Essay

Sonja Palade

August Sanders Antlitz der Zeit als physiognomisches Gesellschaftsporträt

Dieser Gastbeitrag ist ein leicht veränderter Auszug aus der Masterarbeit Das Fotobuch als Übungsatlas? Die Neue Sachlichkeit in Benjamins Kleine Geschichte der Photographie, die 2022 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Studiengang Curatorial Studies. Theorie–Geschichte–Kritik eingereicht und von Prof’in. Dr. Regine Prange und Dr. Helen Barr betreut wurde. Der Volltext der Arbeit ist abrufbar unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2022/7938.


Unter dem Titel Menschen des 20. Jahrhunderts arbeitete August Sander ab 1924 an einem umfassenden fotografischen Dokument der Weimarer Gesellschaft, für das er Porträts von repräsentativen Vertretern verschiedener Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten zu einer aus sieben Hauptgruppen bestehenden Typologie zusammenstellte. Sein Konzept sah eine systematische Ordnung des Bildmaterials nach Mappen vor, die seine Vorstellung von der gesellschaftlichen Struktur seiner Zeit reflektierte. Sanders Projekt blieb zeitlebens unabgeschlossen. Mit dem Fotobuch Antlitz der Zeit. Sechzig Fotos deutscher Menschen, das 1929 im Kurt Wolff/Transmare-Verlag erschien, veröffentlichte er erstmals eine Vorschau von 60 Fotografien mit einem Vorwort von Alfred Döblin.

Das vorherrschende Motiv in Sanders Fotobuch ist das „Berufsportrait“,[1] das Personen in Arbeitsbekleidung und mit typischen Attributen inszeniert. Ebenfalls häufig vertreten sind Fotografien von Familien oder Ehepaaren. Die Abbildungen werden auf der Buchseite von einer Bildunterschrift begleitet, die den Beruf oder Stand der jeweiligen Person angibt, in wenigen Fällen auch das Jahr oder den Ort der Aufnahme. Die Namen der Porträtierten werden jedoch nicht genannt. Die Auswahl und Reihenfolge der Aufnahmen in Antlitz der Zeit folgt im Wesentlichen der Systematik des Mappenwerks, wenngleich das Fotobuch in einigen Punkten davon abweicht. Antlitz der Zeit beginnt mit Porträts der ländlichen Bevölkerung und endet in der Großstadt: Auf Bauern folgen Vertreter verschiedener Handwerksberufe und Arbeiter sowie Repräsentanten einer Kategorie, die Sander als „Die Stände“ betitelte; diese umfasst unter anderem Angehörige des Bürgertums sowie Geistliche, Beamte und Politiker. Das Buch schließt mit Porträts von Künstlern und Angestellten, die letzten beiden Aufnahmen zeigen erwerbslose Personen.

„Namenlose Menschenbilder“

In Kleine Geschichte der Photographie (1931) verortet Walter Benjamin Antlitz der Zeit, das für ihn eine moderne Form des fotografischen Porträts darstellt, in der Tradition des sowjetischen Films, der die in der ‚Verfallszeit‘ dominante Praxis der „entgeltlichen, repräsentativen Porträtaufnahme“ als erster unterbrochen habe.[2] Der „Spielfilm der Russen“, so schreibt er, lasse „zum ersten Mal seit Jahrzehnten“ wieder „Menschen vor der Kamera erscheinen […], die für ihr Photo keine Verwendung haben.“[3] Die Erzeugnisse der Porträtfotografie des späten 19. Jahrhunderts betrachtet Benjamin als Negativbeispiel einer fotografischen Gebrauchsform, die die unzeitgemäßen Konventionen einer künstlerischen Gattung imitiert. Moderne Darstellungen des Menschen, wie Benjamin sie bei Eisenstein, Pudowkin und Sander gleichermaßen ausmacht, seien dagegen „kein Porträt mehr.“[4] In diesem Punkt treffen sich in Benjamins Fotografiegeschichte drei unterschiedliche Positionen, die in einem „unterirdischen Zusammenhang“ zu stehen scheinen, wie er ihn zu Beginn seines Essays zwischen Frühzeit und Moderne der Fotografie vermutet. Bezüglich David Octavius Hills Fotografie einer Fischersfrau um 1845 hatte Benjamin ebenfalls hervorgehoben, dass es sich um kein „Porträt“ handele, sondern um ein „namenlose[s] Menschenbild“.[5] Zum gemeinsamen modernen Pendant der frühen ‚Blüte‘ der Porträtfotografie verbindet Benjamin mit Sander und dem russischen Revolutionsfilm zwei medial und inhaltlich unterschiedliche Positionen der 1920er Jahre, die das in der Frühzeit angelegte Potenzial der Fotografie in der Gegenwart fortzuführen scheinen.

David Octavius Hill & Robert Adamson, Newhaven Fishwife, 1843-47.

Der Schnittpunkt, den er zwischen dem sowjetischen Film und Antlitz der Zeit ausmacht, ist die „physiognomische Galerie“.[6] Darunter lässt sich die Darstellung anonymer Personen unter physiognomischen Gesichtspunkten verstehen, die vom Individuum abstrahiert und auf die Repräsentation von gesellschaftlichen Typen abzielt. Eisenstein nutzte dazu eine als „Typage“ bezeichnete Methode, Rollen nicht durch bekannte Schauspieler zu besetzen, sondern die Darsteller nach dem äußerlichen Erscheinen so auszuwählen, dass sie für den Zuschauer unmissverständlich als Vertreter einer bestimmten Klasse erkennbar werden.[7] Diese Methode hebt auch Benjamin hervor, wenn er 1927 über Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin schreibt: „Nichts ist hilfloser als die Einrede vom ‚Einzelfall‘. […] Bekanntlich gibt es eine ganze Reihe Fakten, die ihren Sinn, ihr Relief überhaupt erst erhalten, wenn man sie aus der isolierenden Betrachtung löst.“[viii] Der Schiffsarzt und der Kapitän der Potemkin seien als „Gegenspieler“ des proletarischen Kollektivs demnach keine individuellen Antagonisten, sondern verwiesen als „Typen des Bourgeois“ auf ein gesamtgesellschaftliches Machtgefälle: „So sind die Sadismen des Schiffsarztes in seinem Leben vielleicht nur ein Einzelfall […]. Interessant wird die Sache erst, wenn man das Verhältnis des Ärztestandes zur Staatsmacht in Rechnung stellt.“[9] Auch Sander habe, wie Benjamin schreibt, „eine Reihe von Köpfen zusammengestellt, die der gewaltigen physiognomischen Galerie, die ein Eisenstein oder Pudowkin eröffnet haben, in gar nichts nachsteht, und er tat es unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt.“[10]

„Physiognomische Zeitbilder“

Damit unterscheiden sich beide Darstellungsformen für Benjamin insofern vom klassischen Porträt, als sie den Fokus nicht mehr auf das Individuum legen, sondern die Darstellung eines sozialen Gefüges beabsichtigen.[11] Dies gelingt zum einen durch eine physiognomische Betrachtungsweise im Zeichen eines politisch-sozialen oder wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses, die den Typus aus der äußeren Erscheinung ableitet und als Optisch-Unbewusstes sichtbar macht. Zum anderen wird das Gesamtbild in beiden Fällen erst in der „Galerie“, das heißt im Arrangement der Einzelteile zu einer übergeordneten Einheit erkennbar. Benjamin parallelisiert hier die filmische Montage mit der Erscheinungsform der Fotografien Sanders im Fotobuch. Das moderne Porträt der Weimarer Gesellschaft als „Antlitz der Zeit“ entsteht in Sanders Bildband aus der Anordnung der Fotografien und im Zusammenspiel von Bild und Text. Durch die Bildunterschrift wird der „Einzelfall“ als Typus lesbar,[12] die Reihenfolge der Seiten weist ihm einen bestimmten Platz in der Gesellschaftsordnung zu. Doch auch wenn Fotobuch und Film sich medial im Punkt der Montage berühren und Eisenstein und Sander sich auf den gemeinsamen Nenner eines physiognomischen Interesses bringen lassen, unterscheiden sie sich zugleich auch grundlegend in ihrem jeweiligen Zugriff auf die Physiognomik. Benjamin zieht hier eine Linie von der Avantgarde-Kunst zu einem Vertreter der Neuen Sachlichkeit, dessen Fotobuch er zugleich in einen ‚wissenschaftlichen‘ Kontext stellt. Dabei überträgt er auch den explizit politischen Anspruch Eisensteins auf Sander,[13] wie er den revolutionären Impetus des Neuen Sehens und des Surrealismus auf Eugène Atget als Wegbereiter des „politisch geschulten Blicks“ sowie auf die Veränderung des „Weltbilds“ durch Karl Blossfeldts „Überprüfung des Wahrnehmungsinventars“ appliziert. Während die politischen Implikationen einer durch Fotografie erweiterten Wahrnehmung bei Blossfeldt zwar angedeutet, jedoch nicht näher bestimmt werden, stellt Benjamin in seiner Lesart von Antlitz der Zeit einen konkreten Bezug zur Rolle der Fotografie in der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart her: 

Über Nacht könnte Werken wie dem von Sander eine unvermutete Aktualität zuwachsen. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, pflegen die […] Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man mag von rechts kommen oder von links – man wird sich daran gewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher man kommt.[14]

Walter Benjamin

In Benjamins Interesse für die „physiognomische Auffassung“ spiegelt sich das Spannungsverhältnis zwischen der visuellen Wahrnehmung einer äußeren Erscheinung und einer aus ihr zu gewinnenden Erkenntnis innerer Zusammenhänge, das in seinem Begriff des Optisch-Unbewussten zum Ausdruck kommt. In der Möglichkeit, die „physiognomischen Aspekte am Material“ freizulegen und als Optisch-Unbewusstes erkennbar zu machen, besteht für Benjamin das Potenzial einer technisch-wissenschaftlich fundierten Fotografie. Dieses Interesse teilte auch Sander, der mit Antlitz der Zeit und dem übergeordneten Projekt Menschen des 20. Jahrhunderts das Ziel verfolgte, auf dem Wege der Fotografie ein „physiognomische[s] Zeitbild des deutschen Menschen“ zu erfassen.[15] Damit stehen beide zugleich im Zeichen eines „physiognomischen Paradigmas“, das für die Kultur der Weimarer Republik insgesamt bezeichnend ist.[16] Dessen Ursprünge gehen zurück auf Johann Casper Lavater, der um 1775 in seinen Physiognomischen Fragmenten eine Theorie entwickelte, nach der sich der Charakter eines Menschen aus dessen Gesichtszügen ableiten lasse.[17] Im zeitgeschichtlichen Kontext der 1920er- und 30er-Jahre verstand man unter einer erweiterten physiognomischen Betrachtungsweise nach Antonio Somaini den „Versuch, die Bedeutung und die Voraussetzungen einer ganzen Reihe von Oberflächenphänomenen zu erfassen, die in einem erweiterten Sinne als ‚Gesichter‘ aufgefasst wurden.“[18]

Das verstärkte Interesse an der Physiognomik lässt sich Wolfgang Brückle zufolge als Symptom der Zwischenkriegszeit verstehen, in der „das Arsenal der Typologie, und als deren Werkzeug die physiognomische Methode, zur Orientierung für eine in ihren Wertvorstellungen desorientierten“ Epoche populär werde.[19] In diesem Kontext kam der Fotografie als vermeintlich objektivem Aufzeichnungsmedium eine besondere Bedeutung zu. Um 1930 erschienen zahlreiche Fotobücher, die sich in einer Zusammenstellung von Porträts der physiognomischen Untersuchung des „Antlitz der Deutschen“ widmeten.[20] Während Fotobücher wie Helmar Lerskis Köpfe des Alltags (1931) oder Erna Lendvai-Dircksens Das deutsche Volksgesicht (1932) an die anthropologischen Prämissen Lavaters anschließen, indem sie die kollektive Psychologie ihrer Epoche aus Nahaufnahmen von Gesichtern „abzulesen“ versuchen, trifft dies auf Sander nicht unmittelbar zu.[21] Nur vier der sechzig Aufnahmen aus Antlitz der Zeit konzentrieren sich auf das Gesicht, der überwiegende Teil der Fotografien zeigt die abgebildeten Personen in Ganzkörper- oder Dreiviertelansicht und zielt auf die Darstellung eines sozialen Habitus, der in Pose, Bekleidung und Umgebung zum Ausdruck kommt und mögliche Rückschlüsse auf eine berufliche Tätigkeit oder ein gesellschaftliches Milieu zulässt.[22] Sanders Aufmerksamkeit galt nicht einer charakterologischen Studie, sondern der Möglichkeit, auf dem Wege der Fotografie die Physiognomik gesellschaftlicher Typen wiederzugeben.[23] 

„Reine Photographie“

Dieser Anspruch verbindet ihn mit Eisenstein, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied. Ein epistemologisches oder wissenschaftliches Interesse an der Physiognomik, die er einer vergangenen Epoche zurechnete, betrachtete Eisenstein als unzeitgemäß.[24] Ihre eigentliche Funktion für die Gegenwart liege in seine Augen vielmehr, so Somaini, im „Feld der Kunst“.[25] In einem Vortrag auf der Allunionskonferenz sowjetischer Filmschaffender fasste Eisenstein seinen Standpunkt 1934 mit den folgenden Worten zusammen:

Objektiv messen wir der Physiognomik keinen wissenschaftlichen Wert bei, sowie aber die Typage-Charakteristik eines äußeren Antlitzes ebenbürtig zur allseitigen Darstellung eines Charakters geliefert werden muss, beginnen wir die Gesichter genauso zu benutzen wie Lavater. Wir tun das deshalb, weil in diesem Fall vorrangig der subjektive Eindruck wichtig ist, nicht aber die objektive Übereinstimmung von Merkmal und Wesen eines Charakters. So wird der wissenschaftliche Standpunkt Lavaters von uns in der Kunst ‚ausgetragen‘, wo dies für die Gestaltung erforderlich ist.[26]

Sergei Eisenstein

Eisensteins Filme, die sich wie Panzerkreuzer Potemkin auf reale historische Gegebenheiten beziehen, erheben nicht den Anspruch einer Dokumentation, sondern verhandeln Realität als Fiktion und Konstruktion. Im Kontext der Typage dienen die Gesichter als Material, oder wie Felix Lenz es formuliert, als „konkrete Masken“, die sich in ihrem jeweiligen Ausdruck mittels Montage zu einem „kollektiven Zusammenklang“ fügen.[27] Wenngleich, wie Ulrich Keller schreibt, das „Moment der Fiktion“ und die „künstlerisch-deutende“ Haltung des Fotografen in Antlitz der Zeit ebenfalls zum Tragen kommen,[28i] beschrieb Sander selbst sein Vorgehen gerade nicht als Kunst, sondern als ‚sachliche‘ Fotografie mit wissenschaftlichem Anspruch. Anders als Eisenstein, der den „subjektiven Eindruck“ betonte, berief sich Sander dezidiert auf die Objektivität seines Verfahrens. Wie Benjamin betrachtete er die physiognomische Methode als Möglichkeit, das kollektive Unbewusste sichtbarzumachen und ein Bild der „wahre[n] Psychologie unserer Zeit und unseres Volkes“ zu schaffen.[29] Die Fotografie, die er als objektives Aufzeichnungsmedium verstand, schien ihm dazu als besonders geeignet: Durch „reine“ Fotografie sei es möglich, so Sander, „Bildnisse zu schaffen, die die Betreffenden unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer ganzen Psychologie wiedergeben.“[30] Unter „reiner“ oder „exakter“ Fotografie verstand Sander, ,,die Dinge so zu sehen, wie sie sind und nicht wie sie sein sollen oder können“.[31] Ausschlaggebend für die „dokumentarische Photographie“ seien nicht „Form und Komposition“, sondern die „Bedeutung des Dargestellten“. Dem Status des „Dokument[s]“ käme die Fotografie daher dort am nächsten, wo sich der Fotograf mit gestalterischen Eingriffen zurückhalte und lediglich die „reine Lichtgestaltung mit Anwendung der chemischen und optischen Hilfsmittel“ verfolge.[32]

Auch Benjamin hebt den Aspekt der ‚Wissenschaftlichkeit‘, den er im Zusammenhang mit dem Optisch-Unbewussten als Voraussetzung eines emanzipatorischen Gebrauchs der Fotografie einführt, an Sander besonders hervor. Er beruft sich dazu jedoch weniger auf Sanders Fotografien als auf den Textteil von Antlitz der Zeit und zitiert aus dem Vorwort Döblins, der ebenfalls, wie Benjamin schreibt, „auf die wissenschaftlichen Momente in diesem Werk gestoßen“ sei.[33] Darüber hinaus zieht Benjamin einen Ankündigungstext des Transmare-Verlags hinzu, der Sanders Vorhaben darlegt, mittels Fotografie die „bestehende Gesellschaftsordnung“ abzubilden. An diese „Aufgabe“ sei Sander, wie Benjamin aus dem Verlagstext zitiert, „nicht als Gelehrter herangetreten, nicht von Rassentheoretikern oder Sozialforschern beraten, sondern, wie der Verlag sagt ‚aus der unmittelbaren Beobachtung‘. Sie ist bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kühne, zugleich aber auch zarte gewesen […].“[34] „Zart“ sei die Beobachtung, wie Benjamin präzisiert, im Sinne der „zarten Empirie“ Goethes, „die sich innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“[35] Wie bereits bei Blossfeldt, gilt Benjamins Aufmerksamkeit auch bei Sander der ‚Unmittelbarkeit‘ der fotografischen Abbildung. Dem soziologischen Anspruch des Werks, die gegenwärtige Gesellschaft darzustellen, werde Sander durch eine Haltung zur Fotografie gerecht, die nicht die nachträgliche Illustration einer „Theorie“ im Sinn hat, sondern ihre Erkenntnisse aus der visuellen Beobachtung selbst gewinnt. Diese Einschätzung teilt auch Döblin, der die empiristische Prämisse von Antlitz der Zeit im Einleitungstext folgendermaßen beschreibt: „Wer blickt, wird rasch belehrt werden, besser als durch Vorträge und Theorien, durch diese klaren, schlagkräftigen Bilder und wird von den anderen und von sich erfahren.“[36] Benjamin weist Sander damit die Rolle des „vorurteilslosen“ Beobachters zu, der abbildet, ohne zu werten. Gleichzeitig bringe er jedoch auf dem Wege der Technik die bislang verborgene Bedeutung des Abgebildeten als Optisch-Unbewusstes aus der unmittelbaren Beobachtung im Bild hervor. Darüber hinaus verbindet Benjamin – wie Döblin – mit Sanders Bildkompendium einen didaktischen Anspruch: Nicht nur werde hier das Neue Sehen eingeübt, sondern zugleich auch der politische „Blick“ trainiert, der in Zeiten der gesellschaftlichen Krise Orientierung bieten könne.[37]

„Unmittelbarkeit, Authentizität und Sachlichkeit“

Auch Sander selbst galten, wie Gabriele Conrath-Scholl es zusammenfasst, „Unmittelbarkeit, Authentizität und Sachlichkeit als Prämissen“ seiner Arbeit.[38] Deutlich wird sein Anspruch, die Abgebildeten objektiv und ‚sachlich‘ wiederzugeben, auch in der Gestaltung seiner Fotografien. Die sechzig Porträts aus Antlitz der Zeit zeichnen sich durch eine formale Uniformität und wiederkehrende inszenatorische Strategien aus. Bei etwas mehr als der Hälfte der Aufnahmen handelt es sich um Einzelporträts, die übrigen Fotografien zeigen Paare oder Gruppen. Die Porträtierten sind stehend oder sitzend, in Frontal- oder Dreiviertelansicht aufgenommen und blicken zum überwiegenden Teil mit neutraler Mimik, mitunter auch zurückhaltend lächelnd direkt in die Kamera. Die Perspektive entspricht der Normalsicht und ist so gewählt, dass sich Fotograf und Modell auf Augenhöhe befinden. Die Personen sind mittig im Bild positioniert, ihre Körper sind im Ganzen oder bis zu den Knien zu sehen. Die Belichtung ist gleichmäßig und weist keine harten Schatten auf. Durch die geringe Tiefenschärfe heben sich die Personen vom Hintergrund ab, der hinter ihnen leicht verschwimmt, dabei jedoch identifizierbar bleibt, während sich der Vordergrund durch scharfe Umrisse und Detailreichtum auszeichnet. Der Fokus auf die Person wird durch den eng gefassten Bildausschnitt betont, der den Hintergrund nur andeutet und auf wenige aussagekräftige Details des Lebens- oder Arbeitsraums beschränkt, welche die Lesbarkeit der Fotografie als soziales Typenbild unterstützen.[39]

Etwa die Hälfte der Aufnahmen zeigt die Porträtierten inmitten ihrer alltäglichen Umgebung. In Verbindung mit der Bekleidung und anderen spezifischen Attributen erlaubt die Einbettung der Personen in den Raum Rückschlüsse auf ihre berufliche Tätigkeit oder ihre soziale Stellung. So trägt beispielsweise der Konditor einen weißen Kittel und posiert mit einer Rührschüssel in seiner Backstube, während der Berliner Kohlenträger in fleckiger Arbeitshose und mit einem Korb auf dem Rücken aus einer Kellertür heraustritt. Den Kunstgelehrten fotografierte Sander im holzvertäfelten Interieur, im Dreiteiler und mit Zigarre auf einem Salonmöbel sitzend, das Bauernpaar hingegen in traditioneller Kleidung inmitten der Natur. Diese ortspezifischen Aufnahmen mischen sich in Antlitz der Zeit mit Fotografien, die in Sanders Atelier entstanden sind und uniforme, hellgraue Stellwände als Hintergrund nutzen.[40]

Vom Studioporträt zur „vorurteilslosen Beobachtung“

Sanders stilistisches Raster, aus dem nur wenige Porträts ausbrechen, schließt an die Darstellungskonventionen fotografischer Porträts des 19. Jahrhunderts an. In seiner Tätigkeit als Berufsfotograf und Inhaber eines eigenen Studios war Sander um die Jahrhundertwende auf die Sorte kommerzieller bürgerlicher Atelierporträts spezialisiert,[41] die Benjamin in seiner Beschreibung der ‚Verfallszeit‘ als geschmacklos und unglaubwürdig charakterisiert. Wenngleich Sander sich in den 1920er-Jahren von dieser fotografischen Praxis distanzierte,[42] ist sie auch in seinen späteren Porträts noch erkennbar. Neben der vergleichsweise konventionellen Komposition hebt Keller insbesondere die Inszenierung der Porträtierten in statischen, aber repräsentativen Posen hervor, die Sander aus der Atelierfotografie beibehalten und für seine dokumentarischen Arbeiten adaptiert habe.[43] Sanders „Porträtstrategie“ zeichne sich dadurch aus, dass er die Selbstdarstellung der Modelle gezielt ins Bild setze und sie dazu bringe, „vor der Kamera ein Bild von sich selbst zu ‚entwerfen‘, durch Kleidung, Miene und Geste gesellschaftliche Ansprüche anzumelden, soziales Selbstverständnis zu demonstrieren.“[44] Seine Fotografien sind das Ergebnis eines „langen Prozess[es] des Choreographierens“, wie Somaini es fomuliert,[45] der sich in  Porträtsitzungen über mehrere Stunden erstreckte.[46] Eine entscheidende Rolle spielte hierbei nicht zuletzt Sanders Entscheidung für die Arbeit mit großformatigen Plattenkameras.[47] Durch die Wahl der Technik, die lange Belichtungszeiten und damit das Arbeiten vom Stativ erforderte, war eine dynamische Komposition und das spontane Fotografieren von Momentaufnahmen nicht möglich.[48] Sanders Fotografien – von der Auswahl des Aufnahmeorts, Ausstattung und Pose der Porträtierten bis hin zur Komposition des Bilds – sind daher das Ergebnis einer im Vorfeld sorgfältig überlegten Planung und Inszenierung auf Seiten des Fotografen wie auch seiner Modelle.[49]

Von der Studiofotografie des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich Sanders Aufnahmen jedoch insbesondere dadurch, dass sie auf übermäßige Staffage verzichten.[50] Die Bekleidung der Porträtierten und die Objekte, mit denen sie posieren, entstammen ihrem Lebens- und Arbeitsalltag. Wo Sander die für das Atelier entwickelte statische Kameratechnik im öffentlichen Raum einsetzte, erinnern seine Aufnahmen an Hills Fotografie der Fischersfrau, die Benjamin als Vorläufer des modernen Porträts betrachtet. Dort, wo Sander im Studio fotografierte, stehen seine vor uniformen Stellwänden aufgenommenen Porträts eher den Pflanzenaufnahmen Blossfeldts nahe, der ebenfalls auf einen homogenen, ‚sachlichen‘ Hintergrund setzte. Ein weiterer Unterschied besteht in der Drucktechnik – von den Gummidruckverfahren, die den kommerziellen Atelierporträts ihren charakteristisch weichgezeichneten ‚malerischen‘ Effekt verliehen, schwenkte Sander um auf detailscharfe Abzüge auf modernem Glanzpapier, die, wie Keller schreibt, „als technische Produkte klar erkennbar“ waren.[51]

Betrachtet man Sanders Porträts vor dem Hintergrund seines Selbstverständnisses als Dokumentarist und Verfechter einer ‚sachlichen‘, „reinen“ Fotografie, die sich für ihn gerade durch die Abwesenheit von Gestaltung auszeichnete, verschwinden Fotograf und Apparat gleichsam aus dem Bild und die Fotografie wird vermeintlich mit ihrem Gegenstand identisch. Entgegen der Vorstellung einer in diesem Sinne „vorurteilslosen“ Fotografie, die auch Benjamin positiv hervorhebt, ist der Aufnahmeprozess jedoch nicht auf ein mechanisches Registrieren der Wirklichkeit zu reduzieren, sondern immer ein subjektiver Vorgang. Sander konstruierte und inszenierte das Bild in Absprache mit dem nach festgelegten Kriterien ausgewählten Modell noch bevor er Bildausschnitt, Perspektive, Schärfe und Belichtungszeit bestimmte. Was er als „reine Fotografie“ bezeichnet und Benjamin als „vorurteilslose“ Beobachtung charakterisiert, ist keine neutrale Dokumentation, sondern eine subjektive Konstruktion der Wirklichkeit, wenngleich diese nicht als bewusste Inszenierung auftritt. Wie Blossfeldts Pflanzenaufnahmen sind auch Sanders Porträtfotografien keine ‚natürlichen‘ Bilder, sondern rekurrieren vielmehr auf eine konventionalisierte fotografische Bildsprache.

Blossfeldt/Sander

Formal weisen Sanders Porträts in diesem Punkt ebenfalls Gemeinsamkeiten mit den Pflanzenfotografien aus Blossfeldts Fotobuch Urformen der Kunst (1928) auf. Anschaulich werden die Ähnlichkeiten besonders in denjenigen Aufnahmen, für die Sander – wie Blossfeldt – einen gleichmäßigen, monochromen Hintergrund wählte, welcher den Gegenstand aus seinem ursprünglichen Zusammenhang isoliert und eine neutrale Umgebung suggeriert. Beide Fotografen richten ihre Komposition auf das mittig platzierte und aus der Normalperspektive fotografierte Motiv aus, das sich detailscharf vom Hintergrund abhebt. Wie Blossfeldt arbeitete auch Sander in Serie und hielt sich weitestgehend an ein gleichbleibendes Repertoire an gestalterischen Mitteln, um eine vergleichende Betrachtung der Einzelaufnahmen zu ermöglichen. Mit dieser Form der Bildgestaltung und der Inszenierung der Modelle mit typischen Attributen verweisen Sanders Aufnahmen nicht nur auf das Berufsporträt, sondern auch auf die visuellen Konventionen anthropologischer Fotografien.[52] Ähnlich Urformen der Kunst, schließt auch Antlitz der Zeit an Visualisierungsstrategien an, die ein Bild von Wissenschaftlichkeit und Objektivität vermitteln. Diesen Aspekt greift auch Döblin auf, wenn er eine Parallele zwischen Sanders Fotobuch und einem anatomischen Atlas zieht:[53] „Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt“, so das von Benjamin aus dem Einleitungstext übernommene Zitat, „so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographen gewonnen.“[54]

Auch bezüglich der Auswahl der Porträtierten ist zu konstatieren, dass Sander weniger die „bestehende Gesellschaftsordnung“ abbildet, wie Benjamin aus dem Verlagstext zitiert, als vielmehr wie Blossfeldt einem „Selektionsprinzip des Typischen“[55] folgt. Wählte Blossfeldt nur diejenigen Pflanzen als Anschauungsobjekte aus, die von vornherein eine Assoziation zu Kunstformen nahelegten, ging auch Sander in der Auswahl seiner Motive ähnlich vor. Ausgehend von der im Vorfeld entworfenen Systematik des Mappenwerks wählte er die Modelle nach seiner Vorstellung einer für bestimmte Gruppen „typischen“ Physiognomie aus. Zwar ging er davon aus, dass prinzipiell alle Menschen „in der Physiognomie den Ausdruck der Zeit und der Gesinnung ihrer Gruppe“ tragen würden, bei bestimmten Personen sei dieser Ausdruck jedoch besonders deutlich ausgeprägt, weshalb man sie als „Typus“ bezeichne.[56] Ein physiognomisches Zeitbild werde „noch verständlicher“, so Sander, „wenn wir Photos von Typen der verschiedenen Gruppen der menschlichen Gesellschaft aneinanderreihen.“[57] In der vergleichenden Betrachtung, die durch das homogene stilistische Raster der Fotografien ermöglicht wird, lässt Sander die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser verschiedenen Typen hervortreten. Wie bei Blossfeldt ist hier ebenfalls eine Inszenierungsstrategie erkennbar, die auf präformierten Bildern beruht. Durch Hinweise auf den Wohn- oder Arbeitsraum, berufsspezifische Attribute, Bekleidung und charakteristische Posen oder Gesten werden diejenigen Eigenschaften der Modelle in den Vordergrund gerückt, die auf einen Typus schließen lassen. Zugleich werden diese jedoch nicht stereotyp überzeichnet und bleiben als individuelle Personen im Bild präsent, wodurch Sanders Porträts weit weniger eindeutig lesbar sind als Blossfeldts Pflanzenfotografien. Während insbesondere die handwerklichen Berufe – wie das Porträt des Konditors – vergleichsweise leicht zu dechiffrieren sind, geben sich die Angehörigen einer bürgerlichen Mittelschicht durch ihre Bekleidung zwar noch als solche zu erkennen, ihr Beruf lässt sich – wie im Falle des Kunstgelehrten – jedoch nicht mehr unmittelbar aus der äußeren Erscheinung ableiten.

An dieser Stelle setzt bei Sander die Beschriftung an: Während Döblin und Benjamin betonen, dass die Fotografien Sanders für sich selbst sprechen, kommt dem Text in Antlitz der Zeit eine entscheidende Bedeutung zu. Erst im Zusammenspiel von Bild und Text wird die abgebildete Person eindeutig als Repräsentant eines Berufs oder einer gesellschaftlichen Gruppierung lesbar. Durch knapp formulierte, ‚sachliche‘ Titel wie Handlanger, Schankkellner, Proletariermutter oder Bürgerkind tritt die individuelle Person hinter dem Typus zurück.[58] Eine weiterführende Interpretation von Sanders Fotobuch als ‚Sozialstudie‘ seiner Zeit bietet darüber hinaus der Einleitungstext Döblins an, der eine allgemeine „Abflachung der Gesichter“[59] in der modernen Gesellschaft feststellt und diese mit den ausdrucksstarken Zügen der Bauern als im Verschwinden begriffenen Typus kontrastiert.[60] Vorwort, Bilderunterschriften und Titel setzen gemeinsam, wie Matthias Uecker feststellt, die Rahmenbedingungen für die Lesbarkeit der Fotografien als Typenbilder. Durch die Verortung von Antlitz der Zeit im physiognomischen Diskurs der 1920er-Jahre, der dem zeitgenössischen Publikum vertraut sei, werde bereits vorgegeben, auf welcher Folie sich die Porträts entziffern ließen.[61]

Wie Blossfeldt schließt Sander für Benjamin damit insgesamt an die Funktion der Fotografie als technisches Instrument der Wissenschaft an und ermöglicht auf diese Weise eine erweiterte Wahrnehmung und eine neue Sichtbarkeit. Wo Blossfeldt durch Vergrößerung der Pflanze neue „Bildwelten“ eröffnet und Analogien zwischen Kunst- und Naturform erschließt, visualisiert Sander das Optisch-Unbewusste durch eine physiognomische Perspektive auf die Weimarer Gesellschaft. In beiden Fällen hebt Benjamin die „Unmittelbarkeit“ der Beobachtung hervor und verweist damit auf das Ideal einer mechanischen Objektivität der Wissenschaftsfotografie des späten 19. Jahrhunderts, in deren Tradition er das Neue Sehen der Moderne verortet. Während die Fotografen der ‚Verfallszeit‘ den eigentlichen Gegenstand hinter Retusche und Kostümierung verschwinden lassen, machen Blossfeldt und Sander für Benjamin bislang verborgene Zusammenhänge sichtbar, indem sie ihr Sujet – ähnlich dem Vorgehen Atgets – aus der „Hülle“ tradierter Sehgewohnheiten herauslösen und in ein neues Licht rücken. Ihre Fotografien sprechen dabei, wie Benjamin betont, für sich selbst und vermitteln das auf fotografischem Wege freigelegte Wissen „unmittelbarer“ als es durch Texte oder Theorien möglich sei. Moderne Gebrauchsformen der Fotografie erfüllen für ihn damit zugleich eine pädagogische Funktion mit gesellschaftlichen Implikationen. Indem sie das Neue Sehen trainieren, schärfen sie Benjamin zufolge auch die „physiognomische Auffassung“ und den „politischen Blick“, der durch Veränderungen der Wahrnehmung auch ein verändertes „Weltbild“ und Bewusstsein ermöglicht. Dabei wird deutlich, dass Benjamins Vorstellung einer emanzipatorischen Fotografie nicht an politisch konnotierte Inhalte gebunden ist. Vielmehr geht es ihm um einen Mediengebrauch, der in einer Entsprechung von Objekt und Technik den Veränderungen der Wahrnehmung in der Moderne entgegenkommt und die Grenzen des Sichtbaren medial verhandelt und erweitert.

Auch Blossfeldt und Sander teilen in ihrem Selbstverständnis als objektive Beobachter Benjamins Anspruch einer „vorurteilslosen“ Fotografie, die technisch sichtbar macht, was zuvor im Verborgenen lag. Ihre Fotografien selbst jedoch legen ein anderes Verständnis von ‚Sachlichkeit‘ nahe – nicht die möglichst realistische Wiedergabe steht in ihrer fotografischen Praxis im Vordergrund, sondern vielmehr die Reduktion des Gegenstands auf seine Essenz und eine Darstellungsweise, die seine typischen Eigenschaften hervorhebt. Darüber hinaus, dass sich die Fotografie selbst nicht als neutrales Aufzeichnungsmedium betrachten lässt, greifen beide Fotografen gestalterisch in das Bild ein, indem sie ihr sorgfältig ausgewähltes Motiv bereits vorab inszenieren, drapieren und – im Falle Blossfeldts – nachträglich manuell überarbeiten. Diese Eingriffe treten jedoch hinter einer Bildsprache zurück, die den Eindruck einer, ‚sachlichen‘ Wiedergabe durch Adaption bereits etablierter Darstellungskonventionen vermittelt und damit als „natürliches Bild“ in Erscheinung tritt.


Redaktion: Thomas Helbig

Zur Autorin

Sonja Palade studierte Medienwissenschaft, Fotografie und Curatorial Studies in Köln, Hannover und Frankfurt/M. Seit 2023 ist sie Stipendiatin der Alfred Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung im Programm „Museumskurator*innen für Fotografie“.

Anmerkungen

[1] Ulrich Keller: August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts, in: August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Gunther Sander. München 1994, S. 11–80, hier S. 44.

[2] Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, GS II, S. 379f.

[3] Ebd., S. 380.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 370.

[6] Ebd., S. 380.

[7] Vgl. Antonio Somaini: Übungsatlas. Die Atlas-Form und die Schulung des Blicks, in: Malte Hagener/Vinzenz Hediger: Medienkultur und Bildung. Ästhetische Erziehung im Zeitalter digitaler Netzwerke. Frankfurt a. M. 2015, S. 81–107, hier S. 104.

[8] Benjamin: Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz [1927], in: GS II, S. 751–755, hier S. 754.

[9] Ebd.

[10] Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, GS II, S. 380.

[11] Vgl. Wolfgang Brückle: Kein Portrait mehr? Physiognomik deutscher Bildnisphotographie um 1930, in: Claudia Schmölders/Sander L. Gilman: Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Köln 2000, S. 131–155, hier S. 152.

[12] Vgl ebd., S. 134.

[13] Vgl. Somaini 2015, S. 105.

[14] Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, GS II, S. 381.

[15] August Sander: Wesen und Werden der Photographie. Die Photographie als Weltsprache, 5. Vortrag, Blatt 5, 1931, Dokument REWE-Bibliothek in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, August Sander Archiv Köln, zit. n. Gabriele Conrath-Scholl/Susanne Lange: August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Konzept in seiner Entwicklung, in: August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts: ein Kulturwerk in Lichtbildern eingeteilt in sieben Gruppen, hrsg. v. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln. München 2010, S. 7–35, hier S. 18.

[16] Vgl. Somaini 2015, S. 83.

[17] Vgl. ebd., S. 87f.

[18] Ebd.

[19] Brückle 2000, S. 131.

[20] Ebd., S. 131f.

[21] Ebd., S. 150.

[22] Vgl. ebd.

[23] Vgl. Somaini 2015, S. 94.

[24] Vgl. ebd., S. 105.

[25] Ebd.

[26] Sergei Eisenstein: Rede auf der Allunionskonferenz sowjetischer Filmschaffender [1934]. In: ders.: Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film. Leipzig 1988, zit. n. Somaini 2015, S. 105.

[27] Felix Lenz: Sergej Eisenstein: Montagezeit. Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos. München 2008, S. 140.

[28] Keller 1994, S. 11.

[29] Sander: Brief an Prof. Erich Stenger vom 21. Juli 1925, Original Sammlung Agfa im Museum Ludwig, Köln, zit. n. Conrath-Scholl/Lange 2010, S. 11.

[30]  Ebd.

[31] Sander: Menschen des. 20. Jahrhunderts. Ein Kultwerk in Lichtbildern, anlässlich einer Ausstellung im Kölnischen Kunstverein, November 1927, zit. n. Keller 1994, S. 10. Originaldokument in der Sammlung Agfa, Museum Ludwig, Köln, vgl. auch Conrath-Scholl/Lange 2010, S. 13.

[32] Sander: Wesen und Werden der Photographie [1931], zit. n. Keller 1994, S. 29.

[xxxiii] Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, GS II, S. 380.

[34] Ebd.

[35] Ebd.

[36] Alfred Döblin: Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit [1929], in: Sander 2019, S. 9–18, hier S. 18.

[37] Vgl. Somaini 2015, S. 103.

[38] Gabriele Conrath-Scholl: Einleitung, in: August Sander. Antlitz der Zeit. 60 Fotos deutscher Menschen. Mit gesammelten Rezensionen von 1929–1933, hrsg. v. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln. München 2019, S. 143–148, hier S. 144.

[39] Vgl. Conrath-Scholl/Lange 2010, S. 24.

[40] Vgl. Keller 1994, S. 38.

[41] Vgl. Keller 1994, S. 23.

[42] Vgl. ebd., S. 29.

[43] Vgl. ebd., S. 38.

[44] Ebd., S. 39.

[45] Somaini 2015, S. 86.

[46] Vgl. Keller 1994, S. 39.

[47] Vgl. ebd., S. 37.

[48] Vgl. ebd.

[49] Vgl. ebd.

[50] Vgl. Conrath-Scholl/Lange 2010, S. 21.

[51] Keller 1994, S. 38.

[52] Vgl. Kathrin Schönegg: Karl Blossfeldts Pfanzenaufnahmen als Typusphotographien. Metamorphosen zwischen Kunst und Natur, objektivem Dokument und normativer Konstruktion. In: kunsttexte. E-Journal für Kunst- und Bildgeschichte, Nr. 1 (2011), o.S. [S. 8], URL: http://edoc.hu-berlin.de/18452/7589 (Letzter Zugriff: 30.04.2022).

[53] Vgl. Mareike Stoll: ABC der Photographie. Photobücher der Weimarer Republik als Schulen des Sehens. Köln 2018, S. 134.

[54] Döblin [1929] 2019, S. 16f. und Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, GS II, S. 380f.

[55] Gert Mattenklott: Karl Bloßfeldt. Fotografischer Naturalismus um 1900 und 1930, in: Karl Bloßfeldt: Urformen der Kunst. Wundergarten der Natur. Das fotografische Werk in einem Band, hrsg. v. Gert Mattenklott, München 1994, S. 17.

[56] Sander: Wesen und Werden der Photographie [1931], zit. n. Conrath-Scholl/Lange 2010, S. 18f.

[57] Ebd.

[58] Vgl. Brückle 2000, S. 134.

[59] Döblin [1929] 2019, S. 12.

[60] Vgl. ebd., S. 17.

[61] Vgl. Matthias Uecker: The Face of the Weimar Republic. Photography, Physiognomy, and Propaganda in Weimar Germany, in: Monatshefte, Jg. 99, Nr. 4 (2007), S. 469–484, hier S. 473f.

Literatur

Blossfeldt, Karl: Urformen der Kunst, Berlin 1928. [Online abrufbar unter: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/441606/1]

Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie [1931], in: Gesammelte Schriften Bd. II, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 368–385.

Benjamin, Walter: Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz [1927], in: Gesammelte Schriften Bd. II, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 751–755.

Brückle, Wolfgang: Kein Portrait mehr? Physiognomik deutscher Bildnisphotographie um 1930, in: Claudia Schmölders/Sander L. Gilman: Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 131–155.

Conrath-Scholl, Gabriele/Susanne Lange: August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Konzept in seiner Entwicklung, in: Sander 2010, S. 7–35.

Conrath-Scholl, Gabriele: Einleitung, in: August Sander. Antlitz der Zeit. 60 Fotos deutscher Menschen. Mit gesammelten Rezensionen von 1929–1933, hrsg. v. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, München 2019, S. 143–148.

Döblin, Alfred: Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit [1929], in: Sander 2019, S. 9–18.

Keller, Ulrich: August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts, in: August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Gunther Sander. München 1994, S. 11–80.

Lenz, Felix: Sergej Eisenstein: Montagezeit. Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos, München 2008.

Mattenklott, Gert: Karl Bloßfeldt. Fotografischer Naturalismus um 1900 und 1930, in: Karl Bloßfeldt: Urformen der Kunst. Wundergarten der Natur. Das fotografische Werk in einem Band, hrsg. v. Gert Mattenklott, München 1994.

Sander, August: Antlitz der Zeit. 60 Fotos deutscher Menschen, München 1929.

Sander, August: Menschen des 20. Jahrhunderts: ein Kulturwerk in Lichtbildern eingeteilt in sieben Gruppen, hrsg. v. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, München 2010.

Sander, August: Antlitz der Zeit. 60 Fotos deutscher Menschen. Mit gesammelten Rezensionen von 1929–1933, hrsg. v. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, München 2019.

Schönegg, Katrin: Karl Blossfeldts Pflanzenaufnahmen als Typusphotographien. Metamorphosen zwischen Kunst und Natur, objektivem Dokument und normativer Konstruktion, in: kunsttexte. E-Journal für Kunst- und Bildgeschichte, Nr. 1 (2011), o. S., URL: http://edoc.hu-berlin.de/18452/7589 (Letzter Zugriff: 30.04.2022).

Somaini, Antonio: Übungsatlas. Die Atlas-Form und die Schulung des Blicks, in: Malte Hagener/Vinzenz Hediger: Medienkultur und Bildung. Ästhetische Erziehung im Zeitalter digitaler Netzwerke, Frankfurt a. M. 2015, S. 81–107.

Stoll, Mareike: ABC der Photographie. Photobücher der Weimarer Republik als Schulen des Sehens, Köln 2018.

Uecker, Matthias: The Face of the Weimar Republic. Photography, Physiognomy, and Propaganda in Weimar Germany, in: Monatshefte, Jg. 99, Nr. 4 (2007), S. 469–484.

Abbildungsnachweise

Karl Blossfeldt, Forsythia suspensa. Junger Sproß der Forsitie in 10facher Vergrößerung, aus ders.: Urformen der Kunst, Berlin 1928. Quelle: Karl Blossfeldt, Urformen der Kunst. Berlin 1928, S. 57, digitalisiert durch Sächsische Landesbibliothek Dresden, 2021. URL: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/441606/1 (Letzter Zugriff: 01.09.2022).

August Sander, Konditor, 1928 © Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Köln; VG Bild-Kunst, Bonn, 2022. Quelle: August Sander: Antlitz der Zeit. 60 Fotos deutscher Menschen. München 1929, S. 16, digitalisiert durch Deutsche Nationalbibliothek Leipzig, 2022.

David Octavius Hill & Robert Adamson, Newhaven Fishwife, 1843-47. Quelle: The Metropolitan Museum Online Collection, Bild-Nr. 37.98.1.63. Harris Brisbane Dick Fund, 1937. URL: https://www.metmuseum.org/art/collection/search/268441 (Letzter Zugriff: 01.09.2022).

Kobe Linder

„Die Gewalt der Fotografie, die das Verlangen nach Erinnerung nie stillt“

Ich möchte mit der Kameralinse das festhalten, woran ich mich später einmal zurückerinnern mag. Seien es Freunde, Familie, oder Orte an denen ich gewesen bin. Fotografien helfen mir, mich zu vergewissern: ich war dort, ich habe das miterlebt, ich habe diese bestimmten Menschen um mich herumgehabt. Sie helfen einem der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit von Momenten zu entfliehen, sie gar dingfest zu machen.[1] So wie ich eine Kamera verwende, so benutzt auch der Großteil meiner Mitmenschen ihre Kamera. Es ist gewiss eine Praxis, die nicht erst in der Gegenwart entstanden ist, sondern mit dem Beginn der Fotografie als Massenmedium aufkam. Die technische Beschaffenheit einer Kamera und der chemische Prozess der Bildentstehung ließ von Beginn an auf ein Authentizitätsversprechen der Fotografie deuten, an das sich ein unbedingtes Wahrheitsversprechen knüpft.[2] In der globalisierten und digitalen Epoche unserer Gegenwart wird im Sekundentakt und millionenfach auf den Auslöser gedrückt. Zugleich werden die Bilder über die ganze Welt verbreitet. Ob ein Bild manipuliert ist, oder nicht, lässt sich kaum noch erkennen.

Say Cheese!

One Hour Photo (2002) konfrontiert uns mit einem Protagonisten der durch seine soziale Position wie auch seine Tätigkeit einen ganz besonderen Blickwinkel auf die Fotografie einnimmt. Schon zu Beginn des Films lässt Sy seine Meinung über die moderne Praxis der Fotografie durchklingen: „Der Mensch hält die glücklichen Momente seines Lebens auf Bilder fest […]. Niemand würde je etwas fotografieren, was er gerne vergessen möchte.“[3]

Während Sy in seiner Funktion als Fotolaborant einer Supermarktkette lediglich die Bilder Anderer entwickelt, fotografiert die Familie Yorkin wo und wann immer sie kann. Hauptsache die Familie ist im Bild und sieht glücklich aus. Ob sie im Moment des Auslösens wirklich glücklich waren ist eigentlich nebensächlich. Es geht, wie auch Sy feststellt, vielmehr um eine Praxis der Selbstvergewisserung:

„Schnappschüsse sind wie Bastionen gegen den Lauf der Zeit. […] Und wenn diese Bilder nachfolgenden Generationen irgendetwas mitzuteilen haben, dann das: Ich war hier. Mich hat es gegeben. Ich war jung. Ich war glücklich.“[4]

Eine ähnliche Betrachtungsweise verfolgt auch der Soziologe Pierre Bourdieu.[5] Ihm zufolge lässt sich die Praxis des Fotografierens als eine Tätigkeit betrachten, um an Beweismittel oder Erinnerungspostkarten der eigenen Existenz zu gelangen. Bourdieu entdeckt in Familienbildern daher auch gesellschaftlich internalisierte Rituale, womit er der Fotografie in gewisser Art und Weise ihre Befähigung zum Realismus abspricht.[6] Das Augenmerk wird somit auf den Aspekt gelenkt, dass der Fotografie ein gesellschaftlich determinierter Bildgebrauch zukommt.[7]

Als statisches Medium verhilft die Fotografie dazu, die Dynamik einer Familiengeschichte einzufangen, während sie dieser zugleich ein Narrativ verschafft sowie deren Existenz beglaubigt. Anknüpfend an die Theorie von Bourdieu geben Fotografien jedoch nur einen begrenzten Ausschnitt dessen wieder, was sich vor der Kamera abspielt. Fotografien spiegeln eine Wirklichkeit wieder, die von gesellschaftlichen Normen durchsetzt und daher ideologisch ist.[8] Folglich stellen sie auch ein Reflex auf die subjektiven Projektionen und Wunschbilder derjenigen dar, die an ihrer Entstehung Anteil hatten.

Kindermund tut Wahrheit kund

„Die wenigsten Leute machen Schnappschüsse von den kleinen Dingen […]. Aber gerade diese Dinge sind es, die das wahre Leben wiedergeben. Sowas fotografieren die Leute nicht.“[9]

Jake, der neunjährige Sohn von William und Nina Yorkin, bekommt von Seymour eine Einwegkamera zum Geburtstag geschenkt. Das der Junge für die Aushandlung der Frage nach der Fotografie von Bedeutung ist, wird schon zu Beginn des Filmes deutlich. Indem Jake sich etwa das Lächeln auf einem obligatorischen Gruppenbild verkneift, deutet er auf einen Bruch gegenüber einer fotografischen Praxis. Spätestens in der Szene, in welcher Sy die entwickelten Bilder von Jake zum ersten Mal betrachtet, offenbart sich, mit welchen Gegensätzen der Film diesen Bruch markiert. Zugleich lässt sich eine Parallele zwischen den Fotografien von Jake und denjenigen von Sy erkennen.

Geschossen aus einem affektuösen Reizzeugen beide Bilderserien von einem ungetrübten Spiegel der eigenen Wahrnehmung. Zugleich erscheinen sie wie ein Aufbegehren gegenüber den gesellschaftlich determinierten Normen fotografischer Praxis. Weder Jake noch Sy haben Menschen fotografiert. Mit ihrem Blick auf die „kleinen Dinge“ haben sie sich viel eher selbst fotografiert, ohne jedoch dabei vor der Linse zu stehen. Barthes verwendet die Metapher der Nabelschnur, die „den Körper des photographischen Gegenstands mit dem Blick der betrachtenden Person verbindet“, um somit auf die „Emanation des Referenten“ eingeht.[10] Dieser Gedanke scheint auch in One Hour Photo (2002) intendiert. Der Blick der Fotografen kreiert eine Verbindung zur Kamera und folglich zum Motiv. Entsprechend lassen sich Jake und Sy’s Bilderserien durch starke Gegensätze charakterisieren. Während Jake’s Bilder sich durch eine Verspieltheit und Farbenvielfalt kennzeichnen lassen, sind die Motive von Sy durch eine monotone und trostlose Blässe geprägt. Diese Bilder dienen nicht dem Zwecke des Ansammelns von „Erinnerungspostkarten“. Sie rufen vielmehr Verwirrung aus. Wo soll schon der Mehrwert liegen, wenn jemand ein Waschbecken, oder einen Gummistiefel fotografiert? Wir sind aufgefordert, unsere Erwartungshaltung gegenüber fotografischen Stereotypen abzulegen.


[1] Nies, Martin: Fotografie und Fotograf als filmische Zeichen, in: Zeitschrift für Semiotik, Heft 3-4 (2008), S. 393.

[2] Ebd., S. 393–401.

[3] One Hour Photo (USA 2002) Minute: 00:03:09.

[4] Ebd. Minute: 00:28:35.

[5] Geimer, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2010, S. 72–79.

[6] Schultheis, Franz und Stephan Egger (Hg.): Pierre Bourdieu und die Fotografie: Visuelle Formen und Erkenntnis. Eine Rekonstruktion, Bielefeld 2022, S. 61–75.

[7] Ebd., S. 72–79.

[8] Nies 2008, S. 403.

[9] One Hour Photo (USA 2002) Minute: 00:28:53.

[10] Geimer 2010, S. 31–38.