Lev Manovich

Was ist digitaler Film? (1995)

Wiedergabe in Auszügen aus: Lev Manovich, Was ist digitaler Film?, in: Telepolis, 14. Februar 1997, [→Link]; Lt. Vermerk auf Manovichs Website wurde der Artikel 1995 verfasst, [→Link]; Wiederabdruck: What is Digital Cinema?, in: Shane Denson, Julia Leyda (Hg.), Post-Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer 2016, S. 20–50. Die nachfolgende Wiedergabe folgt der Übersetzung aus dem Englischen (Florian Rötzer, 1997). Korrekturen wurden stillschweigend vorgenommen.

Lev Manovich wurde 1960 in Moskau in Russland geboren und ist ein russisch-amerikanischer Medientheoretiker, Kritiker und Künstler. Er übersiedelte 1981 nach New York und studierte dort Kognitionswissenschaften an der New York University. Daraufhin promovierte er im Fach Kulturwissenschaften an der Universität von Rochester. Seit 1992 lehrt er Medienkunst und -theorie und ist derzeit als Associate Professor am Visual Arts Department der University of California, San Diego (USA) beschäftigt.

Eine Einordnung des Textes liefern Elsaesser und Hagener: “Lev Manovich, ein wichtiger Theoretiker der digitalen Medien mit einem (film-)historischen Hintergrund, hat darauf hingewiesen, dass der Begriff »digitales Kino« im Grunde irreführend sei, weil er die Neu- und Andersheit der derzeitigen Situation eher verdecke. […] Alles, was einmal »essentiell« für das Kino war [“Narration, fotografischer Film, Realismus, Projektion, Indexikalität“], ist nun nur noch ein »Spezialeffekt« des Digitalen.” (Elsaesser/Hagener 2007, S. 219)

Sein Buch The Language of New Media (2001) erhielt über 50 Rezensionen in der Fachpresse und wurde auf italienisch, koreanisch, polnisch und chinesisch übersetzt. Kritiker sprechen von der ersten rigorosen und umfassenden theoretischen Beschreibung des Themas.

Film, die indexikalische Kunst

[…]

Der Film entstand aus demselben Motiv, das auch den Naturalismus, die Stenografie und die Wachsmuseen hervorbrachte. Der Film ist die indexikalische Kunst, ein Versuch, aus einem Abdruck Kunst zu machen.

Kommentar: vgl. hierzu Bazins Überlegungen zur Indexikalität des fotografischen Bildes: “Die Eigenheit der Photographie im Unterschied zur Malerei besteht also darin, dass sie ihrem Wesen nach objektiv ist. […] Die Existenz des photographierten Gegenstandes ist, wie ein Fingerabdruck, Teil der Existenz des Modells.“ (Bazin 1945, S. 37, 39) [→Link]

[…]

Im Kontext der Kulturgeschichte bewegter Bilder stellt die manuelle Konstruktion von Bildern im digitalen Film eine Rückkehr in präkinematische Praktiken des 19. Jahrhunderts dar, als Bilder mit der Hand bemalt und animiert wurden. im Übergang zum 20. Jahrhundert mußte der Film diese handwerklichen Techniken an die Animation delegieren und sich selbst als aufnehmendes Medium definieren. Beim Eintritt in das digitale Zeitalter werden diese Techniken bei der Produktion eines Filmes wieder ganz selbstverständlich. Deswegen läßt sich der Film nicht mehr eindeutig von der Animation unterscheiden. Es ist keine indexikalische Medientechnologie mehr, sondern eine Unterart der Malerei.

Kommentar: An späterer Stelle seines Textes kehrt Manovich zu dieser These zurück, indem er William J. Mitchell zitiert: „‚Die wesentliche Eigenschaft der digitalen Information ist ihre leichte und sehr schnelle Manipulierbarkeit in einem Computer. Es geht einfach nur um die Ersetzung von alten durch neue digitale Daten … Computerwerkzeuge zur Transformation, Kombination, Veränderung und Analyse von Bildern sind für den digitalen Künstler ebenso grundlegend wie Pinsel und Pigmente für einen Maler.‘ [Mitchell 1992, S. 7]. Wie Mitchell zeigt, löscht die inhärente Veränderbarkeit den Unterschied zwischen einer Fotografie und einem Gemälde aus. Da ein Film aus einer Serie von Fotografien besteht, läßt sich Mitchells Behauptung auf den digitalen Film erweitern. Wenn ein Künstler leicht digitalisiertes Filmmaterial als ganzes oder Bild für Bild verändern kann, dann wird ein Film in gewissem Sinne zu einer Reihe von Gemälden.“

Eine kurze Archäologie des Films

Seit seiner Geburt wurde der Film, wie seine ersten Namen (Kinetoskop, Kinematograph, bewegte Bilder) belegen, als die Kunst der Bewegung verstanden, die schließlich in einer überzeugenden Illusion der dynamischen Wirklichkeit mündet. Wenn man sich dem Film aus dieser Perspektive nähert (und es nicht als die Kunst einer audiovisuellen Erzählung, eines projizierten Bildes oder eines kollektiven Publikums begreift), lassen sich die Schritte erkennen, wie es nach und nach die vorhergehenden Techniken zur Produktion und Darstellung von bewegten Bildern ersetzt. […]

Erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurde die automatische Herstellung von Bildern und deren automatische Projektion schließlich kombiniert. Ein mechanisches Auge wurde mit einem mechanischen Herz verbunden. Die Fotografie ging mit dem Motor zusammen. Als Ergebnis wurde der Film – eine ganz besondere Form des Sichtbaren – geworden. Irregularität, Uneinheitlichkeit, Zufälligkeit und andere Spuren des menschlichen Körpers, die zuvor unweigerlich die Vorführungen bewegter Bilder begleiteten, wurden durch die Gleichförmigkeit der maschinisierten Vorführung [machine vision] ersetzt. Film wurde eine Maschine wie ein Fließband, die Bilder ausspuckte. Alle sahen sie genauso aus, hatten dieselbe Größe, bewegten sich wie eine Formation marschierender Soldaten in derselben Geschwindigkeit. […]

Kommentar: Vgl. hierzu Frampton: „The cinema was the typical survival-form of the Age of Machines. […] Cinema is the Last Machine. lt is probably the last art that will reach the mind through the senses“ (Frampton 1971) [→Link] sowie Vertovs Theorie des „Kino-Auges“ [→Link].

Die unmittelbaren Vorläufer des Films haben noch etwas anderes gemeinsam. Als sich im 19. Jahrhundert die Obsession an der Bewegung verstärkte, wurden Apparate, die mehr als nur ein paar Bilder animieren konnten, populär. Alle – das Zoetrop, das Phonoskop, das Tachyskop oder das Kinetoskop – basierten auf Schleifen, auf Bildsequenzen, die ganze, wiederholt abspielbare Bewegungsabläufe beinhalteten. Das Thaumatrop (1825), bei dem eine Scheibe mit zwei auf jederzeit gemalten unterschiedlichen Bildern schnell durch daran angebrachte Schnüre herumgewirbelt wurde, war wesentlich eine Schleife in ihrer minimalsten Form: zwei Elemente ersetzen sich nacheinander. Im Zoetrop (1867) und seinen zahlreichen Varianten wurde etwa ein Dutzend Bilder im Kreis gedreht. Das im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Amerika populäre Mutoskop steigerte die Dauer der Schleife, indem sich hier eine größere Menge an Bildern kreisförmig an einer Achse befanden. Selbst Edisons Kinetoskop (1892-1896), die erste moderne Filmmaschine, arrangierte weiterhin Bilder in einer Schleife. 50 Fuß Film ergaben eine etwa 20 Sekunden lange Vorführung -eine Gattung, deren mögliche Entwicklung abgeschnitten wurde, als der Film sich einer weit längeren Erzählweise anpaßte.

Kommentar: Siehe hierzu unter „Vor- und Frühgeschichte des Films“ [→Link]

Von der Animation zum Film

Als der Film einmal als Technik eingeführt war, schnitt er seine Bezüge zur Kunstfertigkeit ab. Alles, was die bewegten Bilder vor dem 20. Jahrhundert charakterisierten, die manuelle Herstellung der Bilder, die Abläufe in einer Schleife, das diskrete Wesen von Raum und Bewegung, wurde an den Bastard des Films, an seine Ergänzung, seinen Schatten delegiert: an die Animation. Die Animation des 20. Jahrhunderts wurde zu einer Hinterlassenschaft der Technik der bewegten Bilder des 19.Jahrhunderts, die vom Film überholt wurde.

Der Gegensatz zwischen dem Stil der animierten Bilder und dem Film definierte die Kultur des bewegten Bildes im 20. Jahrhundert. Animation stellt ihren künstlichen Charakter in den Vordergrund und räumt offen ein, daß ihre Bilder nur Repräsentationen sind. Ihre visuelle Sprache ist mehr mit der Grafik als mit der Fotografie verbunden. […]

Der Film hingegen versucht mit allen Mitteln, jede Spur seines Produktionsprozesses und auch jeden Hinweis zu verwischen, daß die Bilder, die wir sehen, konstruiert und nicht aufgenommen sein könnten. Es leugnet, daß es die von ihm gezeigte Wirklichkeit oft nicht außerhalb des Filmbildes gibt, das durch das Fotografieren eines bereits unmöglichen Raumes entstand, der selbst mit Hilfe von Modellen, Spiegeln und Gemälden zusammengebaut ist und dann durch optischen Druck mit anderen Bildern kombiniert wird. […] daß der Film nicht wirklich von der Animation verschieden war, wurden von seinen Herstellern, Historikern und Kritikern an den Rand verdrängt. Mit dem Übergang zu digitalen Medien rücken diese marginalisierten Techniken ins Zentrum.

Kommentar: Zur Transparenz der Mittel vgl. auch Arnheim: „Kunstgenuß ist Vergnügen über das Gelingen einer bestimmt gearteten Aufgabe. Dies Vergnügen ist nicht möglich, wenn die Mittel verwischt sind und nur der Gegenstand sichtbar ist. […] Zum Kunstwerk jedoch gehört, daß die verwendeten Mittel im Werk selbst sichtbar seien. [Link]

Was ist digitaler Film?

Ein sichtbares Zeichen für diese Veränderung ist die Rolle, die in der Hollywoodindustrie die computergenerierten Spezialeffekte während der letzten Jahre spielen. Viele der jüngsten Kassenschlager wurden durch Spezialeffekte bewirkt, die deren Popularität ausmachten. Hollywood hat sogar ein neues Mini-Genre an Videos und Bücher über „Die Entstehung von …“ geschaffen, die darlegen, wie die Spezialeffekte produziert wurden. […]

Kommentar: Manovich meint hier Making-Of-Produktionen. Welche Rolle spielen diese als Begleitmaterial des Films?

Die Prinzipien der digitalen Filmproduktion:

1. Man muß nicht mehr eine materielle Wirklichkeit filmen, sondern kann filmähnliche Szenen in einem Computer mit der Hilfe von 3D-Computeranimationen herstellen. […]

2. Wenn Livehandlungen einmal digitalisiert sind (oder direkt digital aufgezeichnet werden),verlieren sie ihre privilegierte indexikalische Beziehung mit der Wirklichkeit außerhalb des Filmes.[…]

3. Während der visuelle Realismus dem fotografischen Prozeß eigen bleibt, erhält der Film die Plastizität, die zuvor nur in der Malerei und Animation möglich gewesen ist. Digitale Filmemacher arbeiten, um es mit dem suggestiven Namen einer bekannten Morphing Software zu sagen, mit „elastischer Wirklichkeit“. Beispielsweise besteht die Anfangsszene von Forrest Gump (Robert Zemeckis, Paramount Pictures, 1994; Spezialeffekte von Industrial Light and Magic) aus einem ungewöhnlichen langen und extrem komplizierten Flug einer Feder. Um diese Aufnahme zu machen, wurde die wirkliche Feder in verschiedenen Positionen vor einem blauen Hintergrund gefilmt. Diese Aufnahmen wurden dann animiert und mit Aufnahmen einer Landschaft kombiniert. Das Ergebnis ist eine neue Art des Realismus, das man beschreiben kann als etwas, „dessen Aussehen genau dem gleichen soll, wie etwas geschehen sein könnte, obgleich dies in Wirklichkeit nicht geschehen kann.“

Forrest Gump (Robert Zemeckis, Paramount Pictures, 1994; Spezialeffekte von Industrial Light and Magic), Filmausschnitt

Kommentar: Manovich bezieht sich hier auf die in den 90ern entwickelte Software „Avid Elastic Reality“. Programme wie diese machten die Technik des Compositing möglich. Vor dem green screen aufgenommene Handlungen können nachträglich mit grafischen Darstellungen kombiniert werden. Für Manovich eine Kopplung zwischen „fotografischen Realismus“ und „Collage“. Ein Composite Image ist ein Bild, das den Betrachtern nicht offenlegt, welche Teile des Bildes real sind und welche computergeneriert. Heterogenes Film- oder Bildmaterial wird zu einem homogenen Gesamtbild zusammengefügt, ähnlich zur Montage, jedoch nicht sequenziell, sondern in einem einzelnen Frame. Manovich erläutert in seinem Text, warum dieser Kernaspekt des digitalen Kinos eine veränderte Auffassung von Filmproduktion nach sich zieht. Bisher getrennte Arbeitsschritte verbinden sich zu einem großen übergeordneten Copy und Paste-Prozess dessen händische Natur, an den Wurzeln des frühen Animationskinos anknüpft.

Erläuterung Begriff/Technik “Matte Painting”, Filmausschnitt und Studio-Schema

4. Früher waren Schnitt und Spezialeffekte zwei genau voneinander getrennte Bereiche. Der Schnitt bestand aus der Aneinanderfügung von Bildsequenzen, und jeder Eingriff in das Bild wurde von Fachleuten für Spezialeffekten vorgenommen. Der Computer bringt diese Unterscheidung zum Verschwinden. Die Veränderung einzelner Bilder mittels eines Paint-Programmes oder einer algorithmischen Bildverarbeitung wird genauso leicht wie die Aneinanderfügung der Bildsequenzen in der Zeit. Beides ist einfach „cut and paste“. Wie dieser elementare Computerbefehl zeigt, betrifft die Veränderung von digitalen Bildern oder anderen digitalen Daten nicht die Unterscheidung zwischen Raum und Zeit oder von Größenverhältnissen. Daher wird die Neuordnung von Bildsequenzen in der Zeit, ihre Komposition im Raum, die Veränderung von Bildelementen und einzelnen Pixeln konzeptuell und praktisch zur selben Arbeit.

5. Geht man von diesen Prinzipien aus, dann läßt sich der digitale Film so definieren: Digitaler Film = Filmaufnahmen + Malerei + Bildverarbeitung + Komposition + 2D-Animation + 3D-Computeranimation. […]

Können wir jetzt also die Frage „Was ist digitaler Film?“ beantworten? Digitaler Film ist eine spezielle Art der Animation, die als eines ihrer Elemente normale Filmbilder verwendet. […]

Beim digitalen Filmemachen stellen die Aufnahmen nicht mehr das Endergebnis, sondern nur noch das Rohmaterial dar, das in einem Computer bearbeitet wird, in dem die wirkliche Konstruktion einer Szene stattfindet. Kurz, die Produktion wird nur zur ersten Stufe der Postproduktion. […]

Kommentar: Hier ließe sich an Frampton, Verweis auf das “infinite cinema” denken. Auch wenn Frampton an der Indexikalität des fotografischen Bildes festhält, bleiben Filme für ihn selbst nach ihrer Fertigstellung noch Rohmaterial: „There is no evidence in the structural logic of the filmstrip that distinguishes ‚footage‘ from a ‘finished’ work. Thus, any piece of film may be regarded as ‚footage,‘ for use in any imaginable way to construct or reconstruct a new work. […] we might agree to call it an infinite cinema.“ (Frampton 1971) [→Link]

Die manuelle Überarbeitung digitalisierter Bilder, wie sie durch den Computer möglich werden, ist wahrscheinlich das herausragendste Beispiel der neuen Situation des Films. Nachdem er nicht mehr fest an die Fotografie gebunden ist, öffnet er sich selbst dem Malerischen. Das ist auch das offensichtlichste Beispiel für die Rückkehr des Films zu seinen Ursprüngen im 19. Jahrhundert, in diesem Fall zu den handbemalten Dias der magischen Laternen, zum Phenakistikop, zum Zoetrop.

Wir stellen uns normalerweise die Computerisierung als Automatisierung vor, aber hier ist das Ergebnis gerade das Gegenteil. Was früher automatisch von einer Kamera aufgenommen wurde, muß jetzt Bild für Bild gemalt werden – aber jetzt muß nicht nur ein Dutzend Bilder wie im 19. Jahrhundert, sondern es müssen Hunderte und Tausende gemalt werden. Wir können eine weitere Parallele mit der in den frühen Tagen des Stummfilms üblichen Praxis ziehen, manuell Filmbilder mit verschiedenen Farben je nach der Stimmung der Szene zu tönen. Heute werden einige der raffiniertesten digitalen Effekte oft mit der gleichen einfachen Methode erzielt: durch mühsame manuelle Veränderung von Tausenden von Bildern. Die Bilder werden übermalt, um entweder Ergänzungen zu schaffen oder um sie direkt zu verändern, wie beispielsweise in Forrest Gump, wo man Präsident Kennedy neue Sätze sprechen sieht, indem man Bild für Bild die Form seiner Lippen veränderte. Im Prinzip kann man mit genügend Zeit und Geld den ultimativen digitalen Film machen: 90 Minuten, d.h. 129600 ganz neu gemalte, aber vom Aussehen nicht von der normalen Fotografie unterscheidbare Bilder.

Forrest Gump (Robert Zemeckis, Paramount Pictures, 1994; Spezialeffekte von Industrial Light and Magic), Filmausschnitt

Multimedia als „primitiver“ digitaler Film

3D-Animation, Komposition, Mapping, Retouchieren mit Paintprogrammen: diese radikal neuen Techniken werden im kommerziellen Film meist dazu benutzt, um technische Probleme zu lösen, während die traditionelle Filmsprache unverändert erhalten bleibt. Bilder werden manuell übermalt, um Drähte zu entfernen, die einem Schauspieler während des Drehens halfen; ein Vogelschwarm wird einer Landschaft hinzugefügt; eine städtische Straße wird mit ganzen Mengen von simulierten Extras gefüllt. Obgleich die meisten Hollywoodfilme jetzt digital veränderte Szenen enthalten, wird der Einsatz der Computer immer sorgfältig verborgen. […]

Kommentar: Vgl. hierzu Techniken der fotografischen Retusche im frühen Studio-System Hollywoods [→Link]

Beginnend in den 80er Jahren entstanden neue filmische Formen, die keine Erzählungen mehr sind, die man auf dem TV- oder Computerbildschirm und nicht mehr in einem Kino zeigt – und die gleichzeitig den filmischen Realismus aufgeben.

Die erste dieser neuen Formen ist das Musikvideo, das wahrscheinlich nicht zufällig genau zu der Zeit entstand, als Mittel zur Erzeugung von elektronischen Videoeffekten in die Studios gelangten. Ebenso wie Musikvideos oft Erzählungen enthalten, die aber nicht von Anfang bis Ende linear sind, basieren sie auch Film- oder Videobildern, die sie aber bis über die Normen des traditionellen filmischen Realismus hinaus verändern. Die im Hollywoodfilm kaschierte Manipulation von Bildern durch manuelles Malen und Bildverarbeitung wird auf dem TV-Bildschirm ganz offen gezeigt. […]

CD-ROM-Spiele sind eine weitere nicht erzählerische Form des Films, die, im Gegensatz zum Musikvideo, von Beginn an auf dem Computer zur Speicherung und Distribution beruhten. Anders als die Gestalter von Musikvideos, die die traditionellen Film- oder Videobilder bewußt in eine neue Ebene trieben, kamen die Designer von CD-ROMs unwillentlich beim Versuch, den traditionellen Filmnachzuahmen, zu einer neuen visuellen Sprache.

Kommentar: Die Gestalter von Videospielen haben laut Manovich unbeabsichtigt eine neue Form des Kinos entdeckt, indem sie versuchten, das klassische Kino nachzuahmen. Aktuelle Videospiele haben diese Imitation des Kinos perfektioniert. Motion capture wird eingesetzt, um Schauspieler aus bekannten Filmen in Videospiele zu implementieren. Inzwischen hat sich das Videospiel von dem Anspruch entfernt, das Kino zu emulieren. Es lassen sich eine Vielzahl von Spielen anführen, die alternative Narrationsmodelle und User-Experiences kreieren. Videospiele scheinen nun an einem ähnlichen Wendepunkt angekommen zu sein, an dem der Film bereits mit Anbruch des digitalen Kinos angelangt war. 

In den späten 80er Jahren begann Apple den Begriff der computerbasierten Multimedia herauszustellen und brachte 1991 die Software QuickTime auf den Markt, damit Filme auf einem gewöhnlichen PC laufen konnten. […]

Wegen dieser Beschränkungen der Hardware mußten die Designer von CD-ROMs eine andere Filmsprache erfinden, in der eine ganze Reihe von Strategien wie diskrete Bewegung, Schleifen und Überlagerung, die man im 19. Jahrhundert zur Vorführung von bewegten Bildern, im 20. Jahrhundert für Animationen und in der avantgardistischen Tradition des grafischen Films benutzte, auf fotografische oder synthetische Bilder anwandte. Diese Sprache verband den filmischen Realismus und die Ästhetik der Collage mit deren Heterogenität und Diskontinuität. Das Fotografische und das Grafische, die auseinander traten, als der Film und die Animation ihre verschiedenen Wege gingen, trafen sich wieder auf dem Computerbildschirm. […]

Es wäre nicht völlig unangemessen, wenn man diese Kurzgeschichte des digitalen bewegten Bildes als teleologischen Fortschritt liest, der die Entstehung des Films vor hundert Jahren noch einmal durchläuft. Da die Geschwindigkeit der Computer zunahm, waren die Designer von CD-ROMs in der Lage, vom Format einer Diashow zur Übereinanderlagerung kleiner sich bewegender Elemente vor einem statischen Hintergrund und schließlich zu bewegten Bildern auf Bildschirmgröße überzugehen. Diese Evolution wiederholt den Fortschritt im 19. Jahrhundert: von Sequenzen von Einzelbildern (die Diavorführungen der magischen Laternen) zu sich bewegenden Darstellern vor einem statischen Hintergrund (beispielsweise im Praxinoskop-Theater von Reynaud) zur vollen Bewegung (der Kinematograph von den Lumières). Die Einführung von QuickTime im Jahre 1991 kann überdies mit der des Kinetoskops im Jahre 1892 verglichen werden: beide wurden eingesetzt, um kurze Schlaufen zu zeigen, beide hatten ein Bildformat von etwa 5 x 7,5 Zentimeter, beide privilegierten einen einzelnen Zuschauer und nicht eine Vorführung für viele. Und schließlich fanden die ersten Filme von Lumières im Jahre 1895, die die Zuschauer mit riesigen bewegten Bildern schockierten, ihre Parallele in CD-ROMs von 1995, auf denen das bewegte Bild den Bildschirm füllte. Genau 100 Jahre, nachdem das Kino offiziell „geboren“ wurde, erfand man es erneut auf einem Computerbildschirm.

Kommentar: Siehe hierzu unter „Vor- und Frühgeschichte des Films“ [→Link]

Die Schleife

Die Geburt des Films aus der Form der Schleife vollzog sich mindestens noch einmal. In einer der Sequenzen des revolutionären sowjetischen Montagefilms, in Der Mann mit der Filmkamera (1929), zeigt Dziga Vertov einen Kameramann, der auf dem Heck eines fahrenden Automobils steht und an der Kurbel der Kamera dreht. Eine Schlaufe, eine Wiederholung, die durch die kreisförmige Bewegung der Kurbel erzeugt wird, läßt eine Folge von Ereignissen entstehen – eine sehr grundlegende und höchst moderne erzählerische Struktur: eine Kamera, die sich durch einen Raum bewegt und alles aufnimmt. Die Einstellungen, die eine Bezugnahme auf die Ursprungsszene des Films zu sein scheinen, werden mit Aufnahmen eines fahrenden Zugs unterbrochen. Vertov läßt sogar die Furcht wieder aufleben, die Lumières Film vermutlich bei seinen Zuschauern auslöste. Er positionierte die Kamera genau am Zuggleis, so daß der Zug öfter über uns hinwegzufahren scheint […].

Dziga Vertov, Čelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera), 1929, Filmausschnitt (‚Die Ankunft des Zuges‘ im Kino, schneiden im Takt der Zeit, Signalübertragung auf den Gleisen und im Kino über den Lichtstrahl des Filmprojektors)

Frühe digitale Filme haben dieselben Speicherbeschränkungen wie die präkinematischen Apparate des 19. Jahrhunderts. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die Playbackfunktion für die Schlaufe in das QuickTime-Interface eingebaut wurde und man ihr so dasselbe Gewicht wie der VCR-Funktion „Abspielen“ [verlieh].

Vom Kino-Auge zum Kino-Pinsel

Im 20. Jahrhundert hat der Film zwei Rollen gleichzeitig gespielt. Als Medientechnik war es seine Rolle, sichtbare Wirklichkeit aufzuzeichnen und zu speichern. Die Schwierigkeit, Bilder zu verändern, wenn sie einmal aufgenommen waren, verlieh dem Film gerade seinen Wert als Dokument und sicherte seine Glaubwürdigkeit. Dieselbe Starrheit des Filmbildes hat die Grenzen des Films definiert. Obgleich er eine Vielzahl von Stilen aufweist, die aus der Arbeit von vielen Regisseuren, Gestaltern und Technikern hervorgehen, haben diese eine starke Familienähnlichkeit. Sie alle sind die Kinder [eines] Aufnahmeprozesses, der mit Linsen, dem normalen Ablauf der Zeit und fotografischen Medien arbeitet.

Die Veränderbarkeit von digitalen Daten beeinträchtigt den Wert von Filmaufnahmen als Wirklichkeitsdokumente. Im Rückblick können wir erkennen, daß die vom Film des 20. Jahrhunderts ausgeübte Herrschaft des visuellen Realismus nur eine Ausnahme war, ein isoliertes Ereignis in der Geschichte der visuellen Darstellung, die stets – und jetzt wieder – die manuelle Konstruktion von Bildern einschließt. Der Film wird zu einem besonderen Teil der Malerei, zum Malen in der Zeit. Es gibt kein Kino-Auge [18] mehr, sondern jetzt gibt es einen Kino-Pinsel.

Kommentar: Vgl. Vertovs Theorie des „Kino-Auges“ [→Link]. sowie Astrucs „Caméra-stylo“.

Die privilegierte Rolle der manuellen Konstruktion von Bildern in digitalen Medien ist ein Beispiel für einen größeren Trend: der Wiederkehr präkinematischer Techniken des bewegten Bildes. Diese Techniken, die vom Film des 20. Jahrhunderts an den Rand gedrängt und in die Bereiche der Animation und der Spezialeffekte delegiert wurden, tauchen jetzt wieder als die Grundlage des digitalen Filmemachens auf. Was eine Ergänzung des Films war, wird seine Norm. Was an seinen Rändern stand, rückt ins Zentrum. Digitale Medien bringen das Unterdrückte des Films zurück.

Was zur Jahrhundertwende ausgeschlossen wurde, als der Film die moderne Kultur des bewegten Bildes zu beherrschen begann, wird jetzt erneut erforscht. Die Kultur des bewegten Bildes wird neu definiert. Der Filmrealismus steht nicht mehr in ihrem Zentrum, sondern wird zu einer Option unter anderen. 

Kommentar: Die Frage “Was ist Kino?”, bleibt trotz Bazin und anderen Theoretikern weiterhin unbeantwortet. Sie wird gar erweitert um die Frage(n): Ist das noch Kino? Und wenn ja, welches? Ist ein aktuelles Videospiel eine eigene Form von Kunst oder lediglich eine Unterart des Kinos? Manovich argumentiert, dass Videospiele eine ähnliche Entwicklung wie das Kino genommen haben, da sie mit denselben technologischen Beschränkungen konfrontiert waren und sich wie diese zunächst auf animierte Einzelbilder und kurze Schleifen (Loops) einstellen mussten. Die Geschichte des Kinos wird somit selbst als Loop vorgestellt. Das schließt auch einen veränderten Blick auf die Geschichte der Multimedia-Kunst ein: “Anstatt visuelle Strategien von frühen Multimedia-[Arbeiten] [lediglich] als Folge technischer Einschränkungen [abzutun], können wir sie als Alternative zum traditionellen filmischen Illusionismus, als den Beginn der neuen Sprache des digitalen Films denken.”

Kommentare: Kai Schwöbel und Dominik Osei Owusu

Redaktion und Ergänzung: Thomas Helbig

Literatur:

André Bazin, Ontologie des photographischen Bildes (1945), in: ders., Was ist Film?, hg. von Robert Fischer, Berlin 2009, S. 33-42

Shane Denson, Julia Leyda (Hg.), Post-Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer 2016

Thomas Elsaesser und Malte Hagener, Filmtheorie zur Einführung, Frankfurt/M. 2007

Hollis Frampton, For a Metahistory of Film: Commonplace Notes and Hypotheses (1971), in: ders., On the Camera Arts and Consecutive Matters. The Writings of Hollis Frampton, hg. v. Bruce Jenkins, Cambridge, MA 2009, S. 131–139

Lev Manovich, The Language of New Media, Massachusetts 2001

William J. T. Mitchell, The Reconfigured Eye: Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge 1992