Schon seit Jahren nimmt weltweit die Zahl der Flüchtenden und MigrantInnen stark zu und an den EU-Außengrenzen spielen sich unfassbare Dramen ab. Aber erst jetzt, wo täglich Tausende Menschen an deutschen Bahnhöfen eintreffen, scheint das Thema Flucht ins kollektive Bewusstsein zu rücken. Nun diskutiert die Öffentlichkeit darüber, wie dringlich es ist, die Konsequenzen und Ursachen von Flucht und Vertreibung als gemeinsame Aufgabe wahrzunehmen.
So allgegenwärtig die mediale und politische Debatte auch (noch) ist, so sehr kann man in ihr auch Blindflecken und Verzerrungen wahrnehmen. Was können Journalismus und Wissenschaft, gemäß den Bedingungen und Ansprüchen ihrer Gewerbe, hier leisten? Während journalistische Beiträge naturgemäß zu einer oberflächlicheren und spontaneren Berichterstattung gezwungen sind, erfordern wissenschaftliche Studien eine längere Zeit, um verlässliche Ergebnisse in die Öffentlichkeit zu bringen. Der heute startende Blogfokus möchte den Versuch unternehmen, diese Lücke zu füllen.
Der Blogfokus möchte mithilfe von AutorInnen, die zu Flucht und Migration forschen, aktuelle und greifbare Diskussionsbeiträge zu drängenden Aspekten liefern. In den Beiträgen, die in den nächsten sechs Wochen erscheinen sollen (wöchentlich zwei) kommen sowohl die Perspektiven von Forschenden mit deutschem oder anderem EU-Staaten-Pass zum Tragen als auch von WissenschaftlerInnen und MigrantInnen, die selbst erst seit Kurzem in Deutschland leben.
Um diese Debatte einem weiteren LeserInnenkreis zugänglich zu machen, werden einige Beiträge in Kooperation mit dem FlüchtlingsforschungsBlog (als Publikations- und Austauschplattform des „Netzwerks Flüchtlingsforschung“) gepostet. Der FlüchtlingsforschungsBlog trägt seit seiner Gründung im Februar 2015 elementar zur deutschsprachigen Debatte bei.
In den Beiträgen des Blogfokus werden Aspekte wie etwa die koloniale Verantwortung Europas zur Aufnahme von Flüchtlingen und MigrantInnen, die Frage nach fremdenfeindlichen Attacken als Akten von Terrorismus, die Alltags-Hindernisse wie auch die Selbstorganisation und Proteste von Geflüchteten und MigrantInnen in Deutschland diskutiert. Eine kritische Betrachtung des Mediendiskurses und der im „Helfer-Wir“-Narrativ deutlich werdenden Rassismen soll genauso wenig ausgespart werden wie die Selbstreflexion der Forschung über Geflüchtete.
Die Beiträge fokussieren auf Flucht und Migration nach Europa, insbesondere nach Deutschland. Dabei sollte aber keinesfalls vergessen werden, dass sich rund 89%[1. In diesen Zahlen des UNHCR mit Stand vom Juni 2015 wird die Türkei, als größtes Aufnahmeland weltweit, mit zu Europa gezählt. Der genaue Wortlaut: „Ende 2014 waren 59,5 Millionen Menschen auf der Flucht. (...) Insgesamt wurden in Europa mit Ende des Jahres 6,7 Millionen Menschen gezählt, die zwangsweise ihre eigentliche Heimat bzw. Heimatregion verlassen mussten: Ein Viertel davon waren syrische Flüchtlinge in der Türkei.“ (Quelle)] der weltweiten Fluchtbewegungen außerhalb Europas abspielen. Länder, die unmittelbar von Krisen und Konflikten betroffen sind bzw. an diese angrenzen – und zumeist weniger reich sind als Deutschland[2. Deutschland hat weltweit das vierthöchste Bruttoinlandsprodukt. 86% der Geflüchteten weltweit befinden sich derzeit in Ländern des Globalen Südens, d. h. in sogenannten „Entwicklungsländern“.] –, stehen ungleich größeren Herausforderungen gegenüber.
„Kritisch“ sind die Beiträge also nicht im Sinne von „asylkritisch“, sondern hinsichtlich der politischen Entwicklungen und vieler Argumente, die im aktuellen medialen Diskurs anfallen oder eben ausbleiben.
Auf einem „Sicherheitspolitik“-Blog erscheint der Blogfokus nicht deshalb, weil wir Flucht und Migration noch weiter „versicherheitlichen“, also als Sicherheitsbedrohung darstellen wollen. Sondern weil wir uns dezidiert um die Sicherheit der Menschen – unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus – sorgen, die in diesem Land auf eine bessere Zukunft hoffen. Das bedeutet: unsere gemeinsame Zukunft, die gerade entsteht und maßgeblich davon beeinflusst wird, wie wir die aktuellen Herausforderungen gesellschaftlich verhandeln und als Chance nutzen.
Lisa Bogerts (Goethe-Universität Frankfurt/Main) und Martin Schmetz (Sicherheitspolitik-Blog.de)
Bisherige Beiträge
The Refugee Crisis and Our Connected Histories of Colonialism and Empire
by Gurminder K Bhambra, University of Warwick
Attempts to address the current crisis often seek to make distinctions between ‘refugees’ and ‘migrants’ and between refugees / migrants and citizens. But, I suggest, these distinctions are part of the problem. Part of the solution is to rethink our histories of ‘national states’ – and the rights and claims they enable – through a ‘connected sociologies’ approach that acknowledges the shared histories that bring states and colonies together.
Grenzen der Demokratie? Eine kritische Perspektive auf die Mediendebatte zu Flüchtlingen
von Sybille De La Rosa
In den medialen Auftritten von PolitikerInnen dominieren Darstellungen der Flüchtlinge als Probleme. Gleichzeitig lassen sich in den Medien Bemühungen beobachten, die darauf abzielen, die Flüchtlinge nicht als Problem – welcher Art auch immer, sondern als die Lösung für bestimmte Probleme zu verstehen. Beides ist problematisch und ersetzt nicht einen öffentlichen Diskurs über die Frage, ob unser Verständnis von Demokratie und Selbstbestimmung möglicherweise überholt ist und nach einer Neuauflage verlangt, welche das Verhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht von Nationalstaaten und den (Menschen-)Rechten von Personen neu bestimmt.
"Die Flüchtlinge", "die Rassisten" und "Wir" – zu den Ambivalenzen im aktuellen Flüchtlingsdiskurs
von Ellen Kollender und Janne Grote
Die vehemente Verurteilung der verbalen und gewaltvollen Übergriffe auf Geflüchtete, die zivilgesellschaftliche Solidarität, mit der Geflüchtete an Bahnhöfen, in Vereinen und Nachbarschaften Willkommen geheißen werden, die kleinen und großen Gesten privater Flüchtlingshilfe – all dies sind wichtige Signale gegen rassistische Hetze und Abschreckungspolitik. Der Flüchtlingshilfediskurs bleibt dennoch ambivalent und lässt sich aktuell an mindestens drei Fragen diskutieren:
Wann verfehlen Positionierungen ‚gegen Rechts‘ das Ziel, rassistische Verhältnisse in der Gesellschaft aufzubrechen? Wann läuft das private Engagement im Flüchtlingsbereich Gefahr, politisches Handeln zu ersetzen? Und welche Schwierigkeiten gehen mit der Konjunktur des ‚Helfer-Wirs‘ einher? Eine Gratwanderung.
Flüchtlinge als „Gegenstand“ in der Feldforschung? Forschungsethische Reflektionen zu Möglichkeiten, Risiken und Limitierungen
von Ulrike Krause
Seit einigen Jahren ist ein Anstieg von Feldforschungsprojekten in den Sozialwissenschaften in Deutschland zu verzeichnen. Doch wie finden solche Projekte statt? Werden Flüchtlinge zu reinen Gegenständen der Untersuchungen oder können sie in der Forschung involviert werden?
EU-Subventionen als Fluchtursache
von Heribert Prantl
Migration ist eine Tatsache in einer Welt, in der Kriege und Globalisierung massenhaft Lebensräume zerstören. Natürlich darf man die Zerstörungen und Verwüstungen nicht als gottgegeben hinnehmen. Im Irak etwa ist ja nicht der liebe Gott einmarschiert, sondern die Amerikaner haben das getan. Natürlich muss man schauen, wie man wieder zu erträglichen Zuständen in Syrien kommt, natürlich muss man alles tun, um Fluchtländer wieder zu Ländern zu machen, in denen Menschen leben können. Man muss etwas tun gegen die Fluchtursachen, auch wenn das sehr schwer ist. Im Fall Syrien heißt das, dass man auch mit Assad reden muss.
Flüchtlingsrechte sichern! Sicherheit und Menschenrechte im Umgang mit Flüchtlingssituationen
von Svenja Gertheiss
In der Flüchtlingspolitik fällt häufig das Schlagwort „Sicherheit“. Dabei geht es meist um die (vermeintliche) Bedrohung der Aufnahmestaaten, seltener um die Sicherheit von Flüchtlingen. Um letztere angemessen zu adressieren, führt eine menschenrechtliche Perspektive weiter. Sie nimmt sowohl einige zentrale Fluchtursachen als auch Bedrohungen für Schutzsuchende während der Flucht in den Blick. Schließlich lassen sich so auch Gefahren ansprechen, die durch Verstöße gegen Flüchtlingsrechte in den Aufnahmestaaten drohen, etwa in Europa.
Syrian Refugees in German Cities. Resettlement Dynamics and its Impact on the Urban Structures across the City
by Ghiath Al Jebawi
This article deals with the accommodation of Syrian refugees living in Germany. Based on my personal experience living in a refugee camp ("Heim") in the city of Cologne (Köln), and based on relevant literature, the article will, firstly, address the different types of temporary residences for refugees in Germany, and, secondly, the process through which refugees pass while looking for a permanent accommodation. Thirdly, and most importantly, the article discusses the ongoing shift within Köln's urban and social structure in the light of the emerging resettlement of refugees. Although the urban structure of Köln, like many other German cities, has a certain level of urban segregation manifested in the settlement of immigrant communities (Friedrichs 1998, p.1), I argue that, on the contrary, the resettlement of Syrian refugees shows coherence and dispersion. The article is accompanied by a mapping survey that investigates on the spatial aspect of the accommodation distribution.
Alles, bloß kein Terrorismus
von Robin Schroeder
In Deutschland gehen immer mehr Flüchtlingsunterkünfte bei Brandanschlägen in Flammen auf. Obwohl sich in den meisten dieser Gebäude Menschen aufhielten, spricht niemand von Terrorismus. Warum eigentlich nicht?
"We will rise": Die Stimmen der Geflüchteten in der aktuellen "Willkommenskultur" hören
von Larissa Fleischmann
Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich für die Situation Geflüchteter verantwortlich und wollen "helfen". Im Zuge dieser "Helfer-" bzw. "Willkommenskultur" werden Flüchtlinge jedoch oft zu hilflosen "Opfern" stilisiert, die keine eigene Stimme besitzen, um ihre Belange selbst zu äußern. Dabei gerät in Vergessenheit, dass durchaus schon seit einiger Zeit Anstrengungen der Geflüchteten bestehen, ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern und eigene politische Ziele zu artikulieren. "We Will Rise!" lautete der Titel einer Ausstellung der Berliner Geflüchtetenbewegung zu vergangenen Protestaktionen, die vor kurzem in Berlin zu sehen war. Anstatt "Ärger zu machen" forderte Thomas de Maizière jedoch jüngst im Gegenzug für die deutsche "Willkommenskultur" eine "Ankommenskultur" von Seiten der Geflüchteten. Er sorgte für Empörung, als er AsylbewerberInnen, die sich über die unsagbaren Zustände in überbelegten Massenunterkünften beschwerten, Undankbarkeit und zu hohe Ansprüche vorwarf. Bleibt also kein Platz für die Stimmen der Geflüchteten im aktuellen Diskurs um die deutsche "Willkommenskultur"?
"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht"… Wirklich?
von Patrice Poutrus
In der momentanen politischen und medialen Auseinandersetzung um die Flüchtlingsaufnahme in Deutschland scheinen folgende Punkte selbstevident: Die gegenwärtige Flüchtlingsbewegung in die Bundesrepublik sei in ihrer Größe eine seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einzigartige Belastung für die Sozialsysteme. Auch seien für die meisten Skeptiker die ankommenden Flüchtlinge in ihrer kulturellen Eigenart von der deutschen Gesellschaft so verschieden, dass eine Integration quasi aussichtslos erscheine. Schließlich erwachse daraus eine fundamentale Gefahr für die soziale und politische Ordnung in Deutschland. Wobei (paradoxerweise) mit der Berufung auf dieses vermeintliche Bedrohungsszenario dann wiederholt der Ruf nach einer tatsächlichen rechtlichen und politischen Revision der bundesdeutschen Ordnung begründet wird.
Too much pressure. Germany seen from the perspective of a migrant seeking work
by Rukaya K.
I came to Frankfurt four months ago. Before that, I had lived in Trentino, Italy, for 14 years. But with the European economic crisis, everything has become difficult; I finally lost my job and decided to go to Germany to give it a new try. Everybody knows that in Germany there are much better chances to get work because the economy doesn't have such big problems like in Italy, Greece and Spain.
Beyond #refugeeswelcome: The Spectre of Racist Violence and Lessons from Refugee Resistance in Germany
by Joshua Kwesi Aikins and Daniel Bendix
The text reframes the current debate about refugees in Germany by contrasting Germany's recent history of racist violence and limitations of asylum laws with the resistance and agency of refugee movements across Germany. Both provide an important lens to re-examine the simultaneous heralding of "welcome culture", a sharp rise in arson attacks on asylum centres and the current legislative roll-back of refugee rights in Germany.
In bringing these perspectives together the text offers a corrective of both the current image of Germany as a welcoming champion of refugee rights and the problematic notion of refugees as objects of German policies and civil society "help" rather than subjects with a long history of resistance in Germany.
Kunst ist zwecklos. Zur Rolle politischer Kunst angesichts der aktuellen Migrations- und Flüchtlingspolitik
von Lisa Bogerts
Kritik an der restriktiven europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik äußert sich nicht nur in Form von rein politischen Initiativen, sondern auch durch zahlreiche Kunstprojekte. Der Beitrag setzt sich anhand des Berliner Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) mit kritischer Kunst und Kritik an derselben auseinander. Er plädiert dafür, die Potenziale politischer Kunst dafür anzuerkennen, in der aktuellen Situation politisches Bewusstsein zu stärken und Widerstand sichtbar zu machen.
Von der Kunst, nicht dermaßen begrenzt zu werden: Handlungsmacht von Geflüchteten als selbstorganisierte Prozesse
von Johanna Bröse
Geflüchtete haben vielfältige Wege, eigene Handlungsfähigkeit zu entwickeln, sich zu vernetzen und ihre Forderungen um Rechte und Anerkennung als "neue Bürger_innen" zu artikulieren. Mein Beitrag setzt sich mit der transformativen Handlungsmacht von Geflüchteten auseinander und geht der Frage nach, wie diese bei dem Anspruch auf Rechte, Zugänge zu Bildung und sozialen Räumen entwickelt und eingesetzt wird – und inwiefern Wissenschaft und Hochschule dabei Unterstützung leisten können.
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