Ein Prognoseversuch am Beispiel der Palestine Papers
von Wencke Müller
Die Wirkung von Leaks auf der policy Ebene ist bisher schwer auszumachen. Eine Umfrage zur Veröffentlichung der sogenannten Palestine Papers versuchte eine Annäherung.
Im Rahmen einer Forschungsarbeit zur Bedeutung von Geheimnis und Leaking in Friedensverhandlungen wurde eine Expertenbefragung ins Leben gerufen, die die Wirkung der sogenannten Palestine Papers auf den Nahost-Verhandlungsprozess bewerten sollte. Die Ergebnisse zeigten, dass die Hoffnung auf eindeutige Erkenntnisse nicht nur durch die Komplexität des Konfliktes so gut wie aufgegeben werden kann.
Schon die offiziellen Zahlen verwirren. Je nach Umfrageinstitut glauben zwischen 20 und 70 Prozent der Palästinenser den Inhalten der Leaks nicht. Was die Intention von Al-Jazeera betrifft, sind die Zahlen zwar etwas kohärenter. So glauben laut Palestinian Center for Public Opinion (PCPO) 60 Prozent der Palästinenser, Al-Jazeera wollte durch die Veröffentlichung die Wahrheit ans Licht bringen, und auch laut Near East Consulting (NEC) sehen 60 Prozent in der Veröffentlichung reine Verhandlungstaktik. Und trotzdem, eine Mehrheit (88%) der palästinensischen Bevölkerung sieht vor allem Israel als Profiteur der Enthüllungen (NEC).
Die Expertenbefragung hatte darauf aufbauend zum Ziel, die Wirkung der Leaks auf den Verhandlungs- und Friedensprozess und in langfristiger Perspektive zu bestimmen. Für zwei relevante Analyseebenen sollten ausgewählte Nahost-Experten ihre Prognose abgeben: zum einen in Bezug auf die Wirkung der Palestine Papers auf den Verhandlungs- und Friedensprozess (Verhandlungssituation) als solchen und zum anderen für die Wirkung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Verhandlungsakteuren und deren Bevölkerungen (Vertrauensebene, Legitimität).
Für die erste Ebene lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Ein Großteil der Befragten rechnen den Palestine Papers und ihrer Veröffentlichung keinen nennenswerten Stellenwert zu, weniger noch in ihrer Wirkung auf die Verhandlungsebene. Da ein Verhandlungsprozess gegenwärtig ohnehin nicht stattfinde, blieben die Palestine Papers im Kern bedeutungslos, so die Argumentation hier. Eine zweite Expertenposition spricht der Veröffentlichung hingegen explizit negatives Wirkungspotential zu. Das Hauptargument verweist hier auf den mit der Veröffentlichung einhergehenden Vertrauensverlust zwischen den Verhandlungsakteuren. Zudem verwiesen die Palestine Papers auf die schwache Position und Angepasstheit der palästinensischen Vertretung. In diesem Punkt sehen andere Beobachter allerdings auch eine Chance, denn für Israel wird es in Zukunft unmöglich sein, die palästinensische Seite als einen unglaubwürdigen und kompromisslosen Partner darzustellen, zeigen die Al-Jazeera Leaks doch das Gegenteil. Hierin, so ein Teil der Befragten, bestehe insgesamt der positive Charakter von Leaks in Verhandlungssituationen. Der Verhandlungsprozess sei nun transparent und gebe den Verhandlungsführern mehr Freiheit. Auf einem indirekten Weg sei auch die Tatsache positiv, dass die Verhandlungsführer und Regierungen durch die Angst vor zukünftigen Enthüllungen unter Druck stünden „ihre Verhandlungspositionen im Vorhinein stärker in der eigenen Bevölkerung zu vermitteln – Stichwort public diplomacy – und mögliche Konzessionen vorzubereiten“, so die Antwort einer Befragten. Skeptisch sei in diesem Kontext jedoch die gegenwärtige innenpolitische Konstellationen zu sehen, allen voran in Israel (Regierung Netanyahu, Orthodoxe, Siedlungsbau), die den Verhandlungsspielraum stark einschränkten.
Für die zweite Ebene, die die Wirkung der Leaks für die Bevölkerung herausstellen wollte, waren folgende Ergebnisse zentral: Zunächst ergab die Befragung, dass die Veröffentlichung zu einem Wissenszuwachs und damit zum Abbau der Informationsasymmetrie zwischen Verhandelnden und ‚Verhandelten‘ beitragen konnte, vor allem seitens der arabisch-israelischen und der palästinensischen Bevölkerung. Der arabisch-israelischen Bevölkerung werde sodann durch die Veröffentlichung die Möglichkeit gegeben, ihre Führung kritisch zu prüfen und ihr legitimes Handeln zu hinterfragen. Diese nun erstmals existierende Kontrollmöglichkeit könne zu einer ihre partizipatorischen Rechte einfordernden Bevölkerung führen, die versuchen wird, sich aktiv in politische Verhandlungsprozesse einzubringen und diesemitzugestalten. Die Befragten waren sich dahingegen einig, dass die Veröffentlichung der Leaks insgesamt zu einem Legitimationsverlust der Verhandlungsakteure führen werde. Dass hierdurch die Implementierung eines möglichen Friedensvertrages in Zukunft in Gefahr stehe, schlossen die meisten hingegen aus.
Zusammenfassend auf die Frage, wie die Veröffentlichung der Palestine Papers im Kontext des Nahost-Friedensprozesses zu begreifen ist, konnten die Tendenzen ausgemacht werden, dass sich Auswirkungen vordergründlich auf die Ebene Verhandlungsakteure-Bevölkerung konzentrieren. Auf dieser Ebene wurden die Leaks als tendenziell positiv begriffen, für erstere hingegen weniger wirkungsstark. Nichtsdestotrotz schien es, als seien die veröffentlichten Dokumente in ihrer Wirkungsmacht zunächst einmal fragwürdig zu betrachten, nicht zuletzt durch den leidigen Status Quo im Nahost Friedensprozess und durch die Tatsache, dass gegenwärtig keine Verhandlungen stattfinden: „It exposed the futility of peace talks“ resümierte ein Beobachter.
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