Ich schreibe diesen Beitrag im Rahmen des OpenCourses 2011. Hier ging es in dieser Woche um Personal Learning Environments (PLE). Ein ganz spannendes Thema, bei dem ich aber in den letzten Tagen Bauchgrimmen bekommen habe. Warum?
Okay, gleich vorneweg und zum besseren Verständnis: Ich bin Autor und schreibe und entwickle Lerninhalte. Der Vortrag von Professor Kerres und die Diskussion fand ich sehr interessant. Ich bin selber Drupalfan und sehe das Potential dieses CMS. Ich kann mich ohnehin sehr für technologische Neuerungen begeistern. Und ich bin – vielleicht ein wenig kurios angesichts meiner Arbeit – in vielen Dingen, die ich in meinem Leben gelernt habe, ein ausgesprochener Autodidakt.
Trotzdem sehe ich Probleme. Und die verursachen mein Bauchgrimmen. Welche Art von Wissen lässt sich mit Lerntechnologien überhaupt vermitteln? Und brauchen wir strukturierte Lerninhalte oder langt es, die Infrastruktur bereitzustellen?
Ich sehe den Trend und das Denken – und das wurde in der Mittwochsdiskussion ja auch u.a. am Beispiel amerikanischer Unis angedeutet –, dass es vielleicht langt, die technische Infrastruktur mitsamt Web 2.0, Kollaborationsmöglichkeiten u.ä. bereitzustellen, damit “Lernen passiert”. Ich meine damit nicht das Projekt von Professor Kerres oder andere, sondern denke eher generell.
In den letzten zehn Jahren, so mein persönlicher Eindruck, ist die Lernlandschaft regelrecht explodiert: Es gibt zahlreiche E-Learning-Agenturen, -berater und Softwareschmieden, die Learning Management Systeme anbieten oder Firmen beim Aufbau einer Lerninfrastruktur beraten. Sehr viele, die in diesem Bereich arbeiten, haben einen IT-Hintergrund und verlangen prächtige Summen von Universitäten und Unternehmen. Der Eindruck, der meiner Meinung nach in diesem von der stark IT geprägten und dominierten Umgebung entstanden ist, dass es damit vielleicht getan wäre.
Viele, die sich im Umfeld des OpenCourses tummeln, bewegen sich naturgemäß im akademischen Umfeld. In der Akademie wird viel semantisches Wissen gelernt und gelehrt: Daten, Fakten, Studien, Empirie, Thesen, Theorien, logische Zusammenhänge. Wissen, dass deklariert werden kann. Wissen, das man leicht per Computer lernen kann. Doch dies ist nur ein Wissensaspekt. Siehe in diesem Zusammenhang auch meinen Beitrag Lerntechnologien – Eine Gedanken- und Gedächtnisskizze.
Wollen wir etwa Japanisch lernen, können wir sehr leicht Wortschatz, den man auch zum semantischen Wissen zählt, am Computer lernen. Doch wir brauchen auch prozedurales Wissen. Motorische Fähigkeiten etwa, um Aussprache und Intonation hinzubekommen. Wir müssen das Schriftsystem lernen, zumindest wenn es das traditionelle sein soll. Motorik brauchen wir, um Maschinen zu bedienen, Stabhochsprung zu lernen oder um einen Blinddarm zu operieren. Da sollten wir mit unserem Denken endlich weg vom Schreibtisch-Computer-Modell oder von der neueren Variante: Sofa-ipad. Ich verspreche mir hier viel von Augmented Reality.
Bleiben wir gedanklich kurz in Asien: Ich lerne Hapkido, eine koreanische Kampfsportart mit vielen Würfen und Hebeln. Ich bin hier sehr froh, wenn ich einen Lehrer habe, der mir die schnellen und komplizierten Bewegungen Schritt für Schritt aufschlüsselt und zeigt. Hier bin ich auf strukturierte und durchdachte Lerninhalte, die aufeinander aufbauen und ein Monitoring angewiesen, um dies alles lernen zu können.
Für Japanisch gilt: Ich brauche jemanden, der mir die japanische Grammatik und den Wortschatz aufschlüsselt. Das kann auch Lernmaterial sein. Das muss nicht lehrbuchartig nach Lektionen und Niveaustufen geschehen, aber vielleicht kontextabhängig, wenn ich gerade einkaufen gehe oder ein Zugticket brauche. Mobile Learning wäre hier gut vorstellbar.
Im Deutschen unterscheiden wir “Du” und “Sie”. Auch wenn wir grammatisch korrekte Formen bilden können, wissen wir noch lange nicht, welche Form wir wann anwenden. Das hängt vom Kontext ab, in dem die Kommunikation gerade stattfindet. Bin ich abends auf einem Ska-Konzert, rede ich alle mit “Du” an. Alle? Vielleicht doch nicht den älteren Herrn im Anzug, der sich in der Nähe der Bar aufhält. Dieses Wissen haben wir uns im Laufe des Lebens erworben. Es ist implizit und nicht exakt, regelgeleitet und bestimmbar. Wir können nicht immer deklarieren, wann und warum wir es genau anwenden. In der japanischen Sprache gibt es eine Vielzahl von Höflichkeitsformen. Manche schätzen sie auf zehn. Dieses Wissen erwerben wir im Kontext, im jeweiligen Umfeld. Diese Art von Wissen geht mir in der aktuellen Diskussion zu sehr unter. Wie kann ich das Lernen, wenn nicht in Japan vor Ort? Vielleicht wäre Game-based Learning eine Alternative.
Wie weit kommen wir dann mit den in dieser Woche diskutierten PLEs? Wie weit kommen wir mit einem LMS oder Social LMS? Brauchen wir hier nicht doch manchmal einen strukturierten Input? Brauchen wir nicht ein Feedback für unser Lernen? Welche Arten von Wissen kann man am Schreibtisch und Computer lernen?
Überhaupt: Was ist mein PLE letzten Endes? Wirklich fragmentiert, wenn es wie bisher aus Computer, meinen Blog, meine Bücher, meinen Schreibtisch, mein Smartphone usw. besteht oder in Zukunft noch Augmented Reality, Games und mehr hinzukommen? Dörte Giebel fragte in der Diskussion mit Professor Kerres, inwieweit man das Gelernte transferieren und mitnehmen kann. Ich denke, mein PLE ist mein Körper und mein Hirn. Beides. Ich habe im letzten Sommer nach zwölf Jahren wieder angefangen, Bass zu spielen. Und ohne es geahnt zu haben, waren viele Bewegungsmuster noch vorhanden. Und ich konnte dann jemand anders auch wieder etwas über Harmonien erklären.
Mein Wissen und meine ganzen Erfahrungen habe ich ständig bei mir. Wenn wir über PLEs nachdenken, sollten wir vom technologiezentrierten Denken weg und mehr über uns als Mensch und seine Fähigkeiten nachdenken: Warum lernen wir? Wann schenken wir einem Stimulus Beachtung? Warum vergessen wir ihn – oder nicht? Welche Rolle spielen Emotionen? Unter welchen Umständen können wir unser Wissen wieder abrufen?
Hier sehe ich die Zukunft des Lernens. Wenn unsere Gedanken um die Technologie kreisen, vergessen wir einen wichtigen Aspekt: den Menschen mit seinen Fähigkeiten.