von Konstanze Jüngling
Nur wenige Tage bleiben bis zur Eröffnung der olympischen Winterspiele in Sotschi. Für 3,5 Milliarden Zuschauer stehen dann 14 Tage Spaß und spannende Unterhaltung auf dem Programm. Dabei scheint kaum zu interessieren, dass in unmittelbarer Nachbarschaft zum Tagungsort derweil fundamentalste Menschenrechte verletzt werden. Denn während andere Menschenrechtsthemen wie die Situation von Homosexuellen in Russland bereits Debatten über einen möglichen Olympia-Boykott ausgelöst haben, redet bislang über die Lage im Nordkaukasus kaum einer.
Schon heute aber stellt die konfliktreiche Region, insbesondere Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan, mit Blick auf Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit laut der Parlamentarischen Versammlung des Europarats die „ernsthafteste und delikateste Situation“ auf dem ganzen Gebiet der Organisation dar. In der wohl bekanntesten Republik, Tschetschenien, wurden in den letzten zwanzig Jahren zwei verlustreiche Kriege geführt, geprägt von systematischen Menschenrechtsverletzungen erst von russischer, dann von tschetschenischer Seite. Unverhältnismäßige Bombardements, extralegale Hinrichtungen, Folter, Vergewaltigungen, das „Verschwindenlassen“ von Personen sowie willkürliche Inhaftierungen standen in diesen Kriegen auf der Tagesordnung. Die Verantwortlichen blieben dagegen bis heute weitgehend unbestraft, einer der Hauptverantwortlichen für die von tschetschenischer Seite begangenen Verbrechen, Ramsan Kadyrow, stieg im Jahr 2007 gar zum Präsidenten der Republik Tschetschenien auf. Auch sein Regime folgt einer grundsätzlichen Logik der Gewalt. Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen wie Verschleppungen, Folter sowie die Ermordung und willkürliche Inhaftierung von (vermeintlichen) Kämpfern bzw. Widersachern gehören weiterhin zur Arbeitspraxis der „Kadyrowzy“, immer wieder kommen Übergriffe von Sicherheitskräften auf die Zivilbevölkerung ans Tageslicht. Eine Verschlechterung der Lage ist nicht auszuschließen: Sicherheitsaspekte rund um Sotschi stellen Menschenrechtlern zufolge einen Vorwand für die Erhöhung repressiver Maßnahmen in der Region dar, gar mit einer Verschlimmerung nach Beendigung der Spiele wird gerechnet.
Dessen ungeachtet stehen die menschenrechtlichen Entwicklungen in unmittelbarer Nachbarschaft zum Austragungsort nach wie vor kaum auf der internationalen Agenda. Allenfalls Sicherheitsaspekte rund um Sotschi schaffen es in die internationalen Schlagzeilen, so z.B. im Zusammenhang mit den jüngsten Terroranschlägen in der südrussischen Stadt Wolgograd. Noch im Sommer letzten Jahres hatte der selbst ernannte Führer eines „Kaukasischen Emirats“, Doku Umarow, dazu aufgerufen, die „satanischen Spiele, die auf den Knochen unserer Vorfahren abgehalten werden sollen“ mit „maximaler Gewalt“ zu stören. Doch zur dortigen Menschenrechtslage hält sich die internationale Staatengemeinschaft einschließlich Deutschlands jedoch schon seit Jahren bedeckt. Waren zumindest noch in den Anfangsmonaten des zweiten Tschetschenienkrieges 1999/2000 immer wieder kritische Stimmen aus den Reihen der Bundesregierung und anderer Staats- und Regierungschefs zu vernehmen, ist Kritik von staatlicher Seite heute generell nur noch vereinzelt zu hören. Und auch dann stammt diese meist von spezialisierten Menschenrechtsorganisationen und -gremien wie dem Europarat. Den letzten bemerkenswerten Anstoß zur öffentlichen Kritik von Seiten deutscher Offizieller gab so die Ermordung der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalija Estemirowa im Jahr 2009. Überdies ist es Präsident Wladimir Putin mit der vorzeitigen Entlassung des Oppositionellen Michail Chodorkowskij sowie zweier Mitglieder der kremlkritischen Band „Pussy Riot“ im Rahmen einer Massenamnestie noch pünktlich vor Sotschi gelungen, seine (potenziellen) Kritiker zumindest teilweise zu besänftigen.
Dabei wäre es geboten, das Stillschweigen zu durchbrechen und stattdessen zu einem kritischen Umgang mit den Missständen in Tschetschenien in den deutschen Beziehungen zu Russland zu finden. Der Preis, den die Bewohner Tschetscheniens bis heute für die vermeintliche Stabilität in der Republik bezahlen müssen, ist ohne Zweifel zu hoch. Deutschland sollte daher die Winterspiele zum Anlass nehmen, zu einer konsistenten Menschenrechtspolitik in der Region zu finden.
Konsistente Menschenrechtspolitik meint vor allem eine Politik, die sowohl über Zeit als auch über die nationalen und internationalen Institutionen hinweg widerspruchsfrei bzw. stimmig ist. Wichtig ist daher zum einen, dass Deutschland die Situation in Tschetschenien sowohl während der Spiele als auch danach in seinen Beziehungen zu Russland regelmäßig kritisch hinterfragt und problematisiert. Die Kritik ist dabei sowohl an die politische Führung in Moskau als auch in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny zu richten. Zum anderen sollte verstärkt darauf geachtet werden, dass Kritik nicht nur vom deutschen Menschenrechtsbeauftragten geäußert wird, sondern gleichermaßen auf Kanzler- und Ministerebene stattfindet ebenso wie im Rahmen internationaler Institutionen wie der Europäischen Union (EU) und den Vereinten Nationen (VN). Ohne Zweifel ist die Situation in Tschetschenien komplex, einfache Lösungen sind kaum verfügbar. Wird jedoch auf eine entsprechende Thematisierung im internationalen Rahmen verzichtet, so sinkt die Notwendigkeit für die Machthaber, den Status quo überhaupt erst einmal zu überdenken. Es ist höchste Zeit, einen solchen Denkprozess anzustoßen.
Ausführliche Informationen zur Menschenrechtssituation in Tschetschenien sowie zu den empfohlenen Modalitäten einer deutschen Tschetschenien-Kritik ebenso wie eine Entkräftung möglicher Gegenargumente gegen eine solche Kritik finden sich in Konstanze Jünglings HSFK-Standpunkt Nr. 7/2013 "Mut zur Kritik! Für eine konsistente deutsche Menschenrechtspolitik in Tschetschenien vor und nach Sotschi".