Ein Krieg entlässt seine Kinder. Kolumbiens Kindersoldaten auf dem Weg in den Frieden

von Günther Maihold

Die erste Phase des im Dezember 2016 in Kraft getretenen Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-Rebellen ist mit der Ankunft von ca. 6300 Kämpfern in den vereinbarten 26 Konzentrationszonen abgeschlossen. Dort wird nun der Prozess der Entwaffnung beginnen und die Vorbereitung auf die Eingliederung in das zivile Leben, ein Schritt, der der kolumbianischen Gesellschaft noch große Opfer abverlangen wird – sei es bezogen auf die Prozesse der justiziellen Aufarbeitung der Vergangenheit, sei es hinsichtlich der notwendigen Versöhnungsprozesse oder sei es bei der Suche nach neuen Formen des friedlichen Zusammenlebens. Sich in das zivile Leben einzufinden, dürfte insbesondere den ca.  7000 geschätzten Kindersoldaten Kolumbiens schwer fallen, die teilweise bereits im Alter von 12 Jahren von den illegalen bewaffneten Akteuren des Landes an Waffen ausgebildet wurden und ihre Kindheit bzw. Jugend in Guerilla-Verbänden verbracht haben. Die umfassende Betreuung der Kindersoldaten ist einer der zentralen Indikatoren für einen erfolgreichen Verlauf des Friedensprozesses in Kolumbien, wenn der Teufelskreis aus Gewalt, Vertreibung und Rekrutierung Minderjähriger durchbrochen werden soll. Sonst droht eine Verlängerung von Gewaltbiographien, die die Geschichte des Landes bereits in der Vergangenheit maßgeblich geprägt haben.

(Zwangs)Rekrutierung Minderjähriger als schwere Menschenrechtsverletzung

Unter den demobilisierten Kräften der FARC befindet sich auch eine Gruppe von Kämpfern, denen ein besonderes Augenmerk gilt: Kindersoldaten, die von den FARC angeworben oder zwangsrekrutiert wurden. Sie sollen nach einer Übereinkunft von Regierung und FARC an 10 ausgewählten Örtlichkeiten in der Nähe der Konzentrationszonen in die Obhut von Regierungsstellen übergeben werden. Die Rekrutierung von Kindern ist in Kolumbien eine Praxis aller Gewaltakteure, nach Schätzungen  wurden 60 % der Kindern in den Reihen der FARC aufgefunden, 17 % bei der ELN und weitere 17% in den paramilitärischen Vereinigungen. Nach Zahlen der Generalstaatsanwaltschaft des Landes wurden von den FARC seit dem Jahr 1975 insgesamt 11.556 Kinder rekrutiert, die heute großteils volljährig sind. Diese militärische Ausbeutung von Kindern besitzt neben der humanitären Dimension auch eine strafrechtlich in Gestalt der Verletzung von Menschenrechten nach der Genfer Konvention. So verfolgt der Internationale Strafgerichtshof die „aktive Beteiligung an Feindseligkeiten“ von Kindern unter 15 Jahren als Kriegsverbrechen, für die Vereinten Nationen reicht nach der Kinderrechtskonvention von 1989 und dem Fakultativprotokoll betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten aus dem Jahr 2000 diese Altersspanne bis in das 18. Lebensjahr. Von der FARC wurden im September 2016 13 Kinder unter 15 Jahren übergeben, dies dürfte nur ein kleiner Bruchteil der Gesamtzahl sein. Es steht zu vermuten, dass sich viele Kinder und Jugendliche der formalen Demobilisierung entziehen und sich kriminellen Banden anschließen oder in der Drogenökonomie ein Auskommen suchen. Gleichzeitig scheint es, dass seitens der FARC mit der Verzögerung der Übergabe von Kindern auf Zeit gespielt wird, um die Altersgrenze von 15 Jahren zu überschreiten bzw. eine direkte Übergabe an ihre Familien zu bewerkstelligen. Diese dürfte vor allem aus strafrechtlichen Gründe erfolgen, um einer möglichen Strafverfolgung durch das noch in parlamentarischer Beratung befindliche System der Übergangsjustiz oder ggf. seitens des  Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zu entgehen. Staatliche Instanzen waren bislang bei ihren Anstrengungen zur Ermittlung und Verurteilung dieses Delikts wenig erfolgreich, nur 2 Prozent der Verfahren führten zu Verurteilungen. Hinzu kommt der gesamte Bereich sexueller Gewalt gegen weibliche Kinder und Jugendliche innerhalb der FARC, die ca. 29% der Kindersoldaten ausmachen. Aber auch der Missbrauch von Kindern durch das Militär ist aufzuklären, insbesondere in den abgelegenen Gebieten des Landes, wo andere staatliche Instanzen kaum Präsenz besitzen und in den kommenden Monaten noch entwickeln müssen, wenn ein effektiver Opferschutz und psychosoziale Betreuung gewährleistet werden sollen..

Reintegration – die zentrale humanitäre Aufgabe

47 Prozent der gegenwärtigen Aktiven der FARC sind als Minderjährige zur Guerilla gestoßen, manche durch Täuschung, viele durch Zwang und Drohungen. Die hohe Zahl von 6 Mio. Binnenflüchtlingen im Kontext des kolumbianischen Konflikts ist auch Ausdruck des Bemühens vieler Eltern, die ihre Kinder dem Zugriff der Guerilla entziehen wollten. Doch die Durchsetzung der Guerilla mit kriminellen Elementen, die mit Überfällen, Hinterhalten, Verteilung von Landminen und Entführungen zu den Einnahmen der FARC beitrugen, wurde für viele Kinder und Jugendliche zu einem Weg in die Gewalt, der sie direkt an die Waffen und in die militärischen Auseinandersetzungen brachte. Angesichts der Armut im Lande hat sich die Beteiligung an zunächst einfachen kriminellen Handlungen für viele Kinder und Jugendliche als Einstieg in die illegalen Gruppen erwiesen, so dass nach Befragungen desertierter Kinder 81 Prozent ihre Beteiligung als „freiwillig“ bezeichnen. Die Manipulation, Kontrolle und Sozialisation der Kinder in den Guerilla-Verbänden beinhaltet neben der Unterwerfung unter militärische Ordnung aber auch Elemente wie ein gesteigertes Selbstwertgefühl durch die Verfügung über Waffen und den damit verbundenen Respekt anderer. Es ist davon auszugehen, dass sich viele der Kindersoldaten einer Einbindung in institutionelle Programme der Demobilisierung zu entziehen versuchen, da sie Bestrafung fürchten, obwohl sie für alle Handlungen, die als Minderjährige begangen haben, amnestiert und als Opfer illegaler Rekrutierung anerkannt sind. Trotzdem sind sie jenseits des rechtlichen Rahmens zugleich Opfer und Täter. Es bedarf umfassender Betreuung, Aus- und Weiterbildung der ehemaligen Kindersoldaten, wenn ihre Reintegration gelingen soll. Eine einfache Rückführung zu ihren Familien wird der gestellten Herausforderung einer verpassten Kindheit und einer gewaltbezogenen Jugendzeit nicht gerecht. Hier müssen auch Maßnahmen der Wiedergutmachung für verpasste Bildungschancen, fehlende Sozialkompetenzen und erfahrene Traumata greifen. Dies gilt in besonderem Maße für die Bedürfnisse von Kindern indigener Gemeinschaften und der afro-kolumbianischen Bevölkerung, die in den Kampfzonen in besonderem Maße betroffen sind. Reintegration der Kindersoldaten in einem integralen Sinn ist insoweit auch gleichzeitig Teil der Gewaltprävention in einem Land, das durch die Vielzahl seiner Gewaltakteure immer wieder Schlagzeilen macht.

Allein während der vier Jahre andauernden Friedensverhandlungen wurden von der Kinderhilfsstelle des kolumbianischen Familienhilfswerks (ICBF) 880 Kinder aufgenommen, die aus den Reihen der FARC flüchten konnten oder von den Autoritäten aufgefunden wurden. Dabei wurde auch deutlich, dass seitens der Kindersoldaten ein klares Bewusstsein besteht, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und nicht nur als passives Objekt staatlicher Programme behandelt zu werden. Insoweit muss auch gemeinsam mit ihnen an der Aufklärung von Wahrheit und Versöhnung gearbeitet werden, um den komplexen Identitäten der ehemaligen Kindersoldaten gerecht zu werden.

Kinderschutz als Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe

Die systematische Einbeziehung von Kindern in das Kriegsgeschehen in Kolumbien ist eine Belastung für die Zukunft des Landes. Viele haben keine ihrer Altersstufe entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten erhalten, diese nachzuholen ist eine Aufgabe, die kaum zu bewerkstelligen ist. Nicht nur der Staat, auch die lokalen Gemeinschaften und Nachbarschaften werden gefordert sein, um tragfähige Formen des Zusammenlebens in Frieden zu finden. Unabhängig davon muss aber auch die strafrechtliche Verfolgung der Rekrutierung von Kindern erfolgen, nur dann kann es gelingen, auch die Gründe, die dazu geführt haben, dass sich Kinder dem Krieg angeschlossen haben oder in ihn getrieben wurden, aufzuarbeiten und für die Zukunft auszuschließen.

Prof. Dr. Günther Maihold ist stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie Professor an der FU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lateinamerika, Spanien, Organisierte Kriminalität sowie Internationale Organisationen.

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