Jg. 47, H. 1 – Sammelheft – Mit Beiträgen von Lea Lotterer, Elena Schorz, Ricarda Schmidt, Barbara Thums und Bärbel Lücke

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Inhaltsverzeichnis

Lea Lotterer
Diese Stadt ist […] häßlich über alle Maßen.“ Heinrich Heines intertextuelle Dekonstruktion des Mythos Italien, S. 1

Abstract
Der Aufsatz untersucht Heines intertextuelles Verfahren, mit welchem er in seiner Italienreise das von Goethe geprägte und von den Romantiker:innen tradierte Bild von Italien als Arkadien dekonstruiert und an dieser Stelle ein gänzlich unästhetisches, konträres Italienbild setzt. In der Analyse findet sowohl die Persiflage der Gattung ‚Italienreise‘ Beachtung als auch Heines versteckte, im Italienbild getarnte Kritik am Deutschland der Restaurationszeit. Sie zeigt auf, wie Heine die Gattungskonventionen umschreibt und in diesem Zuge seine Doppelkritik an Literaturbetrieb und politischer Situation in Deutschland anbringt.

Elena Schorz
Jelängerjelieber. Mehr-als-menschliche Freundschaftskonzeptionen in Bettina von Arnims Die Günderode und Karoline von Günderrodes Wandel und Treue, S. 19

Abstract
Der Beitrag untersucht Freundschaftskonzepte in Bettina von Arnims Die Günderode (1840) und Karoline von Günderrodes Wandel und Treue (1804). Er geht davon aus, dass beide Texte eine sozial konnotierte Beziehung an ihre Grenzen führen und Möglichkeiten bereithalten, diese zu überwinden. Dabei wird Freundschaft als ökologisches Prinzip reflektiert, indem Pflanzen sowohl floriographisch als auch atmosphärologisch in die Betrachtung einbezogen werden. An Arnims Text wird gezeigt, dass Pflanzen nicht nur symbolisch die Freundschaft der Figuren prägen,
sondern auch auf die Freundschaftsprinzipien eines konstanten Wandels und einer fundamentalen Treue hinweisen, die ökologische Prozesse und Naturphilosophie verbinden. Die Prinzipien Wandel und Treue werden dann auch als zentrale Themen von Günderrodes Gedicht ausgewiesen, das im Dialog zweier Blumen ein Verständnis von Liebe verhandelt und als Entgrenzung der Freundschaft betrachtet wird.

Ricarda Schmidt
The Nightmares in Ingeborg Bachmann’s Malina: Autobiographical Traces, Aesthetic Transformations and Ethics, S. 33

Abstract
The female protagonist’s nightmares in Ingeborg Bachmann’s novel Malina are particularly haunting in their focus on the confrontation of female victim and male perpetrator, as well as their transgression of the customary separation between the personal and the political. This essay draws on the publication of the Bachmann-Frisch correspondence and on Bachmann’s dream notations while in therapy to explore how autobiographical experiences were aesthetically transformed so as to show the narrator-protagonist making ethical claims about women’s position in patriarchal societies.

Barbara Thums
Krise der Idylle: Tourismus und Ökologie, S. 53

Abstract
Mit Blick auf Reisefeuilletons von Christian Kracht und Eckhart Nickel analysiert der Beitrag in wissensgeschichtlicher Perspektive die Verhältnisbeziehung von Idylle, Tourismus und Ökologie. Er widmet sich zunächst Verbindungen, die sich aus dem besonderen Interesse dieser Reisefeuilletons für die Hippie-Kultur seit den 1960er Jahren sowie für die bevorzugten Ziele des sogenannten Hippie Trails zum einen und jener den Texten ablesbaren Vertrautheit mit Topoi der Tourismuskritik sowie mit Kategorien der Tourismustheorie zum anderen ergeben. Ausgehend davon zeigt er, wie diese Texte mit und gegen ihren popliterarischen Gestus narrative (De-)Konstruktionen der Sehnsucht nach Idyllen, irdischen Paradiesen und traumhaften Inseln gestalten und wie sie dadurch systematisch relevante
Aspekte eines Problemzusammenhangs von Moderne, Idylle und Tourismus bearbeiten, der in der ökologischen Krise einen wesentlichen Bezugspunkt hat.

Bärbel Lücke
„wo die schweren Helden auftreten“: Das Potsdamer Treffen, Correctiv und das Theater als „schnelle Eingreiftruppe“. Zu Elfriede Jelineks Fortsetzung der Schutzbefohlenen von 2013: Die Schutzbefohlenen: Was danach geschah (2024), S. 69

Abstract
Der Beitrag erforscht neben dem politischen Hintergrund zur sogenannten „Remigrations-Affaire“ der rechtsradikalen Partei AfD (Alternative für Deutschland) das Jelinek’sche Textflächenstück Die Schutzbefohlenen: Was danach geschah (2024) in Bezug auf Intertexte, auf das dekonstruktive „serielle Schreiben“ (Thomas Rösch) und auf den Perspektivenwechsel innerhalb der chorischen Stimme der Migrant:innen: Jelinek lässt scheinbar zwei Chöre gegeneinander antreten, die aber von der Wir-Stimme der Geflüchteten intoniert sind und jeweils durch ein „sagen
sie“ (gegen ein „sagen wir“) kenntlich gemacht werden. Das menschenverachtende Treffen im Landhotel Adlon neben der Wannsee-Villa („Endlösung“) wird mit René Girards Das Heilige und die Gewalt gedeutet als Störung der kulturellen Ordnung aufgrund gesellschaftlicher Entdifferenzierungen, die Gewalt provozieren. Dabei werden binäre Gegensatzpaare (Freund/Feind, Täter/Opfer) „verflüssigt“, das heißt ihrer metaphysisch-eindeutigen Konturierung beraubt.

JG. 42, H. 3 – Themenheft „‚Musse pfeiffe inne Wind.‘ Gerhard Henschel zum 60. Geburtstag“ – Mit Beiträgen von Ingo Cornils, Gerhard Henschel, Andreas Solbach, Manuel Förderer, Peter C. Pohl und Kay Wolfinger

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Ingo Cornils (Leeds/Vereinigtes Königreich)
Editorial, S. 189-194

Gerhard Henschel (Hamburg/Deutschland)
Aus dem Schelmenroman: Vorabdruck einer Passage, die im Frühling 1994 spielt, S. 195-198

Andreas Solbach (Mainz/Deutschland)
Keine vita nova: Gegenwartscollage als Vergangenheitsbewältigung in Gerhard Henschels Jugendroman, S. 199-214

Abstract
Der Artikel versucht, mit Hilfe einer genauen und ausführlichen narratologischen Analyse die Umsetzung der vielfältigen Entwürfe eines ‚neuen Lebens‘ in den 1970er Jahren bei Henschel zu diskutieren. Dabei wird deutlich, dassden andauernden ideologischen Diskursen der deutschen Geschichte seit der Jahrhundertwende zwar eine stark subjektive negative Kritik entgegengestellt wird, die sich aber, dem noch sehr jugendlichen Alter des homodiegetischen Helden, aber auch den gesellschaftlichen Möglichkeiten der Zeit entsprechend, nur teilweise durchsetzen kann.

Manuel Förderer (Münster/Deutschland)
„A creature void of form“. Zur Bedeutung von Bob Dylan in Gerhard Henschels Schlosser-Romanen, S. 215-230

Abstract
Der Aufsatz zeichnet anhand dreier thematischer Komplexe nach, welche Rolle Texte und Musik Bob Dylans innerhalb des autobiographischen Romanprojekts um Martin Schlosser spielen. Zunächst wird untersucht, wie Dylans Lyrics die erzählten Spannungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, wie sie sich exemplarisch im Verhältnis des Erzählers zu seiner Familie zeigen, motivisch rahmen; sodann wird aufgezeigt, wie durch den Zugriff auf Dylans Texte thematische Einheiten innerhalb der Romane konstituiert und somit teils disparate Passagen verknüpft werden. Abschließend rücken Adaptions- und Übersetzungspraktiken, derer sich der Erzähler in Bezug auf Dylans Songtexte bedient, in den Blick, wobei an entsprechenden Stellen auch weitere Texte Henschels berücksichtigt werden sollen. Der Aufsatz dokumentiert eine gleichfalls passgenaue wie vielschichtige Montagepraxis innerhalb
der Schlosser-Romane und erarbeitet grundlegende Einsichten in die intertextuelle Verfahrensweise Henschels.

Peter Pohl (Innsbruck/Österreich)
Der west-östliche Bildungsroman der Gegenwart. Ein Vergleich von Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe. Bildungsroman (2012) und Gerhard Henschels Bildungsroman (2014), S. 231-248

Abstract
Gerhard Henschels autofiktionaler Romanzyklus um Martin Schlosser weist neben diversen anderen Texten auch einen Bildungsroman auf; allerdings stellt sich die Frage, inwieweit der Titel auch als Gattungsbezeichnung ernst zu nehmen ist. Die Gründe, die dagegen sprechen, sind zahlreich und gewichtig. Der vorliegende Aufsatz versucht nicht erst, diese Gründe zu entfalten, sondern verfolgt einen anderen Weg: Ausgehend von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und einer Gattungsdiskussion und -neubestimmung des Bildungsromans liest er Henschels Text als einen Bildungsroman der Gegenwart und fundiert seine Lektüre im Vergleich mit einem anderen zeitgenössischen Text, der sich zwar auch Bildungsroman nennt, gleichfalls aber am ehesten noch als Genre-Parodie für die Bildungsromanforschung brauchbar scheint: Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Das Ziel ist es, einerseits die Bildungsromanforschung an die Gegenwart heranzuführen, andererseits die Notwendigkeit des Genres für die Reflexion der gesamtdeutschen Gegenwart mit ihren ästhetisch-medial-kulturellen Spezifika aufzuzeigen. Dabei fällt auf: Wie der Bildungsroman Goethes bildet(e) sich die deutsche Gegenwart weder nur integrativ und harmonisch noch nur desintegrativ und disharmonisch.

Kay Wolfinger (München/Deutschland)
Gerhard Henschel in der Schreibschule von Walter Kempowski – Auszug aus den Notizen, S. 249-262

Abstract
Der Beitrag macht auf die Nähe Gerhard Henschels zum Schriftsteller Walter Kempowski aufmerksam und durchkämmt die jeweiligen Werke auf wechselseitige Spuren. Zudem arbeitet er mit Fundstücken und Interviewmaterial und will sowohl die Henschel-Forschung inspirieren als auch der Kempowski-Forschung neue Impulse geben: Die von Kempowski veranstalteten Literaturseminare in Nartum, die auch in den Martin-Schlosser-Romanen Henschels ihren Niederschlag gefunden haben, sind ein noch unbeleuchtetes Forschungsthema.