von Janusz Biene
Die Organisation „Islamischer Staat“ (ad-daula al-islāmiyya; kurz und despektierlich: Da’ish) repräsentiert zurzeit zweifellos die Avantgarde der transnationalen dschihadistischen Bewegung. Der „IS“ scheint überdies zunehmend taktische und strategische Rückschläge hinnehmen zu müssen und Schwierigkeiten zu haben Ressourcen und Rekruten zu mobilisieren. Trotzdem steht die Organisation seit Monaten klar im Fokus des medialen, sozialwissenschaftlichen und politischen Interesses.
Doch was wissen wir wirklich über den „Islamischen Staat“?
9/11, der Irak-Krieg, Abu Mus’ab az-Zarkawi, Abu Ghuraib, Al Qaida, „the Surge“, Nuri Al-Maliki, Syrien, Bashar al-Assad, Blitzkrieg, Entführungen, Enthauptungen, Kobani, Ungläubige, Rückkehrer, Terrorismus, Islam und Islamophobie. Diese unvollständige Liste von Signalwörtern deutet an, um welche Themen sich der öffentliche Diskurs rund um das Phänomen „IS“ dreht. Zugegeben, das ist auf den ersten Blick eine ganze Menge. Doch angesichts des ungebremsten Zulaufs von IS-Rekruten aus Deutschland und Europa einerseits und den deutlichen Anzeichen für eine wachsende Islamophobie und zunehmenden Fremdenhass in Deutschland andererseits, ist es längst nicht genug. Nicht genug, oft zu plakativ und zu wenig fundiert.
Das Ziel des heute startenden Blogforums ist es in den nächsten Wochen in gut verdaubaren Beiträgen blinde Flecken zu beleuchten, bereits bekannte Aspekte zu vertiefen, vermeintliche Gewissheiten aufzubrechen und so den Diskurs über „IS“ konstruktiv zu prägen. Dieser Aufgabe haben sich mehr als zwei Dutzend Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, öffentlichen und privaten Sicherheitsinstitutionen, Journalismus, Entwicklungszusammenarbeit und De-Radikalisierungspraxis verschrieben.
Nachdem Behnam Said in einer Vorab-Veröffentlichung den Auftakt vollzogen hat, wollen wir das Phänomen „IS“ in den nächsten Wochen aus vier Perspektiven in den Blick nehmen:
- Welche Dynamiken lassen sich aktuell beobachten? Täglich wird über sämtliche Kanäle über die aktuellen Frontverläufe und neue (Gräuel-)Taten von „IS“-Kämpfern berichtet. Doch wie lässt sich dieser Wust an Informationen einordnen? Christopher Daase und Mathieu Guidère beleuchten strategische Aspekte der IS-Kriegsführung, während Sabine Küper-Büsch vom Kampf der Kurden in Rojava gegen den „IS“ berichtet. Die Attentate von Paris erinnern jedoch daran, dass das Phänomen „IS“ nicht nur eine Gefahr für den Nahen Osten ist. Ganz im Gegenteil: Im inner-dschihadistischen Konflikt zwischen „IS“ und Al Qaida schlagen sich militante Gruppen und Individuen aus aller Welt auf die eine oder die andere Seite. Worin der Unterschied zwischen „IS“ und Al Qaida besteht und wie Dschihadisten mit dem Konflikt umgehen, erklären Guido Steinberg und Andreas Armborst. Florian Peil und Yan St-Pierre hingegen widmen sich am Beispiel von Nordafrika und Nigeria der Frage, welche Folgen es haben kann, wenn militante Gruppen wie Boko Haram sich dem „Islamischen Staat“ verschreiben. Pieter von Ostaeyen erklärt schließlich vor dem Hintergrund der Zwischenfälle im belgischen Verviers, warum gerade Belgien die Heimstatt vieler IS-Kämpfer ist.
- Wie konnte es soweit kommen? Was sind zentrale Entstehungsbedingungen für das Aufkommen des „IS“? Der Blitzkrieg der Organisation und ihre relative Resilienz sind ein Schock für Opfer und Beobachter. Gründe für den „Erfolg“ gibt es viele. Einschlägige Erklärungen verweisen auf die Marginalisierung der sunnitischen Minderheit im Irak, die Schwäche des irakischen Militärs, den Bürgerkrieg in Syrien und den Zulauf von Dschihadisten aus aller Welt. In ihren Beiträgen bieten Irene Weipert-Fenner, Thomas von der Osten-Sacken, Jean Rockbelle sowie Maya und Nancy Yamout alternative Erklärungen. Sie lenken den Blick auf die anhaltende Krise von Staatlichkeit in der MENA-Region, die zwielichtige Rolle des Iran, die Rolle der deutschen Medien sowie Radikalisierungsprozesse in (libanesischen) Gefängnissen.
- Was sind zentrale Aspekte der Ideologie des „IS“? Die Gefahr ernst zu nehmen, bedeutet auch die Ideologie, der diese Organisation und ihre Anhänger folgen, ernst zu nehmen. Dass es dabei nicht um „den Islam“ geht, muss heute leider immer wieder betont werden. Stattdessen lässt sich besser von einer dschihadistisch-salafistischen Ideologie sprechen, die historisch-theologische Kontinuitäten konstruiert, vorgibt sich am Vorbild Muhammads und der ihm nachfolgenden, ersten Generationen von Muslimen zu orientieren und zur Umsetzung ihrer Ziele Gewalt propagiert. Vor diesem Hintergrund beleuchten Susanne Schröter, Christoph Günther, Marwan Abou-Taam und Holger Marcks das utopische Gesellschaftsmodell des „IS“, seine theologisch-historischen Rechtfertigungsnarrative und derart begründeten Ordnungsvorstellungen sowie die Konstruktionen von Geschlecht im IS-Diskurs.
- Schließlich stellt sich uns die Frage: Was tun? Welche Möglichkeiten der Intervention gibt es? Dabei geht es weniger um militärische, sondern soziale, psychologische, theologische, polizeiliche und nicht zuletzt politische Interventionen. Bente Scheller, Julia Berczyk, Hazim Fouad, Thomas Müller und Patrick Möller stellen derlei Ansätze vor. Während manche Interventionsmöglichkeiten auf die Situation in Syrien und dem Irak anwendbar sein könnten – beispielsweise Lernerfahrungen aus Afghanistan oder die Bedeutung einer Auseinandersetzung mit dem Problem „Assad“ –, sind Ansätze wie Präventions- und De-Radikalisierungsprogramme oder das Führen konstruktiver gesellschaftlicher Debatten auf den deutschen Kontext zugeschnitten
Soweit das angedachte Programm der nächsten Wochen. Wir hoffen, dass das Blogforum dazu beiträgt die Organisation „Islamischer Staat“ besser zu verstehen. Das natürlich nicht in dem Sinne, den „IS“ zu legitimieren, sondern sie besser zu verstehen, um dem Phänomen „IS“ auf der einen Seite und dem Phänomen Islamophobie und Fremdenhass auf der anderen Seite informiert und differenziert besser entgegentreten zu können. Dazu gehört natürlich auch ein Dialog über die im Rahmen dieses Blogforums präsentierten Perspektiven auf den „IS“. Wir freuen uns daher, wenn ein solches Gespräch in den Kommentaren zu den jeweiligen Beiträgen oder in Antwort-Beiträgen auf anderen Seiten stattfinden sollte.