Jg. 44, H. 3 – Themenheft: Die überwältigende Katastrophe. Wahrnehmungskonstellationen destruktiver Naturereignisse im deutschen Realismus, hg. von Clemens Günther und Laura Isengard. Mit Beiträgen von Roman Widder, Laura Isengard, Oliver Völker, Felix Schallenberg

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Inhaltsverzeichnis

Clemens Günther/Laura Isengard
Editorial, S. 209

Roman Widder
Katastrophenimmunisierung im Chtuluzän: Adalbert Stifters Nachkommenschaften (1864), S. 215

Abstract
Abstract
Der Aufsatz greift den in der Stifter-Forschung erprobten Begriff der Katastrophenimpfung (Christian Begemann) auf, um ihn in Dialog mit neueren Theorien des Anthropozäns bzw. Chtuluzäns (Donna Haraway) zu setzen. Rekonstruiert wird zunächst Stifters schon in seinen frühesten Erzählungen Gestalt annehmende Inversion der idealistischen Erhabenheitsästhetik, deren immunitäre Struktur vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen
Geologie zu verorten ist. Am Beispiel seiner späten Erzählung Nachkommenschaften (1864) wird sodann demonstriert, dass die Impfung gegen klimatische Katastrophen bei Stifter nicht zuletzt durch die Suche nach neuen Formen der Verwandtschaft unternommen wird. Donna Haraways antiapokalyptische, posthumanistische Naturphilosophie bietet dabei ein überraschend geeignetes Passepartout für Stifters Texte, da sie das Problem des Klimawandels wie diese durch eine Vision nicht-biologischer Verwandtschaft beantwortet.

Laura Isengard
Katastrophe und Rettung bei Stifter und Raabe, S. 235

Abstract
Die folgenden Überlegungen befragen die beiden Branderzählungen Kazensilber von Adalbert Stifter und Frau Salome von Wilhelm Raabe auf spezifisch Poetiken der Katastrophe. Stifters Kazensilber fängt zwei katastrophale Ereignisse in Rettung auf. Dies gelingt über die Figur des braunen Mädchens, das innerhalb der realistischen Erzählung ebenso rätselhaft wie stumm bleibt. Die an keine transzendentale Instanz mehr gebundene Rettung markiert eine Leerstelle im Text, die zunächst durch die Zunahme des Erzähltempos kaschiert wird, schlussendlich jedoch aus der (Text-)Ordnung exkludiert werden muss. Demgegenüber verschiebt sich in Raabes Frau Salome die Katastrophe auf das erzählte Bildwerk und kann selbst nicht mehr in der Rettung aufgefangen werden. In Frau Salome kommt es nicht zu einer Auflösung des Kontingenten in der Zeit. Raabe etabliert eine Poetik des Katastrophischen,
die Lücken und Brüche offen ausstellt.

Oliver Völker
Linie – Priel – Strömung. Instabiles Katastrophenwissen und Ozeanographie inTheodor Storms Der Schimmelreiter, S. 251

Abstract
Der Aufsatz setzt sich mit dem Verhältnis von Festland und Meer in Storms Der Schimmelreiter auseinander. Die Forschung geht meist von einer topographischen Gegenüberstellung aus, die den im Zentrum der Novelle stehenden Konflikt zwischen Aufklärung und Irrationalität illustriert. Demnach verweist das durch Arbeit gestaltete Festland auf Prinzipien der kulturellen Ordnung, der Abbildbarkeit im Medium der Karte und auf eine realistische Poetik des Erzählens. Jenseits des Deichs erstreckt sich demgegenüber das Meer als ein lebensfeindliches Prinzip, das jede Ordnung des Raums unterspült und metonymisch für eine dem Menschen gegenübergestellte Natur einsteht. Der Beitrag arbeitet heraus, wie die vermeintlich getrennten Bereiche von Land und Meer durch eine Reihe an Verbindungswegen in Kontakt zueinander treten. Das Meer ist demnach kein negatives Prinzip der Leere, sondern weist
eine eigene Dynamik auf, die ich in den Begriffen des Spiels und der Strömung verdeutliche. Gestalt erlangen diese dynamischen Wasserkräfte besonders im Priel, der in Storms Novelle die Katastrophe bedingt, der die Hauptfiguren rund um Hauke Haien zum Opfer fallen.

Felix Schallenberg
Meeresgewalt. Zur Funktion von Flutkatastrophen in Wilhelm Jensens Posthuma und Vor der Elbmündung, S. 265

Abstract
Der Beitrag befragt die Erzähltexte Posthuma (1872) und Vor der Elbmündung (1903/1904) von Wilhelm Jensen in Hinblick auf literarische Funktionalisierungen von Flutkatastrophen. Während beide Texte oberflächlich als unterhaltsame Liebesgeschichten lesbar sind, verhandeln sie auf einer sekundären Bedeutungsebene übergreifende kulturelle Konflikte. Im Fokus steht im Speziellen, inwieweit sich anhand der ästhetischen Darstellung sowie des Umgangs der Figuren mit der Flutkatastrophe soziale, glaubensbezogene und geschlechtliche Differenzen eruieren lassen. Neben der Erarbeitung textanalytischer Befunde zum entsprechenden Literatursystem wirbt der Beitrag außerdem dafür, einen bisher stark vernachlässigten Autor in den Forschungsdiskurs zum literarischen Realismus
zu integrieren.

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