Formen von Informalität: „Policy-Leaks“ vs. „Politics-Leaks“

von Christoph Bieber

Die mediale Darstellung von Leaks lässt leicht darauf schließen, dass Leaks ein zwar interessantes, da neues, aber zumindest einheitliches Phänomen im internationalen System darstellen. Christoph Bieber von der Universität Duisburg-Essen bricht mit dieser Vor- und Darstellung, indem er anhand bestimmter vergangener Veröffentlichungen unterschiedliche Arten des Leaking differenziert, und dabei sowohl „Policy-“ wie auch „Politics-“ Leaks identifiziert.

Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive z.B. die Tatsache erstaunlich, dass die Ereignisse um die so genannten „WikiLeaks-Enthüllungen“ erst mit dem vierten Leck des Jahres 2010 zu einer wirklich intensiven, weltweit geführten Diskussion vor einer breiten Öffentlichkeit geführt haben. Schließlich hatten die Transparenz-Aktivisten um Julian Assange bereits seit dem Frühjahr mit spektakulären Veröffentlichungen auf sich aufmerksam gemacht: den Auftakt bildete das „Collateral Murder“-Video vom 5. April 2010, für das Videoaufnahmen eines aus einem US-Kampfhubschrauber geführten Angriffs auf eine Gruppe von Zivilisten in Bagdad entschlüsselt und über eine Website zugänglich gemacht worden waren. Aus dem Begleittext zur Video-Veröffentlichung erschließt sich unmittelbar das Selbstverständnis von WikiLeaks als „Transparenz-Akteur“, der mit dieser Aktion durchaus ein konkretes Ziel verfolgt:

WikiLeaks obtained this video as well as supporting documents from a number of military whistleblowers. WikiLeaks goes to great lengths to verify the authenticity of the information it receives. We have analyzed the information about this incident from a variety of source material. We have spoken to witnesses and journalists directly involved in the incident. WikiLeaks wants to ensure that all the leaked information it receives gets the attention it deserves. In this particular case, some of the people killed were journalists that were simply doing their jobs: putting their lives at risk in order to report on war. Iraq is a very dangerous place for journalists: from 2003- 2009, 139 journalists were killed while doing their work. (Quelle)

Auf diese visuelle Intervention in die Debatte um den Irak-Krieg folgten im Juli und Oktober die im Verbund mit prominenten Medienakteuren wie der „New York Times“, der Londoner Tageszeitung „The Guardian“ sowie dem Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ veröffentlichten „Afghan War Logs“ bzw. „Iraq War Logs“. Dabei handelte es sich um Militärprotokolle mit detaillierten Schilderungen von Kampfhandlungen in den beiden Kriegsgebieten, darunter auch die Dokumentation und Interpretation konkreter Vorfälle, die in einigen Fällen als Kriegsverbrechen eingestuft werden müssen. Das Datenmaterial stammte aus einem „Leck“, einer unautorisierten, bislang noch immer nicht vollständig aufgeklärten Informationsweitergabe aus dem Umfeld der US-Streitkräfte. Das Datenmaterial war aus offenbar nur unzureichend gesicherten Computernetzwerken kopiert und weitergegeben worden, WikiLeaks hatte die Daten erhalten, wenn nötig lesbar gemacht, und schließlich in einen eigenständigen oder mit Medienpartnern organisierten Publikationsprozess eingebracht.

Im Sinne einer fachwissenschaftlichen Systematisierung kann in den drei vorgenannten Fällen von einer Art „Policy-Leak“ gesprochen werden: der Weitergabe von Informationen, die einem konkreten Politikfeld zugeordnet werden können und die mit der Absicht veröffentlicht werden, gezielt die Handlungen politischer Akteure innerhalb dieses Politikfeldes zu beeinflussen. Mit anderen Worten: das „Collateral Murder“-Video und die Militärdokumente aus Afghanistan und dem Irak folgten der Absicht, durch eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung eine Beendigung der Kriegshandlungen und damit eine massive Veränderung in der US-Außenpolitik herbeizuführen. Das publizierte Material wendete sich aufgrund des besonderen Charakters der nicht für die Publikation bestimmten Dokumente gegen die handelnden Akteure, deren offizielle („formale“) Kommunikation in manchen Fällen im Widerspruch zu den Inhalten der geleakten Dokumente stand.

Informalität, an dieser Stelle verstanden als die Nutzung von Kommunikationskanälen und –ressourcen außerhalb formaler Strukturen politischer Akteure und Verfahren, diente hier der Herbeiführung eines Politikwechsels, zu dem die USA als Hauptakteur gedrängt werden sollte. Die Aufdeckung von Missständen und individuellem Fehlverhalten sowie die gezielte Erreichung einer möglichst weit reichenden, tendenziell globalen Sichtbarkeit erinnert an ein Strukturprinzip modernen Regierens, bei dem politische Akteure selbst massenmediale Öffentlichkeit nutzen und als Resonanzboden zur Durchsetzung eigener politischer Programme einsetzen. Dabei wird versucht, den Verlauf politischer bzw. parlamentarischer Entscheidungsprozesse durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung vorzustrukturieren, um sich gegen Vertreter der Opposition oder parteipolitische Konkurrenten durchzusetzen. WikiLeaks hat es verstanden, einen ähnlichen Mechanismus „von außen“ an den politischen Prozess anzukoppeln und stellvertretend für andere „Transparenz-Akteure“ eine Blaupause geliefert. Lecks dienten dabei als Verbindung zwischen dem abgesicherten, „geheimen“ Arbeitsmodus eines politischen Akteursnetzwerks (an dem u.a. das US-Außenministerium, US-Militär/Militärbürokratie oder internationale Bündnispartner beteiligt waren), der allgemeinen Öffentlichkeit, aber auch den unmittelbaren Gegnern in den jeweiligen bewaffneten Konflikten.

Von dieser politikfeldbezogenen Einflussnahme außerhalb konventioneller (und demokratisch legitimierter) Verfahren lässt sich das Leaking der diplomatischen Depeschen im November 2011 zunächst einmal durch den unterschiedlichen Charakter der publizierten Dokumente abgrenzen. Gegenstand des Lecks waren diesmal die Inhalte der Kommunikation innerhalb einer Behörde. Die Tatsache, dass es sich dabei um das US-Außenministerium mit seinem weltweit verzweigten Netzwerk handelte, erweiterte das Wirkungsspektrum jedoch erheblich: in den „diplomatic cables“ fanden sich nicht nur Recherchen über internationale Spitzenpolitiker, sondern auch Dossiers über die innenpolitische Situation einzelner Länder oder auch Gesprächsprotokolle und Notizen, die von Informanten an US-Diplomaten herangetragen worden waren. Die Inhalte der einzelnen diplomatischen Depeschen konnten somit völlig unterschiedliche Themen einschließen, ein kohärenter Politikfeldbezug des geleakten Materials lag hier nicht vor. Aus diesem Grund lässt sich im Falle von „Cablegate“ eher von einem „Politics-Leak“ sprechen, also der Veröffentlichung von Dokumenten auf der Prozessebene. Konkret handelte es sich dabei um Materialien aus dem „Throughput“-Bereich einer Behörde, die ursprünglich nicht oder zumindest nicht unmittelbar zur Veröffentlichung bestimmt waren.

Dementsprechend beschreibt der Begriff der Informalität an dieser Stelle etwas anderes: die WikiLeaks-Enthüllungen dienten zunächst der Sichtbarmachung von üblicherweise im Verborgenen ablaufenden Kommunikationsprozessen innerhalb einer wichtigen Behörde. Die öffentlich einsehbaren „cables“ vermittelten dabei einen Blick auf „informelle Handlungen“ bzw. „informelle Arbeitsgrundlagen“ eines Akteurs, die nicht zwingend mit politischen Handlungen bzw. einem konkreten „Output“ verbunden sein mussten und daher in vielen Fällen subjektive Aussagen und Positionen, vertrauliche Handlungsanweisungen und Urteile oder schlicht unfertige, rohe Datensammlungen enthielten. Diesen Gegensatz hatte der britische Geschichtswissenschaftler Timothy Garton Ash überaus treffend beschrieben: „A diplomat´s nightmare is a historian´s dream“ (Quelle).

Prof. Dr. Christoph Bieber hat an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen die Stiftungsprofessur für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft inne. Er befasst sich mit ethischen Fragen im politischen Entscheidungsfindungsprozess, betreibt das Blog Internet und Politik und nahm bereits an der WikiLeaks-Podiumsdiskussion teil.

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