Eine Vor- und Frühgeschichte des Films
Das Kino ist ein idealistisches Phänomen. Die Idee, die die Menschen sich davon machten, existierte fix und fertig in ihrem Gehirn, wie im platonischen Himmel, und was uns überrascht, ist weit eher der hartnäckige Widerstand der Materie gegen die Idee, als daß die Technik der Phantasie des Forschers auf die Sprünge half.
André Bazin
Mit Aufkommen des Films als eines der wirkmächtigsten Bildmedien des 20. Jahrhunderts gingen rasch Bemühungen einher, in deren Folge das neue Medium historisch, technisch und ästhetisch in die Geschichte der Kunst eingeschrieben werden sollte. Im Zuge dessen wurden Genealogien und Ursprungsmythen entwickelt, die die Entstehungsgeschichte des Films als Teil einer kontinuierlichen Entwicklung nachzeichneten, die einsetzend mit vorzeitlichen Höhlenmalereien, ägyptischem Totenkult, mittelalterlicher Tapisserien, Illuminationen oder Freskenzyklen, barocken Deckenmalereien bis zu den Panoramen des 19. Jahrhunderts reicht.
Die hier veröffentlichten Beiträge versuchen einer Geschichte jener Apparate und Vorläufermedien nachspüren, die lange vor der Erfindung des Kinos bereits Aspekte des Filmischen zu antizipieren vermochten. Neben der Vermittlung eines einführenden Überblicks sollen die Texte zu einer kritische Schärfung und Abgrenzung der jeweiligen Medientechniken beitragen.
So wie sich die Dinge entwickelten, scheint mir, als müsse man den historischen Kausalzusammenhang zwischen ökonomischer Infrastruktur und ideologischem Überbau in diesem Fall umkehren und in Betracht ziehen, daß die grundlegenden technischen Erfindungen zwar glückliche und günstige, im Verhältnis zu der vorausgegangenen Idee der Erfinder aber eigentlich sekundäre Zufalle waren.
André Bazin
Die Filmgeschichtsschreibung privilegierte die kommerzielle Kinoauswertung abendfüllender Spielfilme und marginalisierte mit den ursprünglichen Konzepten des frühen Kinos auch den Einsatz von Dokumentarfilmen, wissenschaftlichen Filmen, Lehrfilmen und Amateurfilmen. Retrospektiv konstruierten die Filmhistoriker ihr eigenes lineares Modell, das die Vielfalt der Aktivitäten in den 1890er Jahren nicht adäquat repräsentieren kann. Viel Lärm um nichts gab es um die beherrschende Frage: »Wer war der erste Erfinder des Kinos?«
Diese Auffassung von der Periode der Filmerfindung vor 1900 ging von einem unbeirrbaren Fortschrittsglauben aus, der Technologien mit ihrem Erfolg rechtfertigte: Als zwangsläufiger Zielpunkt für die Entwicklung der Filmtechnik galt die Projektion von Spielfilmen (manchmal auch Dokumentarfilmen) für ein Massenpublikum in großen, ortsfesten Kinos.
Für Apparate zur Aufnahme und Wiedergabe bewegter Bilder wurden zwischen 1890 und 1900 in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern Hunderte von Patenten eingereicht. Die meisten davon wurden nach 1896 ausgegeben. Filmhistoriker erklären diesen erfinderischen Tatendrang gewöhnlich mit dem sofortigen Publikumserfolg des neuen Sensationsmediums […].
Deac Rossel
Ohne Prahlerei – das wird jeder Fachmann bestätigen – kann ich sagen, daß ich selbst nach und nach alle sogenannten »geheimnisvollen« Verfahren der Kinematographie erfunden habe. […]
Ich gestehe ohne falsche Scham, daß dieser Ruhm, wenn es denn einer ist, mich mehr als jeder andere glücklich macht. Wollen Sie wissen, wie mir die Idee kam, in der Kinematographie Tricks zu verwenden? Wirklich, das war ganz einfach! Eine Panne des Apparats, dessen ich mich anfangs bediente (ein ganz einfacher Apparat, in dem der Film oft zerriß oder hängenblieb und nicht weiterlaufen wollte), hatte eine unerwartete Wirkung, als ich eines Tages ganz prosaisch die Place de l’Opera photographierte. Es dauerte eine Minute, um den Film freizubekommen und die Kamera wieder in Gang zu setzen. Während dieser Minute hatten die Passanten, Omnibusse, Wagen sich natürlich weiterbewegt. Als ich mir den Film vorführte, sah ich an der Stelle, wo die Unterbrechung eingetreten war, plötzlich einen Omnibus der Linie Madeleine-Bastille sich in einen Leichenwagen verwandeln und Männer zu Frauen werden.
Georges Méliès
Die privilegierte Rolle der manuellen Konstruktion von Bildern in digitalen Medien ist ein Beispiel für einen größeren Trend: der Wiederkehr präkinematischer Techniken des bewegten Bildes. Diese Techniken, die vom Film des 20. Jahrhunderts an den Rand gedrängt und in die Bereiche der Animation und der Spezialeffekte delegiert wurden, tauchen jetzt wieder als die Grundlage des digitalen Filmemachens auf.
Lev Manovich
Die auf dieser Seite versammelten Beiträge entstanden im Rahmen des Seminars „Wahlverwandtschaften. Ursprungsnarrative des Films und ihre Beziehungen zur Geschichte der Kunst“ (Wintersemester 2022/23).
Konzeption/ Umsetzung: Thomas Helbig
Kunstgeschichtliches Institut
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Rostocker Straße 2
60323 Frankfurt am Main