Virtuelle Diplomatie und Staatstrauer

von Martin Schmetz
Beim Angriff auf das amerikanische Konsulat in Benghazi  starben am 11. September zwei Personenschützer und zwei amerikanische Diplomaten, der amtierende Botschafter für Lybien sowie der IT-Experte Sean Smith. In ihrer Trauerrede zeichnete Außenministerin Clinton zunächst den beruflichen und privaten Werdegang ihres Mitarbeiters nach, um dann einen bemerkenswerten Satz hinterher zu senden: "And that's just in this world, because in the virtual worlds Sean helped create, he is also being mourned by countless competitors, collaborators and gamers, who shared his passion."

Denn Sean Smith war ein herausragender Diplomat. Er gründete und prägte ein komplettes Diplomatenkorps, definierte die Rolle des Diplomaten in seiner Umgebung neu, schuf einen neutralen Verhandlungsraum für alle politisch relevanten Akteure sowie ein Regime, dessen Ordnungsanspruch sich die bekannte Welt grundsätzlich nicht widersetzte – oder jedenfalls nicht erfolgreich.

Nur: All dies passierte in der "virtuellen Welt", im Computerspiel EVE Online. Bei diesem Spiel steuern weltweit etwa 400.000 Menschen ihre virtuellen Figuren durch ein und dieselbe künstliche Science-Fiction-Welt. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu anderen Online-Rollenspielen (oder MMORPG), deren in sich geschlossene Abenteuer parallel von vielen kleineren Gruppen von Spielern durchlaufen werden. Spieler in EVE spielen nicht zusammen gegen Computergegner, sondern primär gegeneinander. Sie vereinigen sich zu Kooperationen, die wiederum in Allianzen zusammen kommen, um gemeinsam Ziele zu erreichen. Diese Ziele können wirtschaftliche Dominanz sein, ermöglicht durch die komplett durch Spieler betriebene Wirtschaft. Ebenso können die Ziele aber auch militärische, kulturelle oder territoriale Dominanz sein, denn Allianzen können große Teile des Universums erobern und verwalten. Meist geht große territoriale Dominanz einher mit Dominanz in den anderen Bereichen und Allianzen mit Territorium verhalten sich ähnlich wie souveräne Staaten.

Sean Smith, besser bekannt im Netz als Vile Rat, prägte als Chefdiplomat von Goonswarm, der Allianz der Comedy-Webseite SomethingAwful (wo er ebenfalls sehr aktiv war) in EVE, das Universum entscheidend mit. Hatten andere Spieler vor ihm vor allem die Komponenten der territorialen und militärischen Dominanz im Fokus, so stützte er sich auf kulturelle und diplomatische Aspekte, die sich oft als konfliktentscheidend herausstellen sollten. Smith definierte die Rolle des Diplomaten in EVE neu. Er gründete in seiner Allianz ein Diplomatencorps, bildete neue Diplomaten aus und rekrutierte Nachwuchs. Er half dabei, Allianzen zwischen den souverän auftretenden Spielerallianzen zu schmieden, sei es durch knallhartes Verhandeln auf Basis relativer oder absoluter Gewinne für beide Seiten, oder durch das Appellieren an gemeinsame, geteilte Werte. Kooperationen in seinem Block – dem seit langem hegemonialen Block von Allianzen in EVE – liefen über ihn. Er begründete nicht nur Kooperationen, er pflegte sie auch um einmal etablierte Allianzen zu erhalten. Außerdem gründete er das erste neutrale Forum für leitende Spieler und Diplomaten, den Chat Jabberlon5. Dort konnten erste informelle Kontakte geknüpft, Ultimaten gestellt oder Friedensangebote unterbreitet werden. Bis heute ist es die mit Abstand wichtigste Institution dieser Art in EVE.

Shoot Blues, Tell Vile Rat

Diplomatie in Eve: Feinde sind rot dargestellt, Freunde in blau.

Nach seinem Tod fiel Smiths' Name vor allem in den amerikanischen Medien. Sowohl Barack Obama als auch Hillary Clinton erwähnten ihn in ihren Kondolenzreden und sein Name wird in eine Plakette im amerikanischen Außenministerium eingraviert werden. Noch umfangreicher waren jedoch die Beileidsbekundungen sowohl auf SomethingAwful als auch in Eve. Auf SomethingAwful startete man eine Spendenaktion für Smith’s Familie. In Debate & Discussion begann man schnell, sich auch mit den politischen Hintergründen seines Tods auseinanderzusetzen sowie, leicht verwundert, mit der Tatsache, dass Smiths Tod erst in der PC Spielepresse verbreitet wurde und dann in den etablierten Nachrichten – und auch dann mit einem Fokus auf sein Leben als Diplomat in Eve.

Im allgemeinen Forum von SomethingAwful, wo der Kondolenz- und Spendenthread gepostet wurde, war die Diskussion persönlicher – politische Untertöne waren die Ausnahme, auch wenn einige davon in den Medien sofort aufgegriffen wurden, z.B:

Many goons have died, but few goons are destined to have their deaths fiercely politicized by the American media during an election year.

Through the bullshit media circus, we will know "That was Vilerat, and he was actually way awesome." [Quelle]

Ebenso wurde der am nächsten Tag stattfindende Protest in Benghazi gegen den Angriff am Vortag wohlwollend zur Kenntnis genommen.

Im Eve Forum fand sich ebenfalls schnell ein Kondolenz-Thread, allerdings dort gepaart mit deutlich heftigeren, teilweise offen feindseligen Äußerungen gegenüber Moslems und Libyen, die allerdings sofort von Moderatoren gelöscht wurden (man halte Ausschau nach „inappropriate comment“ oder „comment removed“). Auch dort überwog allerdings eine positivere Haltung, insbesondere nach Bildern des Gegenprotests. Weiterhin wurden, als Kondolenzgeste, im Spiel Stationen von Spielern umbenannt, insgesamt über 200. Dies zeigt auch die internationale Reichweite der betroffenen Personen – von international, aber westlich aufgestellten Allianzen wie Goonswarm oder Test Alliance Please Ignore bis hin zu rein russischen Allianzen wie Solar Fleet, unabhängig auch, ob diese Allianzen vorher mit Vile Rat’s Allianz befreundet oder verfeindet waren.

„As you grieve, remember that Vile Rat died doing what he loved, eating Libyan food and enraging people to the point of absurdity by his bare existence.“
Auszug aus interner Mail von Goonswarm

Letztendlich zeigt die Reaktion im Netz und den Medien, dass die Reichweite einer Nachrichtenmeldung durch Online Communities und Spiele weltweit eine neue Dramatik und Qualität erreichen kann. Spieler und Forenmitglieder rund um die Welt (und auch außerhalb der westlichen Länder) waren vom Tod von Sean Smith betroffen, wurden mit diesem Ereignis näher konfrontiert und auch ein Stück weit den weiteren politischen Begebenheiten, wie etwa die Reaktionen auf die Gegenproteste zeigen. Zunehmend hängt, dem Internet sei Dank, persönliche Betroffenheit ob internationaler Politik nicht mehr nur davon ab, ob die eigene Nation oder Familie davon direkt betroffen ist. Verbindungen werden nun auch anders hergestellt. Jemand kann virtuell derart einflussreich sein, dass er eine entscheidende Rolle in einem Spiel für zehntausende Menschen personifiziert. Dann wird nicht nur im Netz kondoliert – der Einfluss ist bis in die reale Welt spürbar, und zwar spürbar genug, dass die amerikanische Außenministerin zu bester Sendezeit jemanden als Gamer würdigt.

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