen“ habe die Schlacht von Tannenberg im Wesentlichen verschlafen, zudem sei Ludendorff der eigentliche Stratege hinter Hindenburg gewesen. Dafür war sich dieser seiner symbolmächtigen Wirkung auf die verunsicherte deutsche Bevölkerung nach 1914 wohl bewusst. So verbrachte er in seinem Hauptquartier Stunden damit, ihm genehmen Künstlern Modell zu sitzen, so dass bald Tausende von Hindenburg-Porträts im Reich kursierten. Neben seiner unrühmlichen Rolle als Mitbegründer und Kronzeuge der sogenannten Dolchstoßlegende ist es aber vor allem seine politische Rolle bei der Ermöglichung der Naziherrschaft, die Hindenburg vorgeworfen wird. Als Reichspräsident habe dieser ab 1930 mit den Präsidialkabinetten aktiv an der Zersetzung der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik gearbeitet, politische Gewalt gegen Andersdenkende gebilligt, in Adolf Hitler schließlich „seinen Kanzler“ gefunden und diesem durch die faktische Abschaffung von Bürger- und Freiheitsrechten (Reichstagsbrandverordnung) und der Gewaltenteilung (Ermächtigungsgesetz) den Weg zur totalen Herrschaft geebnet. Zudem habe er Hitlers Machtübernahme einen legitimen Anstrich verliehen und diesen symbolpolitisch als seinen rechtmäßigen Nachfolger dargestellt, wie besonders plakativ am „Tag von Potsdam“ inszeniert.

Die Gegner dieser Sichtweise verwahren sich gegen diese als „gutmenschlich“ und ungerecht empfundene Kritik, die sie als Auslöschung von Erinnerung betrachten. Hindenburg dürfe nicht nach heutigen Maßstäben beurteilt werden, sondern müsse als „Kind des Kaiserreichs“ nach den Werten seiner Zeit bewertet werden. Hier wird Hindenburg als Träger konservativer Werte wie Pflichtgefühl, Treue und Patriotismus angesehen. Als Reichspräsident habe er die Weimarer Verfassung – obwohl eigentlich Anhänger der Hohenzollerndynastie – formal stets geachtet und Hitler vielmehr lange verhindert. So habe er sich noch als über 80-Jähriger in der Reichspräsidentenwahl 1932 als Kandidat der Sozialdemokraten und des Zentrums gegen Hitler aufstellen lassen – und gewann. Auch wenden die Initiatoren des Bürgerentscheids ein, Hindenburgs politische Verantwortung zur Ermöglichung des Dritten Reiches müsse durch sein hohes Alter und die Einflüsterungen seines Umfelds relativiert werden. Überhaupt wolle man nicht Hindenburg ehren, sondern vielmehr eine in ihrer Sicht gegen die Bevölkerungsmehrheit gefasste Stadtratsentscheidung rückgängig machen. So wird die Informationspolitik im Vorfeld der Entscheidung und der Versuch der Stadt, die Bürger für die Umbenennung zu gewinnen, als einseitig bis manipulativ kritisiert. Schließlich argumentieren die Hindenburgplatzfreunde mit scheinbar ganz unpolitischen Gründen: So habe der Platz vor dem Schloss schon seit nunmehr 85 Jahren nach Hindenburg geheißen und viele BürgerInnen verbänden persönliche Erinnerungen mit diesem Namen. Kurzum: der Hindenburgplatz gehöre nun einmal zu Münster und sei

„ein vertrautes Stück Heimat“.

Somit bedienen beide Seiten grundverschiedene Milieus und offenbaren dabei Weltsichten, die mangels gemeinsamer Sprache kaum vereinbar scheinen: Akademiker aus dem Umfeld der Uni schütteln den Kopf über traditionelle und hochpersönliche Argumentationsweisen der Gegenseite und kritisieren, dass trotz eines relativ eindeutigen historischen Forschungsstandes Mythen wie der von der Kamarilla um Hindenburg fortgeschrieben werden (Wikipedia). Hindenburgfreunde nehmen diese Kritik als „Nazikeule“ wahr und fühlen sich in die rechte Ecke gedrängt. Wissen und insbesondere die Einordnungen geschichtswissenschaftlicher Forschung wird dabei selbst Gegenstand der Auseinandersetzung. So stützen sich Schlossplatzbefürworter auf die Ergebnisse der 2007 erschienen Hindenburg-Biographie von Wolfram Pyta, die maßgeblich zur Neubewertung der Person Hindenburg in dieser Diskussion beigetragen hat, während die Hindenburgplatzfreunde der Wissenschaft keine hervorgehobene Autorität in dem Kampf um die Deutungshoheit zugestehen möchten.

Während die Schlossplatzfreunde Schaden für Münsters Ruf als Stadt der Wissenschaft und des Westfälischen Friedens fürchten, sehen sich Hindenburgplatzbefürworter einer Bedrohung ihrer Identität ausgesetzt. Hinzu kommt, dass sich das Münsteraner „Establishment“ in großer Breite gegen die Rückbenennung ausspricht. Neben dem CDU-Oberbürgermeister und Teilen der CDU unterstützen SPD, Grüne, FDP, Linke, Gewerkschaften, Unternehmer, Wissenschaftler, Studierende, Journalisten, Künstler, viele zivilgesellschaftliche, kirchliche und andere religiöse Gruppen sowie zahlreiche Prominente die Schlossplatzinitiative, die sich zwar über die breite Unterstützung freut, aber auch fürchtet, es könne ein „David gegen Goliath“-Effekt entstehen, der bei vielen Bürgern zu Trotzentscheidungen pro Hindenburg führen könnte.

Ein sehr ambivalenter Punkt, der in den Diskussionen oft nur unterschwellig durchscheint, ist das Verhältnis zum Militärischen, das sich in der Causa Hindenburg offenbart. So zeigt sich in den Diskussionen bei Facebook häufig das Bild Hindenburgs als eines unpolitischen, aber patriotischen Soldaten, der sich für sein Vaterland aufgeopfert hat. Dieses Bild soll scheinbar unter keinen Umständen mit den Verbrechen des Dritten Reiches in Verbindung gebracht werden. Genau diesen Zusammenhang in den Fokus zu stellen, ist dagegen eine Strategie der Schlossplatzbefürworter, die zu diesem Zweck ein Bild in Münster plakatierten, das den Handschlag Hindenburgs mit Hitler am bereits erwähnten Tag von Potsdam darstellt. Das Bild soll dessen aktive Rolle beim Ende der Weimarer Republik auf den Punkt bringen. Nachdem dieses Plakat vorgestellt wurde, nahm die Diskussion im Internet eine bislang in Münster ungekannte Schärfe an.

Wie diese Geschichte am 16. September ausgehen wird, ist derzeit völlig offen. Zwar sieht die letzte repräsentative Umfrage die Schlossplatzbefürworter erstmals vorn, erwartet wird jedoch eine sehr knappe Entscheidung. Fest steht bislang nur, dass mangelndes Bürgerinteresse den Initiatoren des Bürgerentscheids voraussichtlich keinen Strich durch die Rechnung machen wird: Paul von Hindenburg mag umstritten sein, aber er bewegt die Menschen noch immer. Noch nie hat es im Vorfeld eines Bürgerentscheids in Münster eine höhere Wahlbeteiligung gegeben.

Stephan EngelkampStephan Engelkamp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er beschäftigt sich u.a. mit kritischer Normenforschung sowie Identitätspolitik und Popkultur. In den letzten Wochen hat er als Schlossplatzbefürworter an den Diskussionen auf facebook teilgenommen. [weiter]

3 Kommentare

  1. Die Kamarilla um Hindenburg wird von Pyta nicht bestritten. Es ist typisch für charismatische Politiker, dass sie Kamarillas um sich bilden.

    Was verstehen Sie unter Sicherheitskultur? Was hat das Thema in einem Blog für Sicherheitspolitik zu suchen?

  2. Es geht aber doch wohl nicht um die Existenz einer Kamarilla, sondern um deren Einfluß auf Hindenburg: Der wird entgegen einer bisherigen populären Lesart als weitaus geringer eingestuft…

    Dazu noch zwei links zur Erläuterung:

    http://www.sicherheitspolitik-blog.de/uberuns/
    http://www.sicherheitskultur.org

  3. Die Abstimmung ist klar pro Schlossplatz ausgegangen: 58% zu 40%, sagt die Münstersche Zeitung:

    http://www.muensterschezeitung.de/lokales/muenster/Muenster-entscheidet-sich-klar-fuer-Schlossplatz;art993,1767789

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