Wider die Tilgung der Grauzone: Begriffliche Überlegungen zu Salafismus und Dschihadismus

Icon Blogfokus Salafismus

Dies ist der vierte Artikel unseres Blogfokus "Salafismus in Deutschland". Weitere Informationen gibt es hier.

von Janusz Biene

Worüber sprechen wir eigentlich, wenn wir über Salafismus sprechen? Obgleich oder gerade weil der Begriff in aller Munde ist, werden mitunter unterschiedliche Dinge als salafistisch (wahlweise auch als wahhabitisch, islamistisch, dschihadistisch) bezeichnet, spezifische Dimensionen des Phänomens als Wesen „des“ Salafismus behauptet oder gleich ganz auf eine begriffliche Bestimmung verzichtet. Dies ist problematisch, da es zu einem besseren Verständnis des Phänomens der Verständigung über dessen Bedeutung(en) bedarf. Sonst besteht die Gefahr des aneinander Vorbeiredens. Des Weiteren machen Worte Politik. Eine unscharfe Etikettierung kann fragwürdigen Politiken und einer Stigmatisierung Vorschub leisten und negative nicht-intendierte Konsequenzen haben.

Die Notwendigkeit einer nachvollziehbaren und klaren Begriffsarbeit stellt sich insbesondere im Fall von Salafismus und Dschihadismus. Der vorliegende Beitrag unternimmt einen solchen Versuch, schlägt Begriffsbestimmungen vor und plädiert dafür, die empirische Grauzone zwischen den Phänomenen nicht unnötig diskursiv zu verkleinern, um Radikalisierungsprozessen keinen Vorschub zu leisten.

Vier Optionen zum Umgang mit problematischen Begriffen

Idealtypisch lassen sich vier Strategien des Umgangs mit den grundsätzlich umstrittenen und (scheinbar) komplementären Begriffen wie Salafismus und Dschihadismus verfolgen: Erstens, der Verzicht auf ihre Verwendung. Obgleich es dafür plausible Gründe geben mag, sind die Begriffe in der Welt und ihnen werden Bedeutungen zugemessen. Eine Wortneuschöpfung oder der Verzicht auf eine Bezeichnung löst das Problem nicht. Zweitens, die begriffliche Ineinssetzung. Diese Strategie verfolgen oftmals anti-muslimische Kräfte, aber beispielsweise auch die salafistisch-dschihadistische Organisation Islamischer Staat, wenn sie propagiert, die Grauzone zwischen „Glaube“ (sprich: ihre salafistisch-dschihadistische Ideologie) und „Apostasie“ (sprich: alle Muslime, die nicht ihrer Ideologie anhängen und damit auch das Gros salafistischer Muslime) müsse „ausgelöscht“ werden.

Drittens kann unter der Annahme, dass Salafismus und Dschihadismus nichts miteinander zu tun haben, eine scharfe begriffliche Trennung vorgenommen werden. Diese schwingt mit, wenn Salafismus nur als Bezeichnung für eine religiöse Strömung und Dschihadismus nur als solche einer politischen Gewaltideologie verstanden wird. Schließlich lassen sich viertens die Begriffe in einer Weise verwenden, die ausreichend spezifisch und allgemein ist. Diese Strategie erlaubt die Phänomene als eigenständige aber nicht unabhängige, sondern aufeinander bezogene Phänomene zu unterscheiden, die Grauzone zwischen ihnen zu betrachten und die unterschiedlichen Dimensionen von Salafismus und Dschihadismus unter je einem Begriff in den Blick zu nehmen. Dieser letzten Strategie wird im Folgenden gefolgt.

Vorschläge der Begriffsbestimmung

Obgleich Salafismus einem grundsätzlich umstrittenen Begriff gleich kommt: Unumstritten ist, dass er sich auf den arabischen Begriff as-salaf aṣ-sāliḥ („die frommen Altvorderen“) zurückführen lässt. Als solche werden gemeinhin der Prophet Muhammad und die ihm nachfolgenden drei Generationen von Muslimen bezeichnet. Zwar nehmen alle Muslime für sich in Anspruch, dem Vorbild der frommen Altvorderen zu folgen. Salafisten allerdings behaupten, dass nur sie dies tatsächlich täten und daher „wahre Muslime“ seien. Über diese etymologische Fingerübung und die salafistische Selbstbehauptung hinaus herrscht unter den Beobachtenden aber aus vielerlei Gründen Uneinigkeit.

Um die vielfältigen Perspektiven auf das Phänomen (siehe unten) unter einem Begriff zuzulassen, bietet sich eine allgemeine und zugleich ausreichend spezifische Definition an. Demnach kann Salafismus als eine transnationale, fundamentalistische und moderne Strömung im sunnitischen Islam verstanden werden. Sie ist transnational, da ihre Anhängerschaft multinational ist und ihre diskursiven Bezüge und sozialen Netzwerke nationalstaatliche Grenzen überschreiten. Sie ist fundamentalistisch, da ihre Anhänger eine strikte Rückbesinnung des Individuums auf die (vermeintlichen) Lehren der Frühzeit des Islam propagieren. Ausweis dessen sind beispielsweise eine extensive Monotheismus-Lehre, ein literales Verständnis von Koran und Sunna sowie die Ablehnung traditioneller Glaubenspraktiken aus 1400 Jahren muslimischer Geschichte. Damit stellt sich die salafistische Lehre außerhalb des muslimischen Mainstreams. Sie ist modern, da sie sich zwar auf ausgewählte historische Vorbilder der islamischen Geschichte beruft, aber auf zeitgenössische politische Entwicklungen reagiert. Des Weiteren adaptieren ihre Prediger ideelle Versatzstücke aus innerislamischen, politisch-theologischen Debatten unterschiedlicher historischer Epochen in einer bisher nicht existenten Weise (dazu siehe Jokisch 2014: 33 und Ulph 2010).

Eine ähnlich breite, aber spezifische Begriffsbestimmung lässt sich ebenfalls im Fall des Dschihadismus vornehmen. Etymologisch lässt sich dieser Begriff auf das arabische Wort gihād zurückführen. Während viele Muslime es als „Anstrengung“ übersetzen und damit den inneren Kampf gegen die eigene Lasterhaftigkeit meinen, legen Dschihadisten den Begriff als „kleinen Dschihad“, das heißt als gewaltsamen Kampf zur Verteidigung und Verbreitung des Islam, aus. Dschihadismus kann demnach als Ideologie definiert werden, nach der Gewalt gegen „Ungläubige“ theologisch legitim und wirksam, ja sogar notwendig ist. Begründet wird die Gewaltanwendung wahlweise mit der Befreiung „muslimischer“ Länder von der Unterdrückung des ungläubigen „Westens“, der Beseitigung „abtrünniger“ Herrscher oder der Bereinigung der muslimischen Glaubensgemeinschaft von vermeintlicher Häresie. Die Ideologie, die von ihren Trägern fortwährend weiterentwickelt und somit verändert wird, entstand unter dem Eindruck der Repression gegen die Muslimbruderschaft im Ägypten der 1950er Jahre und des antisowjetischen Widerstand in Afghanistan in den 1980er Jahren. Wies sie lange noch revolutionär-islamistische und nicht-salafistische Einflüsse auf, hat sie sich über Zeit „salafistisiert“. Daher wird zu Recht von salafistischem Dschihadismus als der zurzeit dominanten Spielart des Dschihadismus gesprochen.

Mittels einer solchen Strategie der Begriffsbestimmung lässt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht nur begrifflich der Kontrast zwischen Salafismus und Dschihadismus schärfen, sondern auch der Blick öffnen für Aspekte der Grauzone zwischen den Phänomenen.

Analytische, empirische und politische Potenziale

Die Wahl dieser Strategie der Begriffsbestimmung und die erfolgte allgemeine, aber möglichst spezifische Begriffsbestimmung erscheinen aus analytischen, empirischen und politischen Gründen als vielversprechend.

Analytisch betrachtet erlauben die vorgeschlagenen Begriffe je nach Erkenntnisinteresse der Beobachtenden, bestimmte Merkmale herauszugreifen und zu betonen ohne die anderen Merkmale auszuschließen. Dies lässt sich am Beispiel möglicher theologischer, soziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektiven illustrieren. Wird beispielsweise von Salafismus als religiöser Strömung gesprochen, liegt der Fokus auf den Prinzipien der salafistischen Glaubens- und Rechtslehre auf den theologischen Auseinandersetzungen zwischen Salafisten mit Nicht-Salafisten sowie auf den transportierten Glaubensinhalten, ihrer Begründung und Einordnung.

Wird Salafismus hingegen als „theo-politische“ Ideologie (vgl. Lav 2015: 4) verstanden, richtet sich der Blick auf die Ideen salafistischer Prediger, wie eine „gottgerechte“ Ordnung auszusehen habe und wie (u.a. ob gewaltlos oder gewaltsam) diese durchzusetzen sei. Obgleich Bezüge auf die theologische Dimension aus offensichtlichen Gründen unvermeidbar sind, geht es hier um die Normen, Werte und Strategien, die von vielen Salafisten in Auseinandersetzung mit der angeblich „ungläubigen“ Umwelt vorgebracht werden sowie um die Einordnung, Analyse und ggf. Bewertung der von ihnen verbreiteten antidemokratischen und anti-emanzipatorischen Werte. Während (salafistischer) Dschihadismus schwerlich als religiöse Strömung studiert werden kann, lassen sich mit Blick auf die Ideologie ihr historischer Wandel, die Bezüge auf salafistische Theologie und (auch nicht-salafistische) Glaubenspraxis, die strukturelle Ähnlichkeit salafistischen und dschihadistischen Denkens und die spezifische Form ihrer Rechtfertigungsnarrative sowie der Zusammenhang von Ideologie und (gewaltsamen und nicht-gewaltsamen) Handeln analysieren.

Salafismus wie Dschihadismus lassen sich schließlich als Bewegungen oder als Subkulturen betrachten. Eine Bewegung kann als zweckgerichteter Zusammenhang von Individuen, Netzwerken und Gruppen verstanden werden, die einer Ideologie folgt und sich gewaltlos bzw. gewaltsam für die Durchsetzung ihrer jeweiligen politischen Zwecke einsetzt. Dabei kann in den Blick geraten, dass sich beide Bewegungen jeweils wandeln und fast fortwährend aufeinander beziehen. Des Weiteren ermöglicht eine Bewegungsperspektive das Verhalten salafistischer bzw. dschihadistischer Akteure (und ihre teils intentionale Verwischung von Grenzen zwischen den Phänomenen) mit der Konkurrenz um Status und Ressourcen, ihrer Organisationsform sowie dem gegen sie gerichteten staatlichen Handeln nachzuvollziehen. Salafismus und Dschihadismus (in „westlichen“ Gesellschaften) als Subkultur zu betrachten, rückt die Funktion der religiösen Bezüge für ihre Anhänger in den Fokus und lenkt den Blick auf nicht-religiöse Motive wie Identitäts- und Orientierungssuche, Avantgarde-Streben, Abgrenzung und Abenteuerlust (zu Salafismus, siehe bspw. El-Mafaalani 2015).

Empirisch betrachtet entsprechen die vorgeschlagenen Begriffsverständnisse und die (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) referierten Betrachtungsweisen der komplexen Realität. Obwohl über sogenannte quietistische Salafisten in Deutschland bislang wenig bekannt ist, gibt es die Menschen, die salafistisch glauben ohne einer salafistischen Ideologie zu folgen oder gar Teil einer Bewegung zu sein. Ebenso gibt es salafistische Dschihadisten, die nur schwerlich als salafistisch gläubig bezeichnet werden können, aber mit Versatzstücken salafistischer Theologie und Ideologie um sich werfen, um einer Gruppe oder Subkultur anzugehören. Dies dürfte auf viele Syrienausreisende dieser Tage zutreffen. Schließlich könnte auch ein Verhalten wie das des Salafisten Pierre Vogel genannt werden, der nach den Anschlägen von Paris zwischen der Propaganda salafistischer und salafistisch-dschihadistischer Ideologie changierte, vermutlich um Aufmerksamkeit zu erregen und den eigenen Status zu stärken. Die oben gewählten Begriffe erlauben nicht nur diese empirischen Beispiele als salafistisch oder dschihadistisch zu benennen. Sie erlauben auch den angedeuteten Grauzonen gerecht zu werden und in der Erklärung der Empirie nicht in monokausale und essentialisierende Erklärungen abzurutschen.

Politisch erscheint die Unterscheidung von Salafismus und Dschihadismus Sinn zu machen, da auf diese Weise weder dem Kalkül von Akteuren wie dem „Islamischen Staat“ (sowie anti-muslimischen Akteuren) auf den Leim gegangen wird, dass Salafismus und Dschihadismus Hand in Hand gehen, noch fälschlicherweise behauptet wird das eine (Salafismus) habe mit dem anderen (Dschihadimus) nichts zu tun. Des Weiteren ließe sich argumentieren, dass je nach Perspektive auf die Phänomene, sich unterschiedliche Ansätze – theologisch, politische Bildung oder Sozialarbeit betreffend, interkulturell oder sicherheitspolitisch – verfolgen oder kombinieren lassen, um die Herausforderungen, die Salafismus und Dschihadismus stellen, konstruktiv zu bearbeiten.

Janusz BieneJanusz Biene ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) im BMBF-geförderten Forschungsprojekt „Salafismus in Deutschland“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich Salafismus, Dschihadismus und der Forschung zu politischer Gewalt. Zuvor hat er an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im DFG-geförderten Forschungsprojekt „Transnationale Eskalationsmechanismen gewaltsamer Dissidenz“ gearbeitet. Janusz bloggt auch im Bretterblog.
Logo des Blogfokus basierend auf diesem Bild (gemeinfrei), abgeändert.

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert