von Fabian Hanschen
Flüchtlinge sind schutzbedürftige Personen, doch in Berlin-Hellersdorf wurden sie vergangene Woche mit Hitlergruß und Drohungen begrüßt. Es ist nicht nur die gelegentliche Folge rassistischer Hetze von NPD und „Pro Deutschland“, sondern die Konsequenz der Debatte um Flucht und Asyl, die den Nährboden für diese Ausbrüche sät: In Deutschland und Europa sind oft nicht die Flüchtlinge die zu schützenden Akteure, sondern das Asylsystem oder gleich Europa als Ganzes.
Dabei ist doch eigentlich alles so einfach: Flüchtlinge brauchen Schutz. Wem das kein logischer Schluss ist, der findet diese Aussage in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951: Wer aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt wird, der gilt als Flüchtling und somit als schutzbedürftig. Doch diese Einsicht scheint hier bisher keineswegs angekommen zu sein und so lautet der Slogan von Amnesty International in der Asylpolitik immer noch "Flüchtlinge brauchen Schutz". Dieses Motto ist dabei nicht etwa Ausdruck der Einfallslosigkeit der CampaignerInnen, sondern ein verzweifelter Ruf in die europäische und deutsche Öffentlichkeit. Statt die Forderung mit der Gegenfrage „Ja was denn sonst?“ zu beantworten, fragen BürgerInnnen „Und wer schützt uns?“, wie in diesem Beitrag der Tagesschau. Dabei bleibt es nicht nur beim Fragen, Taten ließ ein Restposten-Supermarkt-Besitzer in Bramsche bei Osnabrück folgen: Um angeblich kriminelle AsylbewerberInnen aus dem nahen Wohnheim fernzuhalten, verbat der Filialleiter kurzerhand Nicht-EU-BürgerInnen den Zutritt zu seinen Räumlichkeiten. Durchgesetzt wurde dies von Angestellten einer Sicherheitsfirma und einem mehrsprachigen Hinweisschild (in arabischer, persischer, serbokroatischer und albanischer Sprache).
Diese Beispiele aus jüngster Zeit zeigen auf, was WissenschaftlerInnen schon seit Jahren auf verschiedenen Ebenen festgestellt haben: In Deutschland und Europa werden Flüchtlinge nicht als schutzbedürftige Akteure, sondern als Gefahr für den sozialen Frieden wahrgenommen. Dieser Akt der Versicherheitlichung macht aus Schutzsuchenden Kriminelle und aus Flüchtlingen eine Bedrohung. Sara Léonard stellt beispielsweise fest, dass die Einrichtung der Grenzschutzagentur FRONTEX und deren Aufgaben wie Grenzschutz, Risikoanalysen und Trainings für Grenzschutzbehörden versicherheitlichende Praktiken darstellt. In Bezug auf die Grenzschutzoperationen sprechen ihrer Meinung nach zwei Beobachtungen dafür:
First of all, such coordinated actions amongst various states, particularly in the case of sea operations, have traditionally been deployed to address morde traditional security issues such as a military attack from a third state, piracy or drug-trafficking. Secondly, these joint operations at sea can also be considered extraordinary because the legality of some of their aspects has been called into question. 1
Auf diskursiver Ebene stellen Dorothee Post und Arne Niemann eine effektive Verbindung der Themen Kriminalität, ökonomische und kulturelle Sicherheit fest und sprechen von einem "Sicherheitskontinuum" zwischen Migration, Terrorismus und Kriminalität.2 Das verschiebt den Fokus der Debatte, Flüchtlinge gelten nicht als primär schutzbedürftig, sondern werden zuerst mit der Gefahr von Kriminalität und der Überforderung für die aufnehmenden Gesellschaften verbunden.
Die angebliche Überforderung des Asylsystems und die daraus resultierende Sorge der Bevölkerung wird von Äußerungen wie denen von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich bekräftigt, der die gestiegenen Antragszahlen im Juli „alarmierend“ nannte und auf eine Beschleunigung der Asylverfahren drängte. Sein Unionskollege Wolfgang Bosbach sah einige Kommunen sogleich an der „Grenze der Belastbarkeit“. Das mag zwar für die momentane Ausstattung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gelten, generell zeigen aber andere europäische Länder, dass eben diese „Grenze der Belastbarkeit“ eine Frage des Willens ist. Das klassische Beispiel ist Schweden, das 2012 im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung vier mal mehr Asylanträge bearbeiten musste als Deutschland. Aber auch Länder wie Belgien und Norwegen bekommen, umgerechnet auf die Bevölkerung, mehr Anträge als Deutschland – ganz zu schweigen von den (wirklich überforderten) Ländern wie Malta und Zypern an den EU-Außengrenzen, die aufgrund der geografischen Lage und der EU-Gesetzgebung (Dublin II) eine Vielzahl von Asylanträgen bearbeiten müssen. Die gestiegenen Antragszahlen in Deutschland sind also nicht für das Asylsystem „alarmierend“, sie sollten eher auf die Notlage vieler Flüchtlinge aufmerksam machen.
Wie also umgehen mit den Ängsten der Bevölkerung? Jan Brezger schlägt im Theorieblog eine kritische Reflexion dieser Sorgen und eine entsprechende Reaktion der Behörden vor. Das ist ein guter Schritt, beschäftigt sich jedoch zu wenig mit der Produktion dieser Ängste (wie auch eine Kommentatorin des Beitrags richtig anmerkt). Durch einen Diskurs der Versicherheitlichung werden diese Sorgen erst produziert, obwohl sie nicht realen Gefahren entsprechen. Verantwortungsvolle Sicherheitspolitik muss also nicht nur die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen und kritisch reflektieren, sie muss in einem proaktiven Vorgehen der Entstehung solcher Ängste vorbeugen. So sollten Sicherheitsbehörden nicht nur die schrecklichen Vorfälle in Berlin-Hellersdorf und anderswo in Deutschland verhindern, sondern rassistischen und panikmachenden Argumentationen den Nährboden entziehen und wieder diejenigen in den Fokus rücken, die nach Sicherheit suchen und Schutz bedürfen: die Flüchtlinge.
- Léonard, Sarah 2011: "FRONTEX and the Securitization of Migrants through Practices", Paper presented at the Migration Working Group Seminar, Universität Florenz: S. 17, PDF ↩
- Post, Dorothee & Arne Niemann 2005: "Framing German and European Asylum Policy: The Case of the "Safe Third Country" Concept", in: Dresdner Arbeitspapiere für Internationale Beziehungen (14): S. 15 ↩
Schöner Artikel!
Ich würde evtl. noch erwähnen, dass dieses Feld gerade für konservative Politiker ein dankbar-populistisches ist, auf dem man gut Stimmen fischen kann: siehe Roland Koch und Jürgen Möllemann, damals. Das gibt dann einen Kreislauf, der sich selbst verstärkt: Politiker versicherheitlichen Flüchtlinge, ein Teil der Bevölkerung nimmt dies auf, und um deren Stimmen zu bekommen machen Politiker wieder auf “Überfremdung” und “Gefahr”…
Ein sehr reflektierter Artikel, der die Ereignisse der letzten Wochen zusammenfasst und die drohenden Gefahren benennt. Auf die Verzerrungen in der derzeitigen asylpolitischen Debatte kann gar nicht genug aufmerksam gemacht werden!