Von Wencke Müller
Am 23. Januar finden Parlamentswahlen in Jordanien statt. Erst im Juni letzten Jahres wurde im Rahmen des Reformprozesses ein neues Wahlgesetz verabschiedet; es folgten politische Machtkämpfe zur Ausgestaltung des Gesetzes, Boykottaufrufe, die Auflösung des Parlaments und die Ankündigung vorgezogener Parlamentswahlen sowie die mehrfache Verschiebung des Wahltermins. Im November erlebte das Land, nachdem die Preise für Öl und Gas erhöht wurden, landesweit die größten Demonstrationen seit Ausbruch des „Arabischen Frühlings”, die diesmal mitunter – und das war neu – gegen den König gerichtet waren. Ein Großteil der jordanischen Bevölkerung beklagt, das neue Wahlgesetz kaum zu verstehen. Unterdessen hat die Opposition, bestehend aus dem politischen Arm der Muslimbrüder sowie linken und unabhängigen Vereinigungen, ihren Boykott der Wahl bestätigt. Das politische Klima Jordaniens könnte dieser Tage kaum diffuser sein, doch gleichzeitig ist der Ausgang der gegenwärtigen Machtkämpfe im Kontext des breiteren Reformprozesses wegweisend für die Zukunft des Landes.
Anfang Oktober 2012 löste König Abdullah II. nach anhaltenden Demonstrationen das Parlament auf und verkündete vorgezogene Wahlen gegen Ende des Jahres. Kurz darauf ernannte er mit Abdullah Ensour den fünften Premierminister seit Beginn der überregionalen Protestserie 2011, die auch Jordanien nicht unberührt ließ. Auch wenn die Protestzüge dort, ähnlich wie in den verbleibenden Monarchien der arabischen Welt, relativ überschaubar blieben, finden seit Anfang 2011 beinahe wöchentlich landesweit Demonstrationen nach dem Freitagsgebet statt. Forderungen sind unter anderem die Fortführung des Reformprozesses, die Bekämpfung der Korruption und eine demokratischere Form des Wahlrechts.
Ende des Monats wird nun ein neues Parlament gewählt. Die anstehenden Wahlen werden von einer heftigen Debatte zwischen Opposition und Regierung begleitet, die als Teil eines größeren Reformdiskurses zu sehen ist. So antwortete König Abdullah II. seinerzeit auf die sich ausweitenden Demonstrationen 2011 mit der Ankündigung eines umfangreichen Reformprozesses und setzte ein Nationales Dialogkommittee ein. Teil des Prozesses sollte ein neues Wahl- und Parteiengesetz sein, um der Opposition teilweise entgegenzukommen, was im Juni 2012 vom Parlament verabschiedet und im Juli vom König gebilligt wurde.
Das neue Wahlgesetz führte eine Zweitstimme ein, mit der auf nationaler Ebene Parteilisten gewählt werden können. Zunächst sollten lediglich 17 der insgesamt 140 Sitze (12 Prozent) des Unterhauses politischen Parteien vorbehalten werden. Da die Muslimbrüder daraufhin ihren Boykott der Wahlen ankündigten, wurde die Anzahl der Parlamentssitze auf 150 erhöht, wovon nun 27 für Parteien vorgesehen sind (18 Prozent). Die restlichen 123 Parlamentarier werden direkt auf Wahlkreisebene mit der Erststimme nach dem alten „one man, one vote“-System gewählt und dürfen nur als individuelle Kandidaten antreten.
Darüber hinaus wurde unter dem neuen Wahlgesetz erstmalig eine unabhängige Wahlkommission geschaffen, die den Wahlprozess organisiert und beobachtet. Zwei weitere, weniger auf das Wahlsystem direkt bezogene Entwicklungen sind relevant, die – so scheint es – die Wahl dem Königshaus loyaler Parlamentarier sichern sollte. So waren Sicherheitskräfte und Angehörige des Militärs, die meist einen tribalen Hintergrund haben, in einer älteren Version des Gesetzes erstmalig befugt, an der Wahl teilzunehmen. Dieser Absatz wurde später wieder gestrichen. Tatsächlich wurden drei zusätzliche Parlamentssitze für Frauen aus ländlichen, von Stämmen dominierten Wahlkreisen geschaffen, womit die ohnehin überrepräsentierten Distrikte noch mehr Einfluss im Parlament gewinnen. Die haschemitische Dynastie sichert sich traditionell ihre Machtbasis durch die Unterstützung und enge Verbindung zu ländlichen Stammeseliten.
Das neue Wahlgesetz geht der Opposition vor diesem Hintergrund nicht weit genug und sie hat ihrerseits den Boykott der Wahlen angekündigt. Neben dem politischen Arm der Muslimbrüder, der Islamic Action Front (IAF), betrifft das auch unabhängige, nationalistische und linke Vereinigungen, wie die jordanische Social Left Party und Bündnisse aus verschiedenen Jugendbewegungen. Letztere sind insbesondere seit den Ereignissen des „Arabischen Frühlings“ entstanden. Sogar einige tribale Gruppen stehen dem neuen Gesetz skeptisch gegenüber, weil es vor allem die größten Stämme bevorzugen soll. Dabei ist der größte Kritikpunkt der Opposition, dass lediglich 18 Prozent der Parlamentssitze für politische Parteien reserviert ist, wohingegen der Großteil durch parteiunabhängige Kandidaten besetzt wird, die sich vor allem durch Stimmen von Stammesmitgliedern ihre Wahl sichern können. Die Intention des Königs, durch das neue Gesetz die Entstehung einer breiten Parteienlandschaft zu fördern, hat somit ihr Ziel verfehlt. Die Opposition fordert proportionale Listen und einen Anteil von mindestens 50% der Parlamentssitze für politische Parteien und mehr Rechte für das Parlament insgesamt. Außerdem richtet sich ihre Kritik gegen das Wahlformat der zweiten Kammer, dem Senat, dessen Mitglieder auch unter dem neuen Wahlgesetz vom König ernannt werden.
Es gibt weder Regularien, die den Umgang mit Parteispenden regeln, noch solche, die den Spielraum privater Medien kontrollieren, was gerade diejenigen Kandidaten für ihre Vorteile nutzen können, die private Medien besitzen. 139 der Kandidaten, die in Jordanien zur Parlamentswahl antreten, hatten bereits in früheren Parlamenten eine Funktion. Diese Tatsache werten viele Beobachter und insbesondere die Jugend als Beweis dafür, dass sich real nur wenig verändern wird. Unterdessen versteht ein Großteil der jordanischen Bevölkerung die neuen Gesetzgebungen kaum und ist von den ständigen Veränderungen eher verwirrt, zumal täglich neue Meldungen diskutiert werden. Höher als 40 bis 50 Prozent wird die Wahlbeteiligung nach Einschätzung von Beobachtern nicht ausfallen, wobei davon auszugehen ist, dass auch dieses Mal überwiegend Mitglieder des gleichen Stammes und Verwandte gewählt werden.
So scheint die Reform des Wahl- und Parteiengesetzes, die die Forderungen der Opposition nur wenig berücksichtigt, vor allem kosmetischer Natur zu sein und viele Jordanier in der Vermutung zu bestätigen, dass das Königshaus nicht wirklich an Reformen interessiert ist. Die Kritik am König, der traditionell die Funktion einer Art Identifikationsfigur und Bindeglied für alle Jordanier erfüllte, nahm in den letzten Monaten sichtbar zu. So zuletzt im November 2012, als es zu den größten, landesweiten Demonstrationen der letzten Jahre kam, nachdem die Preise für Treibstoffe und Gas durch die Streichung von Subventionen um beinahe 50% erhöht wurden. Noch in der selben Nacht gingen Tausende Menschen in Amman und in zwölf weiteren Städten des Landes auf die Straße um gegen die Preiserhöhung und die Verschlechterung der sozio-öknomischen Situation zu demonstrieren. Die Demonstrationten hielten einige Wochen an; nach Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften gab es mehrere Verletzte und ein Mensch kam ums Leben. Zwei Dynamiken waren diesmal neu. Zum einen richtete ein Teil der Demonstranten erstmalig seine Wut direkt gegen den König. Protestrufe wie „Either fix it now, or follow Abdine [Ben Ali]“ und „This Jordan is our Jordan, and the traitor should get away from us” waren zu hören. Zum anderen hielten die Demonstrationen auch in jenen Gegenden an, die vor allem von Stämmen dominiert werden.
Die Kritik am König darf nicht mit einer Verneinung der Monarchie per se gleichgesetzt werden, sondern zeigt vor allem, wie Abdullah II. unter Druck steht. Im Vergleich zu seinem Vater, König Hussein I., genießt er weitaus weniger Popularität. Ihm ist es mitunter nicht gelungen, die Loyaltität der Stämme zu sichern, die einen Großteil der sozialen Strukturen im Land kontrollieren. Stattdessen besetzte er zentrale Schlüsselpositionen in erster Linie mit im Westen studierten Geschäftsleuten.
Zu den innenpolitischen Spannungen kommen regionale Konflikte hinzu, allen voran die Syrienkrise, deren Auswirkungen unmittelbar in Jordanien zu spüren sind. Anfang des Jahres waren knapp 170.000 syrische Flüchtlinge mit dem UNHCR registriert (oder warteten auf ihre Registrierung), die Regierung geht davon aus, dass knapp 300.000 syrische Flüchtlinge im Land sind. Es kam zudem zu Zwischenfällen an der syrisch-jordanischen Grenze. Ein Großteil der Flüchtlinge lebt in prekären Lebensverhältnissen in den nördlichen Bezirken und in Flüchtlingslagern, wovon das Zaatari-Camp in der Wüste bei Mafraq das größte ist. Auch wenn Jordanien stets seine Aufnahmebereitschaft betont und langjährige Erfahrungen in der Aufnahme von Flüchtlingen hat, entstehen mit den steigenden Flüchtlingszahlen infrakstrukturelle sowie sozio-ökonomische Belastungen, die sicherlich zu bewältigen wären, jedoch schwerer, wenn Gelder an anderer Stelle verschwinden.
Die Mehrheit der Jordanier zieht nach wie vor den Weg der Reformen einem Systemumsturz vor, gleichwohl bringt das gegenwärtige politische Klima etwas Explosives mit sich. Die Novemberdemonstrationen mündeten aus verschiedenen Gründen bisher nicht in einen langanhaltenden Volksaufstand, der das Regime grundlegend in Frage stellt. Zum einen wurde keine kritische Masse erreicht, zum anderen ist die Opposition in ihrer Haltung gegenüber dem Regime gespalten. So betonen die IAF und linke Bündnisse stets, dass sie keinen Sturz des Regimes, sondern Reformen anstreben. Darüber hinaus spielt der syrische Bürgerkrieg eine Rolle, denn viele Jordanier fürchten sich vor einer ähnlichen Situation im eigenen Land. Auch externe Akteure wie die USA und die Golfstaaten sind stark an der Stabilität der jordanischen Monarchie interessiert. Abhängig davon jedoch, wie die Wahl verlaufen wird, ob es zu groben Unregelmäßigkeiten kommt und wie sich die Opposition nach der Wahl positionieren wird, vor allem aber, wie der König den weiteren Reformkurs gestaltet, wird der nächste Anlass zu einem allgmeinen Volkszorn womöglich weniger glimpflich ausgehen.
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