Das Missverständnis der „einsamen Wölfe“ – Ein Einwurf

von Daniel H. Heinke

Durch das entschlossene und überaus mutige Eingreifen mehrerer Passagiere konnte am 21. August 2015 an Bord des Thalys-Schnellzuges von Amsterdam nach Paris ein mutmaßlich jihadistisch motivierter Attentäter daran gehindert werden, zahlreiche Menschen zu ermorden. Wäre der Täter nicht gehindert worden, hätte er, bewaffnet mit einem Sturmgewehr, einer Pistole und einem Messer, dutzende Opfer finden können.

Es ist wenige Tage nach der Tat trotz der bereits bekannt gewordenen Informationen natürlich noch zu früh, um bereits eine detaillierte Analyse der konkreten Tatumstände und des Attentäters vorzunehmen. Die Berichterstattung der vergangenen Tage verdient es aber, einen speziellen Aspekt zu beleuchten:

In zahlreichen Beiträgen zu dem verhinderten Anschlag wurde darüber spekuliert, ob es sich bei dem Attentäter um ein Mitglied einer terroristischen Gruppierung oder um einen so genannten „einsamen Wolf („lone wolf“) gehandelt habe. So sehr es für die Aufklärung dieses Falles und auch für weitergehende Ermittlungsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden von Bedeutung ist, ob der Attentäter Komplizen oder zumindest Mitwisser hatte, so sehr verkennt diese nur scheinbare Dichotomie in der Außendarstellung jedoch die im Rahmen der jihadistisch-islamistischen Radikalisierung wirksam werden Mechanismen, worauf erfreulicher Weise Peter Neumann vom ICSR, King’s College London, ebenso wie der britische Journalist Jason Burke hingewiesen haben.

In der öffentlichen Darstellung erscheint der Tätertypus des „einsamen Wolfes“ als Gegenentwurf zum Mitglied einer mehr oder weniger eng koordinierten und geführten terroristischen Vereinigung. Bei diesem Bild mögen noch unbewusste zeithistorische Verknüpfungen mit anderen Erscheinungsformen des Terrorismus, etwa der Rote Armee Fraktion (RAF), eine Rolle spielen. Dieses Bild ist jedoch zum einen gefährlich, weil es impliziert, dass solche terroristischen Vereinigungen die Regel und „einsame Wölfe“ demgegenüber die Ausnahme darstellten, und zum anderen inhaltlich falsch, weil es die Besonderheiten der jihadistischen Radikalisierung vernachlässigt.

Die jihadistisch-islamistische Radikalisierung verläuft nicht gleichförmig; oberflächlich betrachtet stellen sich die Pfade zum Terrorismus als ebenso unterschiedlich wie seine Akteure dar. Von verschiedenen Ausgangspunkten startend folgen die späteren Extremisten vielen unterschiedlichen Wegen, die schließlich zu ihrer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten in ihren Aufenthaltsstaaten bzw. zur Teilnahme am bewaffneten Kampf einer Terrororganisation wie dem ”Islamischen Staat” führen. Gemeinsam ist ihnen jedoch die jihadistische Ideologisierung. Das vom Islamismus propagierte Bild von „uns“ (der islamischen Ummah, d.h. der "Gemeinschaft der Gläubigen" [ummat al-mu'minin]), die sich gegen „die“, d.h. die Ungläubigen, in einem behaupteten vom Westen geführten „Krieg gegen den Islam“ verteidigen müssen, sichert eine starke Bindung zwischen den Anhängern dieser Überzeugung bei gleichzeitiger Entfremdung von westlichen (nicht-muslimischen) Bürgern. Der Jihad in diesem Sinne, also die Anwendung von Gewalt gegen Personen und Regierungen, die als Feinde dieser fundamentalistischen Form des Islam betrachtet werden (insbesondere „den Westen“), wird mit fortschreitender Ideologisierung innerlich zunehmend unterstützt, bis schließlich die Schwelle zum Entschluss, selbst am gewalttätigen Kampf gegen die angenommenen Feinde des Islam teilzunehmen, überschritten wird. Diese letzte (als „Mobilisierung bezeichnete) Phase des Radikalisierungsprozesses kann dann sowohl durch den Aufruf eines als Führungspersönlichkeit  akzeptierten Vertreters dieser Ideologie zur direkten Beteiligung am heiligen Krieg oder durch Selbst-Überzeugung des Betroffenen überschritten werden.

Dabei handeln diese späteren Terroristen jedoch nicht so „einsam“, wie es der Begriff des „einsamen Wolfes“ nahelegt. Die Auswertung der (vollendeten oder versuchten) Gewaltakte durch jihadistisch motivierte Terroristen in den letzten Jahren macht sehr klar, dass eine wirklich „einsame“, d.h. auf sich selbst gestellte, Radikalisierung – wenn überhaupt – nur in Einzelfällen stattgefunden hat. Vielmehr waren auch die einzeln handelnden Täter vorher zumeist in salafistische Gruppierungen eingebunden, waren durch ein familiäres oder sonst soziales Umfeld geprägt, in dem eine derartige Ideologie vertreten wurde, oder hatten sonstige Formen des sozialen Umgangs mit gleichgesinnten Personen, die sich wechselseitig in dieser extremen Ausprägung einer Glaubensüberzeugung bestärkten. Tatsächlich stellt sich – wie auch der aktuelle Fall andeutet – nach der Tat nahezu regelmäßig heraus, dass der oder die Täter im Vorfeld bereits in irgendeiner Form aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung den Sicherheitsbehörden eines oder mehrerer Länder aufgefallen waren. Sie kommen, wie Peter Neumann es formuliert hat, nicht „aus dem Nichts.

Das „einsame“ ihrer Handlung stellt daher zumeist ausschließlich die eigenständige Tatbegehung, d.h. ohne Anweisung zu einer konkreten Tat und ohne direkte Unterstützung bei der Tatausführung, dar. Dabei muss man jedoch berücksichtigen, dass auch diese Täter zumeist davon überzeugt sind, zwar isoliert zu handeln, aber ausdrücklich eben nicht „einsam“, sondern als Teil der Gesamtbewegung der Rechtgläubigen zu handeln. Sie erfüllen nach ihrem Verständnis genau den Auftrag, den von ihnen akzeptierte Führungspersonen – aktuell insbesondere des so genannten „Islamischen Staates“ – ihnen erteilt haben: entweder den Kampf der Organisation in Syrien oder im Irak zu unterstützen oder in ihren (insbesondere westlichen) Heimatländern Anschläge eben der Art zu begehen, wie er jetzt gerade noch vereitelt werden konnte. Das erst vor wenigen Wochen veröffentlichte erste rein deutschsprachige Propagandavideo des „Islamischen Staates“ macht dies sehr eindrücklich deutlich.

Einzeln handelnde Täter sind also nicht etwas qualitativ anderes als eine arbeitsteilig vorgehende Gruppierung. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der möglichen Vorhersehbarkeit und der möglichen Verhinderung von Anschlägen lediglich insofern von in Gruppen agierenden Terroristen als es – da es nicht unbedingt weitere Personen gibt, die von den Anschlagsplanungen wissen – weniger Ermittlungsansätze gibt und es für die Sicherheitsbehörden dadurch noch einmal schwieriger ist, zu beurteilen, ob diese konkrete Person tatsächlich beabsichtigt, einen Anschlag zu begehen, oder ob sie ihre ideologische Überzeugung (wie die meisten!) eben doch nicht in einen Gewaltakt übersetzen. Sie nehmen ihr Handeln aber in jedem Fall als eingebettet in den großen Gesamtzusammenhang des (von ihnen so wahrgenommenen) islamischen Abwehrkampfes gegen „den Westen“ wahr – sie handeln allein, aber sie empfinden sich sicherlich nicht als „einsam“.

Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Begriff im Zusammenhang mit dem jihadistischen Islamismus aufzugeben.

 

Dr. Daniel HeinkeDr. Daniel H. Heinke ist Mitglied des Instituts für Polizei- und Sicherheitsforschung (IPoS) der HfÖV Bremen und Associate Fellow des International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR), King’s College London. Im Hauptberuf leitet er den Planungsstab beim Senator für Inneres, Bremen.

Siehe zum Thema vom Autor auch „Warum Deutschland eine Nationale Präventionsstrategie gegen gewaltbereiten Extremismus braucht – Ein Plädoyer“

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