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Eisensteins Beshin-Wiese. Chronik eines Verbots

„Dieser „Foto-Film“ läßt vermuten, daß Beschin lug eines der Meisterwerke Eisensteins geworden wäre. Die Komposition und die innere Dynamik der Bilder überzeugen auch hier noch; Aufbau und Stil machen deutlich, daß – über die bloße, realistische Schilderung eines Einzelfalles hinaus – ein Gleichnis von der bezwingenden Kraft der neuen Zeit entstanden wäre.“[1]

1934 wurden im Interesse der Machtzentralisierung und der totalen Kontrolle in der UdSSR sämtliche unabhängigen Organisationen aufgehoben. Im Rahmen des Ersten All-Union Kongresses (1934) der sowjetischen Schriftsteller wurde der Sozialistische Realismus zur offiziellen Doktrin, die für alle kulturellen Bereiche Geltung beanspruchte.[2] Die Abteilung für Kultur und Propaganda des Zentralkomitees der All-Unionistischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken kontrollierte alle wissenschaftlichen und kulturellen Ereignisse, die im Vorfeld mit dem Volkskommissariat für Bildung abgestimmt wurden. Dies galt insbesondere für den Bereich des Kinos.[3]

Unter diesen Umständen kam es auch zum Verbot von Eisensteins Film Beshin-Wiese.[4] Aus Sicht der Funktionäre sollte der Film den Prozess der Kollektivierung fördern und positiv auf die Massenpsychologie der sowjetischen Gesellschaft wirken.[5]

Der Dramendichter Aleksandr Rzheschevskij wurde beauftragt, das Drehbuch zu schreiben, das auf einer freien Adaptation der Erzählung von Iwan S. Turgenew beruhte, in der das tragische Schicksal eines unter mysteriösen Umständen verstorbenen Jungen beschrieben wird.

Für die stalinistische Propaganda war das Sujet ideal, um das idealisierte Bild eines modernen Helden zu entwerfen: ein Mensch, der dazu bereit ist, sogar den eigenen Vater zu verraten, sofern dieser die sozialistische Aufbauarbeit gefährdet. Eisensteins Film sollte als Mittel zur Mobilisierung des Bauernvolks dienen und daher einen eigenen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten. Ende 1934 wurde das Projekt Eisensteins dem Rat der Volkskommissare der UdSSR und dort der Hauptverwaltung der Film- und Fotoindustrie übergeben.[6]

Im Nachlass Eisensteins (Staatliches Archiv für Literatur und Kunst in Moskau) werden sämtliche Dokumente verwahrt, die mit der Produktion des Films Beshin-Wiese verbunden sind. In chronologischer Reihenfolge von Juli 1935 bis zum 20. September 1937 finden sich dort Presseartikel, private Korrespondenz sowie Protokolle des Ausschusses, der über den Film diskutierte.[7]

Die Behörden wandten sich mehrmals mit der Bitte an Eisenstein, den tragischen Tod der Hauptfigur durch ein positiveres Ende zu ersetzen. Eisenstein blieb beharrlich und hielt auch für die alternative Fassung des Films an dem tragischen Schicksal der Hauptfigur fest. Zudem erscheint der religiöse Symbolismus Eisensteins problematisch, der den märtyrerhaften Tod des Jungen verunkläre. Letztendlich wurde der Film eines „verderblichen Formalismus“ angeschuldigt, was nach einer der letzten privaten Vorführungen in Anwesenheit der Verantwortlichen von Mosfilm sowie im Beisein der Zensoren, am 13. Mai 1937 zum endgültigen Verbot des Films führte.[8]

Der Leiter der Filmproduktion der UdSSR Boris Schumjazkij bezeichnete bereits das erste Filmdrehbuch von 1935 als nicht zufriedenstellend. Er verlangte die Umarbeitung und insbesondere den Schluss zu verändern. Zusammen mit dem Schriftsteller Isaak Babel schrieb Eisenstein eine neue Variante des Drehbuchs.[9]

Ende 1936 erschien die erste Filmversion. Und sie wurde sofort von der Vorführliste gestrichen. Die Staatsorgane erließen den Befehl einige Szenen neu zu drehen und erteilten darüber hinaus die Anweisung einige der Charaktere anzupassen, damit sie den ideologischen Anforderungen besser entsprechen.

Eisenstein arbeitete das Drehbuch ein weiteres Mal und beendete im Jahre 1937 eine neue Version des Films. Doch Schumjazkij zeigte sich neuerlich unzufrieden und warf Eisenstein vor, die Vorgaben der Kritik missachtet zu haben. Auch würde sich das Sujet des Films zu sehr auf die inneren Konflikte des Vaters und des Sohnes konzentrieren, statt auf die sozialpolitischen Fragen von Klassenkampfes und Kollektivierung. Vielmehr hat Eisenstein den Konflikt zwischen Vater und Sohn in Muster archetypischer und/oder religiöser Traditionen eingestellt. So wurde der Regisseur bei der Szene, in der der Vater seinen Sohn tötet, in Wirklichkeit von dem Motiv der Opferung von Isaak (Gen. 22:1-19) inspiriert, während Stepok in der finalen Szene wie Christus aufersteht (Abb. 1). Wie Eisenstein zudem in seinem Tagebuch schrieb, sollten die Schauspieler Posen einnehmen, die an christliche Motiv der Pietà erinnerten (Abb. 2).[10] Auch fällt in dieser Hinsicht eine Kampfszene ins Gewicht, in der die Körper der Kämpfenden die Form eines Kreuzes annehmen (Abb. 3).

Im Jahre 1937 waren die Argumente der Kritiker im Wesentlichen die gleichen wie im Jahr zuvor. E. Weissman sammelte alle Argumente und stellte sie in seinem Artikel Götterdämmerung zusammen, der am 5. Mai 1937 in der Zeitung Sowjetische Kunst erschien: „Statt einer Bezugnahme auf den Klassenkampf überwiegen Aspekte der Blutsverwandtschaft. Das Schicksal des Jungen wird dominiert von den ewiglichen Gesetzen der blutigen Rache, während die Ermordung Stepoks einer religiösen Mystifizierung unterliegt. Stepok in seiner Agonie ähnelt keinem Pionier mehr, sondern Isaak, den sein Vater Abraham opferte“.[11]

Das am 25. April 1937 verlesene Gutachten des Zensurausschusses entdeckte keine Verbesserung. Georgij Awenarius, ein Mitglied des Zensurausschusses merkte an, dass sich in dem Tod Stepoks ein Verweis auf ein Motiv Fjodor Dostojewskijs entdecken lasse, in dem sich „der Vater zu dem Opfer des Alten, und der Sohn sich in das Opfer des Neuen transformiert“.[12] Auf diese Weise erhält der Antagonist die Charakteristik eines Patriarchen, also eines Vertreters der alten, vorrevolutionären Ordnung, der in Anlehnung an das Alte Testament bereit ist, seinen Sohn zu opfern: „Wenn der Sohn seinen Vater verraten hat, dann töte ihn wie einen Hund!“.[13]

In den Bemerkungen zum ersten Drehbuchentwurf, der auf den Januar 1935 datiert, formuliert Eisenstein seine Absicht, einen wichtigen Vergleich zu zeigen: Demnach sollte die Geschichte der Ermordung von Stepok (bzw. Pawlik Morozow) zugleich als eine Erinnerung an den Parteifunktionär Sergej Kirow verstanden werden, der am 1. Dezember 1934 von einem Attentäter erschossen wurde.[14] Nach der Ermordung von Kirow setzte eine Welle politischen Terrors ein. Das Leitmotiv des Jungen, der von Eisenstein als Märtyrer dargestellt wurde, lief daher Gefahr, der bis 1938 andauernden Säuberungs-Kampagne des „Großen Terrors“, zuwiderzulaufen. Zudem waren die offensichtlichen Bibelandeutungen riskant und konnten die nichtaufgeklärten Massen des Dorfauditoriums zu einem Vergleich des racheübenden Vaters und Stalins verleiten, der sich selbst als ‚Vater‘ stilisierte.

Zuletzt versammelte die 1938 von Boris Schumjazkij zusammengetragene Schrift Gegen Formalismus in der Filmkunst noch einmal die Hauptangriffspunkte der Kritik. Ebenso darin enthalten ist ein reuiger Artikel Eisensteins, der am 17. April 1937 unter der Überschrift Fehler von Beshin-Wiese in dem Blatt Sowjetische Kunst erschien.[15] Es war ein Akt der Entsagung, den Eisenstein unter Androhung seines Arrestes vornahm.

Das Verbot von Beshin-Wiese war nicht der einzige Fall der Zensur. Am 27. Juni 1936 wurden von hundert geplanten Projekten nur achtunddreißig Filme von der Hauptkaderverwaltung genehmigt.[16] Nur ein Drittel der geplanten Filmprojekte wurde beendet und noch weniger gingen in den Verleih. Da die Filmproduktion von der staatlichen Genehmigung abhängig waren, bedeute deren Verbot die Unmöglichkeit eines Verleihs, weshalb die Filme im Archiv verschwanden. Hierdurch entstanden nicht nur gravierende künstlerische Verluste, sondern auch ökonomische. 1937 machten die finanziellen Verluste einen Betrag in Höhe von ca. fünfzehn Mio. Rubel aus.[17]


Text: Albina Salata

[1] Dieter Krusche, Reclams Filmführer, Stuttgart 1973, S. 229.

[2] Swjatoslawskij, Aleksej: Первый Всесоюзный съезд советских писателей: взгляд из XXI. века (к 80-летнему юбилею)  [Erster Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller: Blick aus dem XXI. Jahrhundert (anlässlich des 80. Jubiläums)], in: Zeitschrift für Kulturologie , 3/17 (2014), S. 1–19. URL: https://cyberleninka.ru/article/n/pervyy-vsesoyuznyy-sezd-sovetskih-pisateley-vzglyad-iz-xxi-veka-k-80-letnemu-yubileyu (Abrufdatum: 28.10.2022).

[3] Khokhlova, Ekaterina: Forbidden Films of the 1930s, London/New York 1993, S. 90–96.

[4] Zabrodin, Wladimir: К истории постановки «Бежина луга»: Монтаж документов [Zur Geschichte der Aufführung „Beshin-Wiese“. Montage der Dokumente]. URL: http://kinozapiski.ru.jumper.mtw.ru/data/home/articles/attache/242.pdf (Abrufdatum: 19.08.2022).

[5] Sel’vinsky, Ilya: Statement of Literature. Literature of the Peoples of the USSR, in: Voks Illustrated Almanac, 7–8 (1934), S. 113.

[6] Kirillowa, Natalja: Сергей Эйзенштейн: революционер в экранной культуре и мифотворец [Sergej Eisenstein: Revolutionär in der Bildschirmkultur und Mythenbilder], in: Nachrichten der Föderalen Universität zu Ural, Serie 1: Probleme der Bildung, der Wissenschaft und der Kultur, Band 23, Nr. 3, 165 (2017), S. 149–157.

[7] Seton, Мarie: Sergei M. Eisenstein: A Biography, London 1978, S. 351–378.

[8] Weißman, Е.: Гибель богов [Götterdämmerung], in: Sowjetische Kunst, 1937, Nr. 21 (367), 5. Mai, S. 2 (= RGALI /Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst. F. 1923. Findbuch. 2. D. 1975. B. 46).

[9] Eisenstein, Sergej: Pro et contra, антология [Pro et contra. Anthologie], Sankt-Petersburg 2015, S. 331–333.

[10] Eisenstein, Sergej: Режиссерская разработка, наброски кадров и заметки к съемкам фильма [Entwürfe der Szenen und Notizen zum Dreh], 1935 – August 1936 // RGALI. F. 1923. Findbuch. 2. D. 68.

[11] Weißman 1937, S. 2.

[12] Awenarius, Georgij: Обсуждение кусков картины «Бежин луг» [Diskussion des Films ‚Beshin-Wiese‘], 25. April 1937 // RGALI. F. 1923. Findbuch. 2. D. 2032, S. 23 u. 24.

[13] Eisenstein 1935–1936, S. 9 (Meine Übersetzung).

[14] Ebd.

[15] Schumjazkij, Boris: Против формализма в искусстве кинематографа [Gegen Formalismus in der Filmkunst], Moskau/Leningrad 1937.

[16] Khokhlova 1993, S. 90–96.

[17] Turowskaja 2015

Barthes: Die Fotografie als Botschaft ohne Code

Die Frage danach, worin das Paradigma der Fotografie bestehen und wie sich dieses von denen anderen Medien unterscheide, geht der Literaturwissenschaftler Roland Barthes (1915–1980) in verschiedenen seiner Publikationen nach. In seinem zuletzt erschienen Buch Die helle Kammer (1980) versucht Barthes eine Summe zu ziehen.[1] Verfolgte der Wissenschaftler zunächst eine semiologische Theorie, sei er später zu einer phänomenologischen übergegangen.[2] Barthes zufolge sei das fotografische Bild „eine Emanation des vergangen Wirklichen“.[3] Damit ist gemeint, dass sich die Fotografie als Aufzeichnung von etwas Vergangenem und zugleich Realem identifizieren lässt. Und dennoch, so Barthes weiter: „Man kann die Fotografie als Aufzeichnung des Realen betrachten und zugleich an der Uneindeutigkeit des Aufgezeichneten festhalten“.[4]

Barthes geht hier von einer Eigenständigkeit des Bildes aus, die er als Botschaft ohne Code beschreibt. Einmalig im Vergleich zu anderen Medien lässt sich in der Fotografie eine Trennung auffinden, wodurch die Fotografie aus zweierlei Botschaften zugleich bestehe. Zum Einen sei die Fotografie ein mechanisch herbeigeführtes Analogon der Wirklichkeit, dass heißt eine rein denotierte Botschaft, ohne Code. Zum Anderen tendiere die Fotografie zur Konnotation, womit ihr die Botschaft einer „ästhetisch oder ideologisch codierten Bedeutung“ zukomme.[5] Doch die Konnotation unterliegt stets bestimmten Regeln, die kulturell und gesellschaftlich geformt und angewendet werden. Aus dieser Theorie herleitend, entwickelt Barthes den Gedanken, dass die Beschreibung einer Fotografie unmöglich sei, da deren Versprachlichung eine Codierung erzwinge. Barthes behauptet jedoch nicht, dass die Fotografie fortan ohne Deutung auskomme und nur noch als Analogon der Wirklichkeit betrachtet werden könne. Stattdessen erweitert er diese Perspektive um einen konstruktivistischen Ansatz, wonach die fotografische Bedeutung immer wieder neu „von einer bestimmten Gesellschaft und Geschichte herausgearbeitet“ werde.[6]

Text: Kobe Linder

[1] Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/ Main 1985.

[2] Geimer, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2010, S. 79-89.

[3] Zit. n. ebd., S. 80.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 81.

[6] Ebd., S. 83.