Auf Lethargie folgt Revolution? Die Proteste in Bosnien und Herzegowina

von Andrea Jonjic

Den 7. Februar 2014 verbrachte ich vor dem Laptop, aktualisierte dauernd die Twitter Timeline, schaute alle 3 Minuten auf den Liveblog von Al Jazeera Balkans und chattete mit Verwandten und Freunden aus Bosnien und Herzegowina. Was an diesen Tagen geschah, überraschte mich sehr. Ich hatte Bosnien immer als sehr lethargisch wahrgenommen, Nedad Memić nennt es Wachkoma. Der Krieg war, auch nach fast 20 Jahren, immer noch präsent. Korruption, Vetternwirtschaft und die Diskriminierung von Minderheiten sind Alltag in einem Land, dessen Failed State Index irgendwo zwischen Warning und Stable liegt. Doch am 7. Februar änderte sich etwas. Nachdem Tage zuvor in Tuzla ArbeiterInnen begonnen hatten zu demonstrieren, gingen plötzlich zehntausende Menschen in ganz Bosnien auf die Straße. Erstmals seit dem Krieg protestierten so viele EinwohnerInnen, und ihre Anklagen wurden schnell zu Forderungen nach Rücktritten und Reformen. Handelt es sich tatsächlich um einen "Bosnischen Frühling", wie einige es nennen, und wie findet das Land aus dieser Krise wieder heraus?

In Tuzla begannen die Demonstrationen, als ArbeiterInnen von fünf Fabriken gegen deren Schließung infolge von Privatisierungen protestierten. Sie hatten teilweise monatelang keinen Lohn erhalten. Ihnen schlossen sich schnell EinwohnerInnen an, die Kritik weitete sich aus auf die hohe Arbeitslosigkeit, auf Korruption und die allgemeine schlechte wirtschaftliche und soziale Lage. Dann, am 7. Februar, gingen zehntausende Menschen auf die Straße, es gab Zusammenstöße mit der Polizei, Regierungsgebäude in Tuzla, Sarajevo und Mostar standen in Flammen.

An diesem Tag wurden knapp 350 Menschen verletzt, etwa die Hälfte von ihnen waren PolizistInnen. Den Flammen fiel auch ein Teil des Staatsarchivs zum Opfer, darunter historische Dokumente aus der Zeit Österreich-Ungarns. Laut einem Archivar sei der Wert der verbrannten Schriftstücke unschätzbar.

Auch am Samstag, den 8. Februar, fanden Proteste in mehr als 30 bosnischen Städten statt. Während der Premierminister der Föderation Nermin Nikšić noch von "Hooligans" sprach, die da auf den Straßen seien, legten die Regierungschefs der Kantone Sarajevo, Tuzla und Zenica-Doboj bereits ihre Ämter nieder. In Tuzla legten die Protestierenden noch an diesem Tag einen Fünf Punkte Katalog vor, in dem sie unter anderem eine Expertenregierung fordern sowie die Anpassung der Gehälter von PolitikerInnen an diejenigen der BürgerInnen. Was ist seitdem geschehen?

Noch immer demonstrieren EinwohnerInnen in Sarajevo, Zenica, Mostar und Tuzla - es sind nicht mehr zehntausende, doch seit mittlerweile drei Wochen gehen sie konstant auf die Straße und sind noch immer wütend. In vielen Städten und Gemeinden wurden zudem Bürgerplenen ins Leben gerufen, die Forderungen an die politische Elite formulieren.

Auch wenn die Plenen keine politischen Strukturen ersetzen können, so der belgische Sozialanthropologe Stef Jansen, könnten sie dennoch als zusätzliche, basisdemokratische Institution fungieren:

The plenum is a roar of enraged people who are just reminding the political class that they exist and that they have problems they want solved. The plenums are important because they show that people have the courage to step onto the podium, take the microphone or make written demands—of which there are by now over 2,000 here in Sarajevo alone—and that makes them feel that their voice matters. [...] I think that people really long for stability, order, a system, which isn’t exactly revolutionary or left wing. These people want to be able to turn a tap and have the water flow; or when they wait for a tram, that the tram actually comes and, if possible, on time; they want to be able to go to the hospital and see a doctor without first having to do what everybody has to do right now. These are all very modest demands which at this moment and in this country seem radical.

Auch Thorsten Gromes von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung sieht in den Bürgerplenen einen hoffnungsvollen zivilgesellschaftlichen Ansatz. Es müsse in Bosnien und Herzegowina jetzt darum gehen bürokratische Strukturen zu vereinfachen, politische Privilegien zu beseitigen und effektiv gegen Korruption und Vetternwirtschaft zu kämpfen. Für die Wahlen im Herbst sieht er eher keine neue politische Kraft, da diese nicht stark genug wäre - stattdessen könne man jedoch hoffen dass die jetzigen politischen Akteure durch die Proteste eingesehen haben, dass es nicht wie bisher weitergehen kann in Bosnien. Den kompletten Audiobeitrag inklusive dem Interview mit Thorsten Gromes findet ihr unter dem Artikel.

Bis zum Herbst wird sich wohl keine neue politische Kraft bilden der die BürgerInnen vertrauen - und darauf zu hoffen ist meines Erachtens auch sinnlos. Nach zwei Jahrzehnten der Enttäuschung, der ethnischen Grenzziehung und Angst vor Instabilität kann es keine raschen Umbrüche in Bosnien und Herzegowina geben. Doch mit den jetzigen Protesten wurde ein Prozess in Gang gebracht, hinter den das Land nicht mehr zurückfallen kann. Wenn die BürgerInnen nun Ausdauer beweisen und über ethnische Grenzen hinweg Kritik üben, dann kann dies, wenn auch kein bosnischer Frühling, so doch zumindest ein Frühlingserwachen für Bosnien und Herzegowina werden.

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