von Irene Weipert
Die Ereignisse in Ägypten überschlagen sich und niemand kann ernsthaft behaupten, zu wissen, wie die Proteste in Ägypten ausgehen werden. Was für und was gegen einen Wandel spricht, lässt sich hingegen so zusammenfassen:
1. Öffentliche Proteste sind nichts Neues
Hunger und Armut führen in Ägypten immer wieder zu Ausschreitungen, die in Intensität und Organisationsgrad variieren. Im kollektiven Gedächtnis sind vor allem die sogenannten Brotunruhen von 1977 verankert, die in beiderlei Hinsicht den momentanen Protesten ähnlich waren, auch wenn die neuen Medien und Kommunikationsmittel heute andere Möglichkeiten der Vernetzung und Mobilisierung erlauben. Die Unruhen damals erschütterten das Regime unter Präsident Anwar Sadat – verändert haben sie es hingegen nicht.
2. Autokraten sind Anpassungskünstler
Herrschaft beruht in Autokratien auf einem ständigen Balanceakt zwischen Repression einerseits und Kooptation und der Gewährung von Freiheiten andererseits. Dabei sind Lernprozesse autoritärer Eliten auch im „richtigen“ Umgang mit öffentlichen Protesten zu beobachten. Liberale Elemente im autoritären System gelten als systemstabilisierend – was den Sturz des äußerst repressiv herrschenden tunesischen Diktator erklären könnte. In Ägypten wurden hingegen Freiräume vor allem in den Medien gewährt und die Inklusion oppositioneller Kräfte z.B. im Parlament erlaubt. Man nahm an, dass dadurch der Druck auf das Regime gesenkt würde. Die Frage ist also, warum die aktuellen Proteste durch das all die Jahre angewendete Kalkül nicht aufgefangen wurden.
3. Warum ein echter Wandel bevorstehen könnte - Die Entwicklung öffentlicher Proteste seit 2000
Die Straße als Ort politischer Artikulation wurde im Zuge der Zweiten Intifada im Jahr 2000 von der ägyptischen Jugend neu entdeckt. Weitere Demonstrationen fanden gegen den Irakkrieg 2003 statt und schufen Netzwerke, die sich bald auch mit der Innenpolitik befassten. Daraus entstand das heterogene Bündnis Kifaya (dt.: genug), das gegen die Herrschaft Husni Mubaraks und die sich abzeichnende Machtübergabe an dessen Sohn auf die Straße ging. Anfangs standen hier zwar nur ein paar Dutzende Demonstranten Hundertschaften von Sicherheitskräften gegenüber, aber das Tabu, das Regime öffentlich in Frage zu stellen, war gebrochen.
Unabhängig davon traten daraufhin zwei Formen öffentlichen Protests auf, die sich erst einmal nur gegen die soziale und wirtschaftliche Lage des Landes wandten. Zum einen handelte es sich hierbei um Arbeiterstreiks, die ab 2006 von einzelnen Firmen ausgingen, dabei aber zum Teil mehrere zehntausende Arbeiter mobilisierten. Ausstehende Löhne, nicht ausgezahlte Boni und allgemein schlechte Arbeitsbedingungen wurden von den Arbeitern ebenso beklagt wie die fehlende Interessenvertretung der Arbeiter durch den staatlichen Gewerkschaftsverband. Dabei achteten die Arbeiter darauf, nicht von oppositionellen Parteien oder Bündnissen vereinnahmt zu werden. Ihre Kritik richtete sich gegen die damalige Regierung, aber nicht gegen das Regime als Ganzes, baten die Arbeiter noch direkt beim Präsidenten um Hilfe.[Quelle]
Ab 2008 verschärften sich die sozialen Ungleichheiten in Ägypten, als internationale Spekulationen auf Rohstoffe die Preise für Grundnahrungsmittel in Ägypten zum Teil um bis zu 80% in die Höhe trieben. Als Ersatz für überteuerte Waren stieg der Konsum von Brot, dessen Preis in Ägypten seit den Unruhen 1977 beständig subventioniert wird. Als dieses schließlich knapp wurde, kam es zu spontanen Ausschreitungen auf der Straße. Dies ging soweit, dass das Militär eigenhändig Brotfladen verteilte.[Quelle]
Arbeiterstreiks und die Proteste gegen die Teuerung verbanden sich am 6. April 2008 zur gemeinsamen Forderung nach einem höheren gesetzlichen Mindestlohn und dem Senken der Preise.
Im Lauf des Jahres 2009 kam es immer häufiger auch zu Arbeiterstreiks vor dem Parlamentsgebäude. Am 1. Mai 2010 fand eine Großdemonstration statt, die einen fairen Mindestlohn von 1200 L.E. (zur damaligen Zeit etwa 180 Euro) forderte – und nun auch ein Ende der Herrschaft Mubaraks. Hiermit verbanden sich also die zahlenstarken sozialen und wirtschaftlich motivierten Proteste mit den regime-kritischen.
Mit Mohammed al-Baradei schien es letztes Jahr noch, als hätten die verschiedenen Protestentwicklungen eine vereinende Führungsfigur gefunden. Dass al-Baradei sich jedoch vorwiegend im Ausland aufhielt, brachte ihn bei vielen Aktivisten in Misskredit. Trotzdem könnten sein internationales Ansehen und seine Unabhängigkeit vom alten Regime ihn an die Spitze der Proteste rücken, zumal die heterogene Opposition über keine andere derart charismatische und gleichzeitig neutrale Person verfügt.
4. Verschärfung der Lage durch Deliberalisierung
Die sozioökonomischen Proteste geschahen zu einer Zeit, in der das ägyptische Regime zunehmend auf Unterdrückung setzte. Die Muslimbrüder als größte Oppositionskraft wurden außerhalb des Parlaments drangsaliert und ebenso wie Chefredakteure unabhängiger Zeitungen und regime-kritische Blogger verfolgt, verhaftet und im Gefängnis gefoltert. Trauriger Höhepunkt der staatlichen Repression war der Tod von Khaled Said, der willkürlich von Sicherheitskräften zu Tode geprügelt wurde. Sein Tod löste einen öffentlichen Aufschrei aus, der auch weite Teile der gebildeten jungen Mittelschicht mobilisierte.
Offensichtlich wurde die Deliberalisierung in der besonders dreisten Manipulation der letzten Parlamentswahlen, bei denen der Anteil der Opposition von 25% auf 7% fiel.
FAZIT
Der Druck auf das Regime ist hoch. Er hat sich jahrelang aufgebaut und sich in verschiedenen Formen artikulieren gelernt. Netzwerke sind
geknüpft, Wissen über die Organisation von Protesten vor allem mit neuen Medien wurde gesammelt. Die Revolution in Tunesien hat nun die Hoffnung erweckt, dass ein Herrschaftswechsel tatsächlich möglich ist und damit zu einer ungekannten Mobilisierung der bestehenden Proteste führt.
Wichtige Fragen sind zwar noch offen, wie z.B. ob die Armee hinter Mubarak stehen wird, ob sich die Herrschaftselite spalten könnte und wie lange die USA ihre Unterstützung für Mubarak aufrechterhalten werden.
Dennoch wird viel davon abhängen, ob die Proteste eine kritische Masse erreichen können, um dem 80 Millionen Land einen echten Wandel zu bringen oder ob die Tage des Zorns - so schwer das mittlerweile vorstellbar sein mag - nur eine weitere Etappe im Lernprozess des autoritären Regimes sein werden.
Sollte es tatsächlich zur Demokratisierung Ägyptens kommen, muss sich der Westen darauf einstellen, dass Muslimbrüder an der Regierung beteiligt sein werden. Völlig falsch wäre es, hierauf mit Druck oder gar einem Abbruch der Beziehungen zu reagieren. Das Schreckgespenst „Islamismus“, das pauschal als Argument gegen einen Regimewechsel galt, darf nicht weiterhin dazu führen, dass die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik auf kurzfristige Stabilisierung ihrer südlichen Nachbarn auf Kosten der demokratischen Entwicklung setzt.
Tolle Analyse! Danke!
Mubarak hat längst verloren, was die Aussage des Armeesprechers beweist, der von den legitimen Anliegen der Demonstranten sprach. Über die Galionsfigur Baradi’i, die wohl einige Zeit an der Spitze der Bewegung stehen wird, geht die Macht vielleicht bald in die Hände prominenter Militärs über. Minshuf!
Fundierte und ausgewogende, umsichtige Einschätzung der Lage!
Danke für die sehr gute Analyse und Zusammenfassung!
Ein Interview mit Irene Weipert zur aktuellen Lage in Ägypten in hr-INFO vom 7.2.2011.
Auch im Theorieblog wird über Ägypten diskutiert.