Der Scheintod der Schutzverantwortung

von Julian Junk

Am 7. November 2011 veröffentlichte David Rieff unter dem Titel "R2P, R.I.P." in der New York Times einen vielbeachteten Nachruf auf die sogenannte "Responsibility to Protect" (R2P), die Schutzverantwortung der Staaten der internationalen Gemeinschaft auf der Basis der menschlichen Sicherheit. Diese durch das Schlussdokument der UN Vollversammlung im Jahr 2005 kodifizierte Norm stellte das vorläufige Ende einer langen Entwicklung dar, mit welcher die internationale Gemeinschaft Lehren aus dem Scheitern in Ruanda und in Srebrenica in den 1990er Jahren ziehen wollte. Zwei fundamentale Prinzipien, das der staatlichen Souveränität und das der internationalen Solidarität, sollten durch einen klaren Kriterienkatalog neu ausbalanciert werden.

David Rieff trägt diese mit so vielen Erwartungen gestartete noch junge Norm angesichts der internationalen Intervention in Libyen zu Grabe. Sie ruhe in Frieden: weder seien die Zukunftsaussichten der Libyer absehbar positiv (die Jubelarien auf ein demokratisches und befriedetes Libyen kämen zu früh), noch sei einmal mehr in diesem Fall ausreichend darüber debattiert worden, dass Krieg, der mit der R2P zu einem ganz normalen politischen Instrument geworden sei, nicht ohne hohe moralische Risiken zu führen sei. Das wichtigste Argument von Rieff hingegen ist, dass der Regimewechsel ein offensichtlich klares Ziel der NATO-geführten Angriffe gewesen sei und damit eine klare Überschreitung der Grenzen des UN-Mandats vorläge. Die Veto-Mächte China und Russland würden folglich keiner zukünftigen Resolution zustimmen, die einen solch expliziten Bezug auf die Schutzverantwortung nehme.

Diese Argumentation der Schwächung der R2P durch Libyen ist seit dem Sommer 2012 vielfach und insbesondere in der deutschen außenpolitische Elite immer wieder hörbar. Hierzulande dient sie manches Mal nicht zuletzt einer post-hoc Rechtfertigung der deutschen Enthaltung im UN Sicherheitsrat (siehe für eine Analyse des deutschen Entscheidungsprozesses: Wolfgang Seibel in der FAZ: "Die Prinzipienlosigkeit als Prinzip", 24. Oktober 2011), wobei die aktuelle Rhetorik bspw. des Auswärtigen Amtes ein Umdenken als Konsequenz aus der Libyenentscheidung erkennen lässt. Das Ringen um eine UN-Sicherheitsratsresolution zur Verurteilung des Konflikts in Syrien scheint diese Argumentation der Schwächung jedoch zu bestärken.

Heute nun gehen die Verhandlungen um eine Syrien-Erklärung im Sicherheitsrat in eine neue Runde. Wie es aussieht, sind jedoch die Chancen auf eine Einigung gar nicht schlecht, nachdem Kofi Annan am vergangenen Freitag nachdrücklich vor dem Sicherheitsrat eine Unterstützung seiner Mediationsbemühungen eingefordert und eine von Frankreich vorbereitete Entwurfsfassung eines "Presidential Statements" Annans Sechs-Punkte Plan aufgegriffen hat. Wie es scheint, wird nun Russland diese Erklärung unterstützen. Wiewohl es hier bei weitem nicht um eine militärische Intervention gehen wird (und wohl nach Lage der Dinge auch schwerlich zukünftig gehen wird) und wiewohl es sich eventuell eben nicht um eine Resolution sondern eine Erklärung handelt, die Assad noch nicht einhellig verurteilt, so beginnt die Ablehnungsfront gegenüber einer politischen Einmischung und einer Verurteilung des Assad-Regimes doch zu bröckeln.

Die Todesahnung bezüglich der R2P ist verfrüht und beruht auf einer leider nur allzu gängigen analytischen wie empirischen Verengungen: empirisch wird die R2P zum einen gerne auf militärisches Eingreifen verengt, analytisch auf eine völkerrechtliche Bewertung:

Zur empirischen Verengung: bei der R2P ging es immer schon darum, den Interventionsbegriff dahingehend zu erweitern, dass mehrere Verantwortungsbereiche zusammengeführt werden, die zuvor nur fragmentiert verregelt waren: die Verantwortung zur Prävention (prevent), die zum Wiederaufbau (rebuild) und die zur internationalen Reaktion - also nicht nur die oftmals einzig erwähnte responsibility to react. Wie auf sehr eindrücklichen Diskussionsveranstaltungen in Berlin u.a. mit Edward Luck, dem Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für die R2P, im Deutschen Bundestag im Dezember 2011 und mit Jan Eliasson, dem designierten stellvertretenden UN-Generalsekretär, im März 2012 in der DGAP von vielen Teilnehmern bestätigt wurde, scheint die Frage einer breiteren Operationalisierung der R2P und hier insbesondere die Verantwortung zur Prävention im Moment in den UN-internen Diskussionen einen sehr großen Stellenwert zu haben. Weiterhin ist die Reaktionsdimension der R2P auch nicht nur auf das militärische also das Kapitel 7 der UN Charta zu verengen. Maßnahmen ohne direkte Gewaltanwendung (Kapitel 6) sowie die stärkere Einbindung regionaler Organisationen (Kapitel 8 sowohl in Verbindung mit Kapitel 6 als auch mit Kapitel 7) sind genauso Teil des Instrumentariums der R2P - siehe hier auch Annans Mediationsbemühungen in Syrien.

Während also die R2P in weiten Teilen sehr lebendig weiterentwickelt wird, ist sie bzgl der militärischen Komponente in der Tat scheintot, d.h. sie wirkt nur leblos in diesem speziellen Fall. In Syrien ist nun einmal mit einem höheren militärischen Risiko einer Intervention zu rechnen, was die Interventionsbereitschaft generell senkt: dies bezieht sich zum einen auf die Qualität des Sicherheitsapparats von Assad und zum anderen auf die Konfliktkonzentration in größeren Städten. Weiterhin erscheinen im Moment die Folgen eines Eingreifens angesichts der geopolitischen Komplexität in einem Bogen vom Nahen Osten bis hin zum Iran zu schwer beherrschbar zu sein. Zudem ist die Opposition noch stark fragmentiert. Aber auch im Falle Libyens war man lange Zeit nicht von einer Intervention ausgegangen und viele Argumente klangen recht ähnlich. Viel wird vom weiteren Konfliktverlauf und von der Position der Arabischen Liga abhängen.

Weiterhin gilt es zu bedenken, dass das aktuelle chinesische und russische Verhalten gegenüber autokratischen Staaten ins Muster passt (man denke nur in weiten Teilen an die Diskussionen um den Sudan). Libyen erscheint hier eher als eine Abweichung. Um eine Kapitel 7 Resolution durchzusetzen war in den letzten Jahren schon immer ein langer Atem und massiver Druck auf Russland und China notwendig.

Zur analytischen Verengung: völkerrechtliche Analysen (und diese sind immer noch dominant im Bezug auf die R2P) kommen regelmässig zum Schluss, dass die R2P keine Norm im völkerrechtlichen Sinne sei. Es müsste jedoch stärker den verschiedenen Stufen und auch nicht-linearen Entwicklung einer Normentwicklung auf internationaler Ebene Rechnung getragen werden. So gibt es sich verfestigende diskursive Praktiken von staatlichen wie nicht-staatlichen Akteuren, die die R2P in so unterschiedlichen Fällen wie Darfur, Libyen, Syrien, Myanmar oder Georgien als rhetorischen Bezugsrahmen nehmen und somit normativ verfestigen. Diese Aspekte korrespondieren nur bedingt mit der völkergewohnheitsrechtlichen Einordnung von Rechtsüberzeugung und Staatenpraxis und bedürfen eines offeneren Analyserahmens, der eine stärkere Aufmerksamkeit auf die diskursiven Praktiken verschiedener Akteure legt. Die Entwicklung der R2P in ihrer Breite kann in diesem Sinne nur in der Kombination mit tatsächlicher Akteurspraxis und medial-öffentlicher Aufmerksamkeit verstanden und beurteilt werden - also in Form einer sicherheitskulturellen Analyse. Nur dann erkennt man die Lebendigkeit der Norm: Totgesagte leben länger ...

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