Konferenzbericht aus Göttingen: Politisches Handeln in digitalen Öffentlichkeiten

Am gerade vergangenen Wochenende fand in Göttingen die Konferenz "Politisches Handeln in digitalen Öffentlichkeiten: Grassroots zwischen Autonomie, Aufschrei und Überwachung" statt.

Am Freitag und Samstag wurde in Panels vorgetragen, diskutiert und in Kaffeepausen geplaudert, am Samstag kamen nachmittags noch Workshops mit Aktivist_innen hinzu, ganz nach dem Motto "Wissenschaft trifft Bewegung". Die Konferenz war nicht nur organisiert von einem fünfköpfigen Team von Nachwuchswissenschaftler_innen, auch unter den Vortragenden fanden sich erfrischend viele junge Wissenschaftler_innen. Ich als Masterstudentin verließ die Konferenz jedenfalls sehr motiviert und inspiriert und würde gern gleich losforschen :)

Da es alle Vorträge und Diskussionen außer den Workshops bereits nahezu vollständig als Podcasts und damit nachhörbar gibt (dank podcast kombinat, wow!), will ich hier nur einen groben Überblick über die Panels geben, die ich besucht habe. Wessen Interesse dann geweckt ist, kann bei der nächsten längeren Zug- oder Autofahrt alles nachhören!

Bei der Keynote war ich leider noch nicht anwesend und habe sie auch noch nicht nachgehört. Eine Aussage von Felix Stalder, Dozent am Studienbereich Neue Medien in Zürich, wurde jedoch in den folgenden Panels mehrmals zitiert und diskutiert:

Zum Fazit der Keynote hieß es, die Politik der Digitalität führe zwar zu einer Transformation des Politischen, aber nicht zum Ende der Politik. Und damit ging es los in die Panels!

Panel B: Konflikte und Akteure der digitalen Gesellschaft – Netzpolitik

Dieses Panel sollte eigentlich von Abel Reiberg eröffnet werden mit einer einleitenden Diskussion darüber, was Netzpolitik ist. Da dieser aber krankheitsbedingt ausfiel, startete das Panel mit Steffen Lindow von der Universität Göttingen und seiner Forschung zum Konflikt um das Urheberrecht und der Frage, ob es bereits ein eigenes Politikfeld 'Netzpolitik' gibt. Er betonte hierbei die Bedeutung verschiedener belief systems und dass ebendiese sehr unterschiedlichen Ansichten darüber was richtig und was falsch ist zu großen Unsicherheiten im politischen System führen. Lindow definiert ein Politikfeld als ein Netz aus Verbindungen von Akteuren, die sich über das gemeinsame Thema einig sind - da digitale Fragen aber über viele Ministerien hinweg und durch viele verschiedene Akteure diskutiert wird, könne man noch nicht von einem eigenen Politikfeld 'Netzpolitik' sprechen. Vielmehr befinde sich dieses in einem derzeit stattfindenden, offenen Formierungsprozess.

Barbara Büttner und Fabian Pittroff von der Universität Kassel sprachen danach über die politische Strategie der Reterritorialisierung des Internets zwischen analogen und digitalen Öffentlichkeiten am Beispiel des Schengen- oder National-Routings (#schlandnet). Sie wollen dabei erforschen, wie sich eine Öffentlichkeit um eine digitale Streitsache bildet und arbeiten mit dem Konzept der Sozialen Welten von Anselm Strauss und der Situationsanalyse von Adele Clarke. Interessant war auch ihre Definition der'Netzgemeinde': Diese sei eine kollektive Formation ohne formale Mitgliedschaft, deren Kernpraktiken Offenheit, Zugänglichkeit und die Neutralität des Internet seien. Die 'netzpolitische Bewegung' sei jedoch nicht dasselbe wie die Netzgemeinde, sondern rekrutiere sich aus dieser. Insgesamt schaffe es die Netzgemeinde meist nicht, stabile Allianzen mit anderen sozialen Arenen zu schaffen und Relevanz zu erreichen. Dies liege an der dezentralen Organisation und fehlenden Organisationsstrukturen.

Carsten Ochs, ebenfalls von der Universität Kassel, thematisierte am Ende des Panels den Begriff des 'Selbstdatenschutzes'. Diesen definiert er als aktive und passive Maßnahmen zum Schutz von Datenschutzgrundrechten und sieht vor allem in Politik und Wirtschaft den Verweis auf die Individuen, die ihre Daten schützen sollen - so driften Diskurs und Praktiken des Datenschutzes aber auseinander, die Verantwortung wird auf die Individuen abgewälzt. Eigentlich, so Ochs, gibt es aber keinen Selbstdatenschutz - Selbstdatenschutz besteht vielmehr aus kollektiven Privatheitspraktiken (statt eines individualistischen Privatsheitsverständnises). Diese kollektivistische Sicht münde dann in der Frage nach der Verteilung von Verantortwortlichkeiten, wer eben welchen Beitrag leisten soll.

Abendveranstaltung: "Netzaktivismus in der Krise?"

Der erste Konferenztag wurde am Freitagabend durch ein Gespräch zwischen Anna-Katharina Meßmer von der Universität München und Kathrin Ganz, Mitorganisatorin der Konferenz und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Hamburg-Harburg, abgeschlossen. Meßmer definierte Netzaktivismus anfangs als Aktivismus, der Internet benutzt und sich nicht grundsätzlich von anderen aktivistischen Formen unterscheide. Netzaktivismus komme zudem nicht ohne klassische Medien aus, kämpfe aber mit fehlenden Strukturen und internen Macht- und Konkurrenzkämpfen. In digitalen Räumen würden eben nicht nur Forderungen formuliert und Kritik an hegemonialen Strukturen geübt, sondern auch internete Prozesse ausgearbeitet. Dass dies sehr problematisch sein kann, habe man laut Meßmer an der Piratenpartei sehen können. Netzaktivismus individualisiere Protest zudem stark und stelle eine enge Verknüpfung von politischem und privatem her. Wo Wert auf die Authentizität einer Person gelegt wird, verschwinden oft auch Schutz- und Rückzugsräume - und dies kann zum Activist Burnout führen. Hier sei es wichtig eine klare Unterscheidung zwischen Privatem und Politischen im Netzaktivismus zu treffen - zum Beispiel über ein 'strategisches Ich'. Kathrin Ganz fragte, ob sich das gesellschaftliche Klima ändere. Es kommte immer häufiger zu Ausnahmezuständen und kulturelle Konflikte würden wieder 'heiß' (new culture war). Für den Netzaktivismus seien Bündnisse sehr wichtig, jedoch fehle ihm zumeist an Gewicht in der Zusammenarbeit mit Institutionen.

Panel C: Netzbasierte Formen politischen Handelns – Fallstudien

Am Samstagmorgen ging es schon um 9 Uhr weiter, aber dank spannender Vorträge wurden alle schnell wach. Miriam Grohmann und Layla Kamil Abdulsalam von der Universität Koblenz-Landau eröffneten Panel C mit ihrer Forschung zu Selfie-Protesten. Dabei sei unter einem Selfie-Protest eine Serie von Fotoposts unter einem gemeinsamen Hashtag zu verstehen. Der Begriff sei ein sehr junger, zum ersten Mal wurde er bei den Occupy-Protesten verwendet. Selfie-Proteste schaffen Gegenöffentlichkeiten und sind eine Chance für Aktivist_innen durch den Zugang zu einer breiten Öffentlichkeit. Dabei gebe es verschiedene Formen des Selfie-Protests, die durch verschiedene Zusammengehörigkeiten sichtbar werden. Es gebe einerseits kohäsive Selfie-Proteste, bei denen die Wirkung im Vordergrund stehe. Ein Beispiel für diese Art des Selfie-Protests ist #freeajstaff: Weil drei Journalisten von Al Jazeera wegen vermeintlicher Unterstützung der Muslimbrüder in Ägypten festgenommen und in diesem Sommer zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, protestierten Menschen weltweit dagegen, indem sie sich den Mund zuklebten, ein Schild mit dem Hashtag #freeajstaff hielten und sich dabei fotografierten und das Selfie meist in schwarz-weiß veröffentlichten. Im Gegensatz dazu inszenierten sich Menschen, die unter #auchichbindeutschland posteten, unterschiedlich und erzählten diverse, eben ihre Geschichten. Diese Art des Selfie-Protests sei eher als inhaltlich formal zu bezeichnen. Auch der Grad der Anonymisierung ist bei Selfie-Protesten unterschiedlich: "Tatsächlich handelt es sich bei der Mehrzahl der Protest-Selfies zwar nicht um Selbstporträts im eigentlichen Sinne, doch findet sich ein starker Selbstbezug". In der Diskussion zeichnete sich ein nicht absehbares Potenzial des Selfie-Protests ab, auch die Frage nach der Wirkung konnte nicht abschließend beantwortet werden.

Anne Pauli von der RWTH Aachen sprach anschließend über TTIP und politische Partizipation im Web 2.0. Letzteres definiert sie als das Internet, in dem es möglich wurde usergenerierte Inhalte zu teilen. Im Rahmen ihrer Dissertation arbeitetet sie mit Historischen Analysen, der quantitativen Analyse von Twitter zu Akteuren und Aktionssphären sowie mit qualitativen Interviews mit Aktivist_innen. So analysierte sie u.a. die Tweets des EU-Accounts @EU_TTIP_team und der Opposition @eci_ttip und fand heraus, dass über beide Accounts überwiegend Informationen veröffentlicht werden. Beim EU-Account waren es 10% der Tweets, die einen Dialog mit Nutzer_innen darstellten, bei Stop TTIP nur 1%. Twitter ist jedoch nur der Anfang, Facebook und Google Plus sollen ebenfalls untersucht werden.

Auch Julia Tiemann stellte ihr Dissertationsprojekt vor und sprach über die politische Partizipation im digitalen Zeitalter im ethnografischen Vergleich zwischen Island und Deutschland. Dabei vergleicht sie zwei Beteiligungsplattformen, Betri Reykjavík und LiquidFriesland. Fragen, die sie sich stellt, sind: Wie gestaltet sich die elektronische Beziehung zwischen Bürger_innen und Staat? Unter welchen Bedingungen verstärkt die Nutzung von Webseiten politisches Interesse und Aktivität? Welche Auswirkungen hat Digitalisierung auf das Selbstbild der Bürger_innen? Zur Beantwortung dieser Fragen nutzt sie sowohl Offline-Methoden wie Leitfadeninterviews, Experteninterviews und Fokusgruppen, aber auch Online-Methoden wie lurking, Chats und Videointerviews. Tiemann konnte bereits feststellen, dass dem Online-Engagement von Bürger_innen oft auch Offline-Engagement gefolgt ist, vor allem in Island. Wichtig sei vor allem die lokale Verankerung der Plattform, durch die Verknüpfung mit der Community vor Ort sind die Bürger_innen motiviert, teilzunehmen. Es gebe aber auch Schwierigkeiten: In Reykjavík kümmere sich niemand in ausreichendem Maße um die Initiativen, zudem wird die Plattform zusehends chaotischer, weil auch ältere Initiativen noch immer zu finden sind. In Friesland sei die Plattform technisch zwar besser organisiert, jedoch nehmen hier nur circa 20 Bürger_innen aktiv an der Plattform teil.

Zum Ende des Panels referierte Marion Näser-Lather über die italienische Frauenbewegung Se non ora Quando? und wie die Verwendung neuer Medien, speziell des Internets, sich auf Formierung, Diskurse und Praxen der Bewegung auswirkt. Sie betonte die Bedeutung physischer Treffen für SNOQ: Diese face-to-face Treffen seien aufgrund von Traditionen der italienischen Frauenbewegung der 70er Jahre übernommen worden und gelten als essentiell für die Identitätsbildung der Gruppe. Wenn Online-Entscheidungen oder Diskussionen stattfänden, dann zumeist in geschlossenen Facebook-Gruppen, was zu Ausgrenzungen führt. Offene Kommunikation würde lediglich für Ergebnisse und Informationen genutzt, für Pressemitteilungen und Interviews. Diese werden dann meist auf nicht-interaktiven Medien veröffentlicht. Dass digitale Medien Orte von Konflikten und Vermachtung sind, zeige sich an der Zersplitterung von SNOQ. Durch die Vermischung von Privatem und Politischem gebe es keine nationale Arbeit mehr in Italien; die lokalen Gruppen setzen ihre Arbeit fort, wenn auch teilweise unter einem neuen Namen.

Nach diesem Panel folgten vier Workshops die von Aktivist_innen gehalten wurden und die es nicht als Podcast gibt. Ich nahm teil an Workshop 1 von Jasna Strick und Nicole von Horst: "Von Darktwitter bis zum #Aufschrei: Einblick in die Funktionsweise feministischer Netzwerke in sozialen Medien". Es wurde diskutiert, was Öffentlichkeit eigentlich ist, wie Hashtags kategorisiert werden könnten und wie feministische Aktivist_innen sich im Darktwitter (also in geschützten, nicht für jede_n lesbaren Accounts) zurückziehen, um der schwierigen Vermischung von Politischen und Privaten zumindest ein wenig aus dem Weg zu gehen, und auch um einen Schutzraum vor Hatespeech zu haben.

 

Insgesamt war es eine kleine, aber tolle Konferenz die viel gemeinsames Denken forderte und förderte. Ein großes Lob an das Organisationsteam und die Podcaster, und gerne im nächsten Jahr wieder! :)

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert