von Daniel H. Heinke
Deutschland steht angesichts der seit rund sechs Wochen massiv angestiegenen Zahlen von Flüchtlingen insbesondere aus Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens vor einer der größten gesellschaftlichen Herausforderungen der Nachkriegsgeschichte. Je nach Quelle werden alleine in diesem Jahr rund 800.000 Flüchtlinge (die derzeitige Prognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge), bis zu einer Million (Bundesminister Sigmar Gabriel) oder auch 1,5 Millionen Zuwanderer erwartet. Ein sehr großer Anteil dieser Menschen wird vermutlich als asylberechtigt anerkannt werden. Und da ein weit überproportional hoher Anteil dieser Flüchtlinge alleinreisend war, ist damit zu rechnen, dass im Laufe der nächsten Jahre eine mutmaßlich noch größere Anzahl von Familienangehörigen nachziehen wird. Deutschland muss sich also perspektivisch auf mehrere Millionen neue Einwohner einstellen.
Das Thema dieses Einwurfs soll dabei nicht die durchaus reale Gefahr des Einsickerns islamistischer Terroristen unter dem Schutz der Flüchtlingsbewegungen und auch nicht die Frage einer maximalen Aufnahmekapazität Deutschlands oder die vom Bundespräsidenten für erforderlich gehaltene bessere "Sicherung" der europäischen Außengrenzen sein, sondern ganz pragmatisch die Frage, wie Deutschland mit denjenigen umgeht, die bereits hier angekommen sind und das Land zumindest in den nächsten Jahren voraussichtlich nicht wieder verlassen werden.
Die Länder stehen derzeit unbeschadet gradueller Unterschiede im Ergebnis alle mit der Aufgabe, eine Erstversorgung der ankommenden Flüchtlinge sicherzustellen, an einer Belastungsgrenze. Massenunterkünfte in Turn- oder Lagerhallen, in Zelten oder in Containerdörfern, vor einigen Monaten nahezu undenkbar, sind im Moment der Normalzustand. Längst ist die Übersicht verloren gegangen, wie viele Menschen sich überhaupt bereits im Land befinden, und von einer gewohnten administrativen Bearbeitung der Situation sind Bund, Länder und Kommunen aktuell weit entfernt. Dennoch: durch den Einsatz aller Beteiligten gelingt es, auch diese Situation zu bewältigen und eine Grundversorgung der ankommenden Flüchtlinge sicherzustellen.
Die hohe Belastung aller Behörden und Politiker bereits auf dieser Stufe führt jedoch dazu, dass die Gefahr besteht, dass die erforderlichen nächsten und übernächsten Schritte aus dem Fokus geraten, weil sie zwar unbestritten wichtig, aber eben – zumindest scheinbar – nicht ganz so dringlich sind.
Hier gilt es aber auf einer strategischen Ebene so früh wie möglich einzuhaken: Wenn man die Prämisse akzeptiert, dass ein sehr großer Anteil der angekommenen Flüchtlinge auf Jahre hinaus auch in Deutschland bleiben wird, müssen bereits jetzt die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet werden, um diese Menschen auch in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Wenn die absoluten Grundbedürfnisse wie physische Sicherheit, Schutz vor Witterung und ausreichende Ernährung zuzüglich einer medizinischen Versorgung sichergestellt sind – was Deutschland, wie aufgezeigt, durchaus leistet –, treten in den meisten Fällen nach einiger Zeit weitergehende soziale und individuelle Bedürfnisse in den Vordergrund. Und an dieser Stelle beginnt die sicherheitspolitische Dimension von Integration.
Nur exemplarisch, aber ganz konkret: die wochen-, möglicherweise sogar monatelange Unterbringung von Menschen in der gleichzeitig stressigen und doch reizarmen Umgebung einer Massenunterkunft wird kurzfristig nahezu zwangsläufig in häufige gewaltsame Auseinandersetzungen der Bewohner untereinander münden.
Menschen nur zu verwahren, ihnen aber keine Teilhabe am normalen gesellschaftlichen Leben einschließlich eines üblichen Konsumverhaltens zu ermöglichen, indem sie zeitnah in ein Ausbildungs- und Erwerbsleben integriert werden, wird vermutlich mittelfristig in signifikanter Weise zu kriminellen Versuchen führen, an die für ein solches Konsumverhalten erforderlichen finanziellen Mittel zu kommen.
Die langfristigen Risiken sind jedoch noch viel größer: Wenn den Menschen hier keine praktische Perspektive gegeben wird und keine Anstrengungen unternommen werden, sie an die Gesellschaft heranzuführen, kann es nicht verwundern, wenn sie – oder jedenfalls ein erheblicher Anteil – parallele und von der Mehrheitsgesellschaft abgeschottete Formen des Zusammenlebens entwickeln. Wenn ihre Bedürfnisse der Teilhabe an der Gesellschaft nicht ernst genommen und durch geeignete staatliche Maßnahmen unterstützt werden, darf es nicht erstaunen, wenn sie sich trotz der erfolgten "Grundsicherung" abgelehnt oder jedenfalls nicht vollwertig akzeptiert fühlen und sich deshalb nicht der Gesellschaft zugehörig empfinden. Das ist, wie zahlreiche Beispiele zeigen, bereits unter dem Gesichtspunkt der Allgemeinkriminalität höchst problematisch. Darüber hinaus stehen jedoch auch genug extremistische Bestrebungen bereit, einen solchen Unmut aufzugreifen und für ihre ideologischen Ziele zu nutzen – extremistische Radikalisierung setzt regelmäßig genau an diesen Punkten an.
An dieser Stelle wurde bereits aufgezeigt, wie wichtig ein vernetztes Vorgehen aller Akteure zur Prävention von gewaltbereitem Extremismus ist. Die Integration der neuen Einwohner unseres Landes ist daher nicht nur von allgemein gesellschaftlicher, sondern evident auch von sicherheitspolitischer Bedeutung. Sprachkurse, Kulturkurse, sozialarbeiterische Betreuung, Kinderbetreuung, Schulbesuch, angemessener und bezahlbarer Wohnungsbau unter Vermeidung von "Ausländerghettos", die berufliche Ausbildung und die Anerkennung beruflicher Qualifikationen, die (wo nötig staatlich geförderte) Integration in den Arbeitsmarkt, die Akzeptanz sozialen, kulturellen und religiösen "Andersseins" bei gleichzeitiger offensiver Verdeutlichung der grundrechtlichen Kernelemente der freiheitlich demokratischen Grundordnung – all das ist im Moment ebenso wichtig wie die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden. Und es muss jetzt begonnen werden, will man nicht unersetzbare Zeit verlieren.
Das Wichtige darf über dem Dringlichen nicht vergessen werden.
Der Beitrag repräsentiert nicht notwendigerweise den Standpunkt oder die Bewertung der Freien Hansestadt Bremen.