von Martin Schmetz
Langsam aber sicher fragt man sich, ob es überhaupt noch Sinn macht, aktuelle Enthüllungen über Geheimdienstaktivitäten als Aufhänger zu benutzen. Man hat sich schon so daran gewöhnt, dass es im Hintergrundrauschen untergeht. Aber versuchen wir es trotzdem noch mal: Hey, wer von den geneigten Lesern war auf der WikiLeaks Webseite? Oder The Pirate Bay? Ruft jemand „ja“ vor seinem Rechner? Sehr gut. Sagt „hallo“, denn ihr wurdet vom britischen Geheimdienst (GCHQ) und/oder der NSA erfasst. Snowden lässt grüßen, und wieder einmal fühlt man sich ein wenig unsicherer online. Aber keine Sorge, Angela Merkel und Francois Hollande haben einen Plan. Und die EU hat auch einen.
Aber der Reihe nach: Anscheinend haben NSA und GCHQ Zugriffe auf WikiLeaks und The Pirate Bay mitprotokolliert. Das ganze wurde scheinbar für den Nutzer transparent gemacht, man konnte es also nicht sehen – selbst wenn man danach schaute. Ausgewertet wurde das ganze, den geleakten Folien zufolge, mit einer populären Open Source Software: Piwik. So kommen geheimdienstliche Aktionen, die einen ganzen Haufen erstmal unschuldiger Nutzer erfasst, und ganz alltägliche Software zusammen – es müssen nicht mal spezielle „Cyberwaffen“ entwickelt werden, wenn man nur Zugriff auf die richtigen Server hat.
Snowden und all seine Leaks machen uns also große Sorgen – und ebenso auch unseren Regierungen: Angela Merkel, gerade zu Besuch in Paris, schlägt Francois Hollande ein europäisches Internet vor, und ersten Verlautbarungen nach stößt die Idee in Paris durchaus auf Sympathie. Die Annahme dahinter ist die: Wenn unsere Daten einfach den geographischen europäischen Raum niemals verlassen, dann können die Amerikaner uns nicht mehr ausspionieren.
Das ganze ergibt aus mehrfacher Hinsicht wenig Sinn: Erstens wurde in der Einleitung bereits der britische Geheimdienst erwähnt, der eng mit der NSA kooperiert. Ärgerlicherweise liegt Großbritannien aber in Europa und ist auch noch Mitglied der EU, was die Durchführung des Vorschlags geringfügig erschwert. Nicht, dass kontinentale Geheimdienste wie der BND nicht auch mit der NSA kooperiert hätten. Zweitens setzt es voraus, dass die Geheimdienste nicht einfach mehr oder minder legalen Zugriff auf Server in Europa haben, was eine einigermaßen naive Annahme ist. Damit wäre aber die Internetfestung Europa sofort ausgehebelt, solange überhaupt Daten in den Rest der Welt fließen können – solange also überhaupt das Internet weiterbesteht. Drittens setzen die meisten Nutzer auf amerikanische Anbieter wie Google, Facebook, Twitter, Microsoft, Apple oder Dropbox. Diese müssten entweder den europäischen Markt verlassen, soll das europäische Netz auch funktionieren, oder die europäischen Daten physisch vom Rest trennen, was technisch einiges an Aufwand bedeuten würde, vor allem aber für ihr Geschäftsmodell nicht förderlich ist. Und viertens müssten dann innerhalb Europas gewisse Datenschutzstandards gelten, damit nicht einfach alle Anbieter sofort in das Land mit dem schlechtesten Datenschutz wechseln.
Dazu gab es auf europäischer Ebene bis vor kurzem einen Vorstoß – und den hat Deutschland torpediert. Bis zur Europawahl im Mai liegt der Vorstoß nun auf Eis. Pikant ist an der ganzen Sache aber vor allem, dass die Deutschen auf europäischer Ebene gerne mit den Briten gegen strikteren Datenschutz gearbeitet haben, obwohl gleichzeitig aus Berlin in Richtung europäischer Ebene die Forderung nach mehr Datenschatz kam. Koordination sieht anders aus.
Auf der anderen Seite hat die EU letzte Woche ihren eigenen Vorstoß gestartet: Ihr geht es primär um die Verregelung des Internets. Sie setzt sich damit direkt zwischen zwei Stühle: Momentan sind für Internet Governance vor allem ICANN und die IANA wichtig – zwei gemeinnützige, nicht-staatliche Organisationen, die in ihrer Zusammensetzung von amerikanischen Vertretern dominiert werden. Dem gegenüber steht ein Vorschlag von Ländern wie Russland, China und Saudi-Arabien, die Kontrolle über das Internet der ITU, der Internationalen Telekommunikationsunion, zu übergeben. Diese ist staatendominiert, was nichtstaatliche Vertreter, die in ICANN und IANA immerhin noch existieren, aus dem Prozess wirft. Es macht es außerdem viel leichter, Regeln durchzusetzen, die mehr staatliche Kontrolle über das Internet erlauben. Europa setzt sich nun zwischen beide Stühle und möchte stattdessen eine globale Variante der ICANN und eine Stärkung des Internet Governance Forums. Außerdem, in direktem Widerspruch zu Angela Merkels Vorstoß, wehrt man sich entschieden gegen eine Fragmentierung des Internets – wie sie etwa Schlandnet oder ein europaweites Intranet nach sich ziehen würden.
Wer sich bisher gefragt hat, wieso europäische Netzpolitik auf internationaler Ebene so wenig erreicht, der erhält durch die aktuellen Ereignisse vielleicht eine Antwort. So lange Europa, so lange nicht einmal Deutschland für sich, weiß, wie es genau zur politischen Verregelung des Internets steht, werden wir es mit einem Vorschlagssalat erster Güte zu tun haben. Und daraus folgt eine geringe Relevanz. Denn wie kann man Verhandlungspartner ernst nehmen, die selbst nicht wissen, was sie wollen?
Ich bin vermutlich nicht der einzige der dabei Kopfschmerzen bekommt. Vielleicht sollten die Spam-Mails in Zukunft nicht Viagra bewerben, sondern Aspirin in der Familienpackung. Wir könnten ja eine Sammelbestellung organisieren.
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