Über Ziele und Herausforderungen der Deradikalisierungsarbeit

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Dies ist der 17. Artikel unseres Blogfokus "Salafismus in Deutschland". Weitere Informationen gibt es hier.

von Ahmad Mansour

In einer Zeit, in der islamistische Gewalttaten mit einer grausamen Häufigkeit vorkommen, wird mit großer Energie und Dringlichkeit nach Lösungen gesucht, wie mit Radikalisierten umzugehen ist und wie man Radikalisierungsprozesse verhindern oder umkehren kann. Dabei tauchen schnell Begriffe wie Prävention und Deradikalisierung auf. Es ist gut und wichtig, dass konstruktive Ansätze gegen Salafismus (eine konservative Strömung des Islam) und islamische Radikalisierung an Aufmerksamkeit gewinnen. Es ist aber auch wichtig, Prävention und Deradikalisierung als untschiedliche Handlungsfelder zu betrachten, die ihre eigenen Ziele verfolgen, und mit je eigenen Herausforderungen verbunden sind. Nichtsdestotrotz, sollten ihre Überschneidungen nicht vergessen werden. In diesem Beitrag beschäftige ich mich anhand der folgenden Fragen mit dem Thema Deradikalisierung: Was ist Deradikalisierungsarbeit? Was ist (nicht) ihr Ziel? Und wer übt sie aus? Wie unterscheidet sie sich von Prävention? Was sind Bedingungen erfolgreicher Deradikalisierungsarbeit? In den Versuch, diese Fragen zu beantworten, möchte ich mit der Beschreibung zweier Situationen einsteigen.

Zwei Radikalisierungsverläufe

In Köln merkt die Mutter eines 16-jährigen Jungen, dass ihr Sohn sich plötzlich anders verhält. Die Familie ist zwar muslimisch, aber Abids Religiosität scheint jetzt eine neue Dimension zu haben. An der Schule will er nichts mehr mit unverschleierten Mädchen zu tun haben, er reagiert schnell und zornig auf politische Fragen. Zuhause stellt er die Lebensweise seiner Mutter radikal in Frage: Warum betet sie nicht fünfmal am Tag? Warum gibt sie in ihrem Alltag fremden Männern die Hand? Es führt oft zu erbittertem Streit, die Atmosphäre zuhause ist höchst angespannt. Eines Tages teilt Abids Schwester ihrer Mutter mit, dass Abids Facebook-Konto gesperrt wurde. Der Grund? Er hat regelmäßig gewalttätige Inhalte verbreitet, darunter ein Video von der Steinigung einer jungen Frau in Afghanistan. Verzweifelt, besorgt und teils beleidigt, meldet sich Abids Mutter bei einer Beratungsstelle, von der sie Unterstützung bekommt. Die Situation wird mit erfahrenen Beratern bearbeitet und zusammen entwickeln sie praktische Hinweise, wie Abids Mutter mit ihrem Sohn umgehen kann, wie sie wieder einen Zugang zu ihm findet.

In Frankfurt erlebte Michael einen langen Radikalisierungsprozess, bis er sich Oktober 2015 auf die Reise nach Raqqa machte. Als er vor zwei Jahren den Islam entdeckte, kam es ihm so vor, als hätte er sein Leben wieder im Griff. Er verschwendete seine Zeit nicht mehr beim Trinken und Kiffen, sondern ging häufig in die Moschee und betete. Im Internet stieß er auf deutschsprachige Prediger, die ihm besonders gefielen. Sie waren charismatisch, kamen ihm sehr belesen vor. Sie sprachen von der globalen Ummah, von der weltweiten Not der Muslime. Sie sprachen auch von dem Bedürfnis, ein Kalifat einzurichten, wo die Muslime endlich ihre Religion frei ausleben dürfen. Michael war begeistert; er entschied sich nach Syrien zu fahren um sich dem "Islamischen Staat" (IS) anzuschließen. Nach einem Monat ist ihm aber die Lage in Syrien unerträglich geworden. Zwei seiner Freunde aus Deutschland sind durch Bombenangriffe gestorben; von der Gewalt ist er höchst traumatisiert. Er beschließt, so bald wie möglich wieder nach Deutschland zurückzukehren. Solche Gewalt kann man doch nicht rechtfertigen, denkt er, auch nicht durch die Religion.

Die Geschichten von Abid und Michael haben Einiges gemeinsam; sie unterscheiden sich aber auch drastisch. Beide haben Radikalisierungsverläufe erlebt, die sie in Konfliktsituationen gebracht haben; beide tragen Werte und Ideologien in sich, die ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft erschweren. Ob beide auch eine Deradikalisierung erfahren haben, bleibt offen. Abids Mutter hat zwar positive Schritte gemacht, aber sie befindet sich nur am Anfang eines komplizierten Prozesses. Ob es ihr gelingen wird, ihren Sohn zurückzugewinnen, ist von vielen Faktoren abhängig. Es kann leider gut sein, dass ihr Versuch scheitert.

Auch Michael hat einen positiven Sinneswandel erlebt. Seine Rückkehr und seine Ablehnung von Gewalt deuten auf eine Deradikalisierung hin. Aber reicht das? Wie geht es mit ihm weiter? Kann es sein, dass er noch immer eine gewalt-legitimierende oder demokratiefeindliche Ideologie in sich trägt? Vielleicht. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Ideologie wäre meines Erachtens unverzichtbar. Doch wo sollte diese Auseinandersetzung stattfinden: In dem Gefängnis, wo er sich höchstwahrscheinlich nach seinem Rückkehr befindet? In einer Moschee? Durch ein Rehabilitierungsprogramm? Jede Frage führt zu neuen Fragen.

Erfahrungen in der Deradikalisierungsarbeit

Deradikalisierung unterscheidet sich deutlich von Islamismus-Präventionsarbeit. Die Präventionsarbeit ist breiter und allgemeiner. Es geht prinzipiell darum, Jugendlichen zu ermöglichen, kritisch zu denken und ihnen Wissen zu vermitteln, damit sie gegen radikale Angebote immunisiert sind. Dabei ist es auch wichtig, die Pädagogik für ihre zentrale Rolle in die Präventionsarbeit ggf. Lehrer_innen für die frühzeitige Anerkennung radikaler Tendenzen unter Jugendlichen zu sensibilisieren. Diese Arbeit umfasst viele Aspekte und kann unterschiedliche Formen annehmen, meist findet sie in Workshops und Gruppenarbeit statt – in diesem Sinne kann man weniger von einer bestimmten Zielgruppe reden, sondern von allgemeiner Aufklärungsarbeit mit Jugendlichen mit oder ohne Migrationshintergrund. Deradikalisierungsarbeit hingegen wird mit einer spezifischen Zielgruppe, nämlich bereits radikalisierten Frauen und Männern und ihrem familiären Umfeld, durchgeführt. Das radikalisierte Individuum wird intensiv begleitet, um ihn bzw. sie in die Mehrheitsgesellschaft zu reintegrieren. Dabei gibt es keine Blaupause für diesen Prozess. Ganz im Gegenteil muss jeder Fall, sprich jede Person, einzeln bearbeitet werden und ein fallspezifisches Handeln entwickelt werden.

Wie eine erfolgreiche Deradikalisierungsarbeit aussehen kann, erfahre ich täglich bei der Beratungsstelle Hayat, an der ich als Berater tätig bin. Hilfesuchende melden sich bei Hayat, da sie befürchten, dass sich ihre Angehörigen salafistisch radikalisiert haben. Der Großteil der Arbeit dreht sich um die individuelle Begleitung der Angehörigen und der direkt Betroffenen. Es wird in einem interdisziplinären Team von Islamwissenschaftlern, Psychologen, Therapeuten, Politikwissenschaftlern und Religionswissenschaftlern gearbeitet. Die Hilfesuchenden werden je nach Problemlage und Fragestellung von einem persönlichen Berater begleitet. Die betroffenen Familienmitglieder suchen den Kontakt häufig, weil sie den Eindruck haben, dass sich ihre Angehörigen von ihnen entfernen und sie keinen Zugang mehr zu ihnen haben. Hayat bietet diesen Familien Hilfestellungen bei der Kommunikation mit ihren Verwandten an und unterstützt die Familien darin, weiterhin Kontakt mit der jeweiligen Person zu halten. Je nach individueller Sachlage werden zusätzliche Hilfen wie juristische und soziale Angebote vermittelt.

Bei Hayat haben wir oft erfahren, dass es uns gelingen kann, eine radikalisierte Person zurück in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Aber wir wissen auch, dass dies ein schwieriger und zeit-intensiver Prozess sein kann. Es bedarf des Engagements aus mehreren Bereichen, staatlich wie zivilgesellschaftlich wie familiär. Und manchmal scheitert der Versuch trotzdem.

Im Feld der Deradikalisierung liegt noch viel Arbeit vor uns. Um unsere Vorgehensweise zu verbessern, brauchen wir dringend empirische Forschung zu dem Erfolg bzw. Misserfolg von vorhandenen Ansätzen. Dabei darf der Fokus nicht ausschließlich auf der Verhinderung von Gewalttaten und der Sicherheit des Staates und seiner Institutionen liegen. Wir müssen uns auch endlich bereit erklären, gegen eine Ideologie zu kämpfen, die für unsere Jugendlichen und unsere demokratischen Werte eine deutliche Gefahr stellt. Wir sollten dabei nicht denken, es gäbe eine 'Kur', eine einfache Lösung, die eine schlichte Umkehr des Verhaltens einer Person ermöglicht. Unsere Aufgabe geht vielmehr darum, radikalisierte Personen in einem Prozess zu begleiten, wodurch er/sie in die Mehrheitsgesellschaft reintegrierbar wird. Bei Jugendlichen wie Abid und Michael muss Ziel der Begleitung sein, dass sie ihre Religion in einer Art und Weise ausleben können, die die Rechte und Freiheiten von anderen Menschen in Deutschland nicht verletzt.

Des Weiteren bedarf es der Stärkung vorhandener Strukturen: Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, sondern Netzwerke verstärken, zum Beispiel den Austausch und die Kommunikation zwischen staatlichen und zivilgesellschaftliche Akteuren verbessern. Es darf nicht der Fall sein, dass radikalisierte Personen den Sichherheitsinstrumenten überlassen werden, sondern es müssen konstruktive Kooperationen entstehen z.B. zwischen Schulen, Jugendämtern und Polizei. Auf nationaler und lokaler Ebene müssen bessere, langfristige Konzepte für diese Kooperationen entwickelt werden. Und natürlich dürfen wir in diesem Zusammenhang die Relevanz der Präventionsarbeit nicht vergessen. Denn eine frühe Intervention erleichtert uns die Arbeit in der Deradikalisierung massiv.

MansourAhmad Mansour ist Programmdirektor der European Foundation for Democracy. Als Psychologe und Islamismusexperte arbeitet er außerdem bei Hayat, einer Beratungsstelle für Deradikalisierung und bei Heroes, einem Projekt zur Gewaltprävention. Vor Kurzem hat er sein erstes Buch mit dem Titel Generation Allah veröffentlicht.
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