Werke

Index

Kenneth AngerHollywood/Babylon – Michelangelo AntonioniBlow-Up – Hartmut Bitomsky: Das Kino und der Tod – James Coleman: Projected Images – Sergei EisensteinBeshin-Wiese – Harun FarockiEin BildBilder der Welt und Inschrift des Krieges – Hollis Frampton(nostalgia) – Lee FriedlanderThe Little Screens – Terry GilliamTwelve Monkeys – Jean-Luc Godard, Jean-Pierre GorinLetter to Jane. An Investigation About a Still – Jean-Luc GodardÀ bout de souffle – Douglas Gordon24 Hour Psycho – August SanderAntlitz der Zeit – Cindy ShermanUntitled Film Stills – Buster Keaton und Edward Sedgwick, The Cameraman 1928 – Chris MarkerLa Jetée – László Moholy-NagyDynamik der Gross-Stadt – Christopher NolanMemento – Mark RomanekOne Hour Photo – Michail RommDer gewöhnliche Faschismus – Martha Rosler: Rosler Reads Vogue – Ridley Scott: Blade Runner – Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Menschen am Sonntag, 1929/30 – Hiroshi SugimotoTheatersPortraits – François TruffautLes Quatre Cents Coups – Agnès VardaSalut les cubainsUlysseUne minute pour une image – Dziga VertovČelovek s kinoapparatom – Andy WarholThe StarScreen Tests – Wim WendersAlice in den Städten 

Andy Warhol, Screen Tests

Split-Screen-Montage einer Auswahl von Warhols Screen Tests, „Andy Warhol Screen Tests Mosaic“, Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=p_C8NH_2Uv0

Anfang der sechziger Jahre begann Andy Warhol sich mit dem Film als Medium zu beschäftigen. Zwischen 1964 und 1966 sind 472 Screen Tests entstanden, die der Künstler auch als sogenannte „Stillies“[1] bezeichnete, welche zusammengefasst Filmmaterial von ca. 32 Stunden ergeben.[2] Warhol greift hierfür auf eine Praxis des Schauspieler-Castings zurück und entwickelt daraus eine eigenständige Kunstform, die er lange Zeit in den Räumen der Factory praktizierte. 

Warhol benutzte eine 16 mm Bolex-Kamera mit Federwerk, die keinen Ton aufnehmen konnte. Die Filme sind drei bis vier Minuten lang und bestehen jeweils aus einer einzigen Einstellung mit der Nahaufnahme einer Person. Die Aufnahmen wurden in schwarz-weiß und ohne Ton gedreht.[3]

[Close-Up]

Text: Polina Bondarenko

[1] Angell, Callie: Andy Warhol Screen Tests. The Films of Andy Warhol. Catalogue Raisonné, New York 2006, S. 7.

[2] Sykora, Katharina: Superlative des Begehrens oder dem Porträt den Prozeß machen. Zu Andy Warhols Konzept der Most Wanted Men, in: Thomas Hensel, Klaus Krüger und Tanja Michalsky (Hg.), Das bewegte Bild. Film und Kunst, München 2006, S. 211-213.

[3] Ebd., S. 212.

Hiroshi Sugimoto, Theaters

Hiroshi Sugimoto, Metropolitan Palace, Los Angeles 1993, 50,7 x 61cm, Silbergelatineabzug

Am Anfang von Hiroshi Sugimotos 1975 begonnener Theater-Serie könnte die Frage gestanden haben, ob es möglich ist, auf einer einzigen Fotografie die gesamte Laufzeit eines Kinofilms unterzubringen.[1] Er postierte dazu seine Großbildkamera in einer Vielzahl von Kinos, öffnete die Blende für die gesamte Dauer des Films und verschloss diese erst nach Beendigung der Vorstellung wieder. Auf diese Weise entstanden Filmstandbilder ganz besonderer Art. Statt repräsentativer Filmszenen zeigen die Fotografien nur eine hell überstrahlte Leinwand inmitten eines verdunkelten Kinosaals. Der Raum, der oft in Vergessenheit gerät, sobald der Film beginnt, gewinnt nun an Bedeutung.[2] Das reflektierende Licht der Leinwand deutet auf die Abwesenheit des Films, während das über die Dauer des Films gesammelte Licht den Zuschauerraum und dessen Einrichtung zum Vorschein bringt.[3] Häufig handelt es sich bei den US-amerikanischen Kinosälen um prachtvolle Kinoarchitekturen, die in den goldenen Zwanzigern des letzten Jahrhunderts erbaut und mit dekorativen Proszenien oder mit architektonischen Zitaten europäischer Baustile versehen wurden. Viele von ihnen sind inzwischen nur noch Ruinen und sehen älter aus als ihre europäischen Vorbilder.[4]

Text: Katharina Ghebrehiwet

[1] Hans Belting, Sugimotos Filme, in: Thomas Hensel, Klaus Krüger und Tanja Michalsky (Hg.), Das bewegte Bild. Film und Kunst, München 2006, S. 283–292, hier S. 283.

[2] Belting 2006, S. 283f.

[3] Ebd., S. 283.

[4] Ebd., S. 285.

Mark Romanek, One Hour Photo

Filmplakat, 2002

One Hour Photo (R: Mark Romanek, 2002) handelt von einem Menschen im Abseits der Gesellschaft. Isoliert und auf der Suche nach Liebe und Bedeutung lebt Seymour (Sy) Parrish (Robin Williams). Als Fotoentwickler in einem Supermarkt beschäftigt, repräsentieren die sterilen, endlos langen Gänge die Angst des Vergessenwerdens seiner Existenz. In der Sehnsucht nach Zuneigung entwickelt er eine Obsession zu der Familie Yorkin, deren Fotos Sy in regelmäßiger Folge in die Hände bekommt. Es sind Bilder einer Familie, die das widerspiegeln, wonach Sy „the photo Guy“ sich schon immer sehnt. In Sys Melancholie und Einsamkeit, erschaffen die in der Dunkelkammer entwickelten Bilder der Yorkin’s eine Parallelwelt, die für ein glückliches Familienleben steht. Doch wie Sy schmerzlich erkennen muss, trügt der Schein. Der Zufall will es, dass Fotografien in das Labor gelangen, in der sich Risse in der heilen Fassade der Familie zeigen.

[Close-Up] [Essay]

Text: Kobe Linder

Ridley Scott, Blade Runner

Blade Runner, ein dystopischer Cyberpunkfilm, gedreht 1982 unter der Regie von Ridley Scott, spielt mit den Ressourcen analoger und digitaler Techniken, die an der Schwelle zum Digital Turn mit Aspekten der Simulations- und Foto-Theorie verknüpft werden.[1] Vor der Kulisse futuristischer Stadtlandschaften des Jahres 2019 verfolgt der Film das Schicksal eines Blade Runners, der als moderner Kopfgeldjäger eine Gruppe Replikanten ausfindig und unschädlich machen soll. Die Replikanten, die inzwischen zu einer Gefahr für die Menschen geworden sind, haben keine Emotionen, sie simulieren diese nur. Ihr Gedächtnis gründet auf falschen Erinnerungen, deren Echtheit durch eine Handvoll Fotografien beglaubigt werden soll. Einzig in der Tiefe des Auges blitzt die Spur eines Zweifels auf, der die sonst perfekte Simulation gefährdet. Allmählich geraten jedoch auch für den Blade Runner die Dinge ins Wanken. Sind seine eigenen Erinnerungen echt? Lässt sich noch zuverlässig zwischen Realität und Simulation unterscheiden? Und welche Rolle spielt die Fotografie bei dieser Rechnung?

[Close-Up]

Text: Tim Fegers

[1] Die Romanvorlage Träumen Androiden von elektrischen Schafen (1968) verfasste Philip K. Dick. Diese folgt zwar ebenfalls einem vergleichbar dystopischen Narrativ. Die der Fotografie gewidmeten Filmsequenzen kommen im Buch jedoch nicht vor. Siehe herzu: Stiegler, Bernd: The Digital Turn Revisited. Oder was wir auch aus den Blade Runner-Filmen über die Fotografie lernen können, in: Rundbrief Fotografie, 26, 2019, H: 1, S. 8–18, hier S. 3.

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Hartmut Bitomsky, Das Kino und der Tod

Seit Beginn der Filmgeschichte bis in die heutige Gegenwart ist der Tod eines der beständigsten Narrative. Die Betrachtung von Mord und Todschlag faszinieren das Publikum im Kino und im Fernsehen auf eine Weise, die vorrangig über den Weg der Fiktion legitimiert wird.

In dem Film Das Kino und der Tod (WDR, 1988) entwickelt Hartmut Bitomsky „eine Typologie des Sterbens“, die „anhand von Filmstills“ ausgebreitet wird.[1] Wie ein Detektiv sitzt Bitomsky am Schreibtisch, von dem aus er über das Kino und den Tod sinniert. So als handele es sich um Beweise einer kriminalistischen Ermittlung, versammelt er eine Vielzahl von Fotografien mit entsprechenden Szenen. Im Format einer filmischen Nacherzählung taucht er in die Analyse einzelner Filmszenen ein, während aus der Abfolge von Fotografien filmähnliche Bildsequenzen entstehen. Bitomsky zeigt und kommentiert die filmischen Mittel, mit denen das „Sterben im Kino“ jeweils unterschiedlich verhandelt wird. Seine Beispiele sind:

Betrayed Woman (Edward L. Cahn, 1955), Torn Curtain (Alfred Hitchcock, 1966), The Killers (Dona(ald) Siegel, 1964), Bande á part (Jean-Luc Godard, 1964), Tirez sur le pianist (François Truffaut, 1960), Hangmen also Die! (Fritz Lang, 1943), Underworld USA (Sam(uel) Fuller, 1960), Un chien andalou (Luis Buñuel, 1928), Psycho (Alfred Hitchcock, 1960), Shakedown (Joseph Pevney, 1950), Les bonnes femmes (Claude Chabrol, 1960), Duel in the Sun (King Vidor, 1946),  The Massacre (David W. Griffith, 1913), Orders to kill (Anthony Asquith, 1958), Kiss me Deadly (Robert Aldrich, 1955), Une chambre en ville (Jacques Demy, 1982), Dark Passage (Delmer Daves, 1947), The Asphalt Jungle (John Huston, 1950), Popiól i Diament (Andrzey Wajda, 1958), Greed (Erich von Stroheim, 1923), The Killing of a Chinese Booki (John Cassavetes, 1966).

Das Kino und der Tod, 1988, 46 Min., Video, Ausstrahlung: 7. Dezember 1988 im WDR. Für die Kamera und den Schnitt sind Carlos Bustamante, Gisela Müller, Cornelia Schleheck und Angelika Ludwig verantwortlich.

[Close-Up]

Text: Sophia Stubbig

[1] Lang, Frederik: Hartmut Bitomsky. Die Arbeit eines Kritikers mit Worten und Bildern, Wien 2020, S. 151.

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Chris Marker, La Jetée

La Jeteé (dt. Am Rande des Rollfeldes) ist ein Werk des französischen Schriftstellers, Fotografen und Filmemachers Chris Marker aus dem Jahre 1962. Bei La Jeteé handelt es sich sowohl um einen photo-roman als auch um einen ciné-roman, eine eigens von Marker eingeführte Gattung. Während Marker den ersteren Begriff für seinen Film reserviert, betitelt der letztere paradoxer Weise das 1992 erschienene Foto-Buch, das eine Auswahl der im Film verwendeten Fotografien verwendet und darüber in einen aufschlussreichen Dialog mit dem Foto-Film eintritt.[1] Der etwa dreißigminütige Schwarz-Weiß-Film besteht bis auf eine kurze Ausnahme lediglich aus einer Folge von Fotografien, während ein Voice-Over, unterlegt mit Musik, die Bilder in eine Erzählung einbettet. In seinem Film nutzt Marker filmische Stilmittel wie zum Beispiel das Zoomen, das Überblenden, Abblenden oder auch Aufblenden. Darüber verleiht Marker dem Film, der bis auf eine Ausnahme allein aus Fotografien besteht, die Illusion filmischer Bewegung.

[Close-Up]

Text: Vanessa Zimmer

[1] Chris Marker, La Jetée. Ciné-Roman, New York 1992.

Wim Wenders, Alice in den Städten


Der Journalist Phillip Winter möchte (Rüdiger Vogler) wurde beauftragt, einen Bericht über die amerikanische Landschaft zu verfassen. Doch statt zu schreiben, fertigt er lediglich Schnappschüsse mit seiner Polaroid-Kamera an. Als sein Vorschuss aufgebraucht und der amerikanische Verlagsvertreter ihm eine weitere Finanzierung verweigert, beschließt Winter, zurück nach Deutschland zu reisen. Am Flughafen begegnet er einer jungen Frau und ihrer Tochter Alice (Yella Rottländer). Wegen eines Fluglotsenstreiks sind sie gezwungen, eine weitere Nacht in New York zu verbringen. Nachdem die Mutter des Mädchens am nächsten Tag spurlos verschwunden ist, machen sich beiden allein auf den Weg. Erst nach Amsterdam und dann durch das Ruhrgebiet nach Wuppertal, wo Alice ihre Großmutter vermutet. Eine Fotografie verhilft dazu, das Haus der Großmutter ausfindig zu machen. Doch sie ist inzwischen umgezogen. Unterdessen entwickeln Winter und Alice eine stetig wachsende Sympathie füreinander.

Wim Wenders Alice in den Städten (1974) wurde in Schwarzweiß und auf 16 mm-Material gedreht. Der Film gehört zu einer Roadmovie-Triologie, die mit Falsche Bewegung (1975) und Im Lauf der Zeit (1976) fortgesetzt wurde. Robby Müller führte jeweils die Kamera.

[Close-Up]

Text: Franziska Bouchon

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Sergei Eisenstein, Beshin-Wiese


Sergei Eisensteins Film Бежин Луг (dt. Beshin-Wiese) wurde zwischen 1935 und 1937 in der Sowjetunion gedreht. Das Filmsujet beruht auf der Geschichte eines Jungen (Pavlik Morozov), der mit seinem Vater in Konflikt gerät und schließlich ein tragisches Schicksal erleidet. In dem kleinen Dorf Gerasimowka im Nordural lebend, unterrichtete er den Dorfrat über das Vorhaben seines Vaters, der einen Komplott mit den Feinden der Kolchose plante. Eisenstein bezieht sich auf diese Geschichte, indem er die Figur des Jungen als einen treuen Pionier darstellt, der sich den Idealen der sowjetischen Macht unterwirft. Für die stalinistische Propaganda schien dieses Sujet zunächst ideal. Doch bereits während der Produktion geriet der Film in Konflikt mit der sowjetischen Zensur. Trotz der Korrekturversuche Eisensteins wurde der Film von der Zensurbehörde zurückgewiesen und des Formalismus bezichtigt. Das Studium der offiziellen Berichte verrät jedoch, dass sich die Zensur insbesondere an den christlichen Motiven stieß, die der Film enthält.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde ein großer Teil des Filmmaterials durch eine Bombenexplosion zerstört. Mit Hilfe einer Schnittliste sowie einigen erhalten gebliebenen Negativen rekonstruierten der Filmemacher Sergei Jutkewitsch und der Eisenstein-Experte Naum Kleiman im Jahr 1967 eine 30-minütige Fassung des verlorengegangenen Films.[1] Der Film besteht aus einer Folge von etwa 700 Einzelbildern, die mit symphonischer Musik vom Sergei Sergejewitsch Prokofjew unterlegt und mit Zwischentiteln versehen wurden. Auf diese Weise ist ein Foto-Film entstanden, der in seiner Ästhetik an die Stummfilmära erinnert. Die Cinémathèque de Toulouse hat im Jahr 1995 ein umfangreiches Projekt initiiert, das die Geschichte der Rekonstruktion des Film dokumentiert und dabei auch technische Aspekte des Filmes beleuchtet.[2]

[Close-Up] [Lektüre/Recherche]

Text: Albina Salata

[1] Kenez, Peter: A History of Bezhin Meadow, in: Lavalley, Albert J. und Barry P. Scherr (Hg.): Eisenstein at 100: A Reconsideration, New Jersey 2001, S. 193–212.

[2] Der Film und die Einzelbilder sind einsehbar auf URL: https://bejine.lacinemathequedetoulouse.com/, (Abrufdatum: 25.10.2022).


Hollis Frampton, (nostalgia)

Der 1971 geschaffene Film (nostalgia) des US-amerikanischen Künstlers Hollis Frampton ist der erste Teil seiner Reihe Hapax Legomena (1971–73). Der 36-minütige 16mm-Film widmet sich einer autobiografisch intendierten Rückschau, in der der Künstler seine Verwandlung vom Fotografen zum Filmemacher Revue passieren lässt. Hierfür filmt Frampton eine Folge eigens angefertigter Fotografien ab, die mit der Ansicht eines Fotolabors einsetzt. Jede der 13 Fotografien wird in einer statischen Einstellung gezeigt, die jeweils weniger als drei Minuten dauert.[1] Und dennoch geschieht etwas. Indem Frampton die Fotografien auf eine Heizspirale legt, die sich unterdessen erwärmt, werden die Betrachter Zeuge davon, wie sich die Bilder allmählich in Asche verwandeln. Dieser Vorgang wird von dem Voice-Over Michael Snows begleitet. Auffällig dabei ist, dass das Gesagte sich jeweils auf das nachfolgende Bild bezieht. Der Ton ist dem Bild daher immer ein Stück voraus. Die Betrachter sind daher darauf angewiesen, sich das (nachfolgende) Bild vorzustellen, von dem der Erzähler soeben spricht sowie sich dem erinnernden Nachhall des Gesagten zu vergewissern, wenn das Bild dann schließlich erscheint. Frampton lotet mit seinem Experimentalfilm die medialen Eigenschaften von Fotografie und Film aus, wobei die jeweils unterschiedliche Zeitlichkeit beider Medientechniken im Vordergrund steht.

[Close-Up] [Lektüre: For a Metahistory of Film]

Text: Chaeryeong Sim


[1] Siehe hierzu auch das Filmprotokoll mit dem Abdruck der 13 Fotografien in: Frampton, Hollis: (nostalgia): Voice-Over Narration for a Film of That Name, in: Jenkins, Bruce (Hg.): On the Camera Arts and Consecutive Matters. The Writings of Hollis Frampton, Cambridge 2009, S. 203–223. Vgl. Auch Ignoramous, Lamos: Hollis Framptons‘ Nostalgia–The Question of Temporality, URL: http://filmslie.com/hollis-framptons-nostalgia-question-temporality/

ConedaKOR-Abfrage

Hiroshi Sugimoto, Portraits

Hiroshi Sugimoto, Diana, Princess of Wales, 1999, 149,2 cm x 119,3 cm, Silbergelatineabzug

„If this photograph now appears lifelike to you, you should reconsider what it means to be alive here and now.” [1]

Wie lebensecht die in Fotografien abgelichteten Personen auf einen Betrachter wirken können, zeigt das 1999 aufgenommene Portrait der 1996 verstorbenen Prinzessin Diana von Wales. Allerdings handelt es sich um keine Portraitfotografie im klassischen Sinne. Der japanische Fotograf Hiroshi Sugimoto (*1948) hat eine Wachsnachbildung aus dem Wachsfigurenkabinett Madam Tussauds in London fotografiert.[2] Alles, was bei näherer Betrachtung unnatürlich erscheinen könnte, geht in dem fein abgestuften Silbergelatineabzug verloren.[3] Die unnatürliche Unbewegtheit etwa, die die Figuren im Kabinett als Nachbildungen entlarvt, wird in der ‚natürlichen‘ Unbewegtheit der Fotografie aufgehoben. Mit Stativ, zwanzigminütiger Langzeitbelichtung und der Verwendung einer Großformatkamera sowie 8 x10 Zoll Schwarzweiß-Film entstand eine Reihe von Porträts berühmter Persönlichkeiten, die den Eindruck erwecken, als hätten sie Sugimoto leibhaftig Modell gestanden. Ziel der Werkgruppe Portraits, die 1999 von Deutsche Guggenheim in Auftrag gegeben und 2000 in Berlin ausgestellt wurde, war es den schmalen Grat zwischen Reproduktion und Simulation zu durchmessen.[4] Sugimoto schafft es nicht nur, die leblosen Wachsfiguren als Abbildung einer lebendigen Person erscheinen zu lassen, er greift darüber hinaus auf Formeln zurück, die an die Portraitmalerei Alter Meister, wie Hans Holbein, erinnern.[5]

Text: Katharina Ghebrehiwet

Anbmerkungen:

[1] Matsumoto, Takaaki (Hg.): Hiroshi Sugimoto, Ostfildern-Ruit 2010, S. 221.

[2] Ebd., S. 6.

[3] Rugoff, Ralph: Hiroshi Sugimoto: Half Dead/ Halbtot, in: Parkett, 46, 1996, S. 132–142, hier S. 133.

[4] Marga Taylor (Hg.), Sugimoto Portraits (Ausst.kat., Deutsche Guggenheim Berlin), Ostfildern-Ruit 2000.

[5] Matsumoto 2010, S. 221.

Douglas Gordon, 24 Hour Psycho (UK 1993)

Douglas Gordon, 24 Hour Psycho, 1993 (Youtube)

In seinen Werken setzt sich der schottische Künstler Douglas Gordon (*1966 in Glasgow) auf unorthodoxe Weise mit dem Medium des Films auseinander. So auch in seiner Installation 24 Hour Psycho (UK 1993), in der er den Klassiker Psycho (1960) von Alfred Hitchcock auf exakt 24 Stunden streckt. Dafür verlangsamte Gordon mittels eines Videorecorders die Abspielgeschwindigkeit des ursprünglich 109-minütigen Originalfilms auf eine Bildfrequenz von etwa zwei Bilder pro Sekunde. Die Projektion erscheint auf einer drei mal vier Meter großen transluzenten Kunststofffolie, die den Raum durchschneidet und ohne Ton.[1]

Durch die extreme Entschleunigung entsteht eine Abfolge von Standbildern, die nicht nur die Dauer des Films, sondern auch die Erfahrung des Zuschauers verändert. Da der Handlungsablauf von Psycho den meisten Betrachtern zumindest teilweise bekannt sein dürfte, kann das Geschehen auf der Leinwand antizipiert werden, noch bevor es gezeigt wird. Der Betrachter wird in einen Zustand zwischen Spannung und Langeweile versetzt, in dem der Fortlauf der Szene herbeigesehnt wird, obgleich deren Ausgang bereits bekannt ist.

Zudem tritt die Wahrnehmung der Gestik und Mimik der Darsteller deutlicher in den Vordergrund, als es im Original der Fall ist. Hierbei entsteht ein merkwürdiger Effekt hinsichtlich der im Film vermittelten Emotionen: Einerseits lassen sich diese genauer analysieren als in der ursprünglichen Framerate, andererseits erscheinen sie unnatürlich und stumpf, sodass ein Gefühl des Unheimlichen entsteht.[2] All das passiert, ohne dass der eigentliche Inhalt des Materials verändert wird. So betont Gordon in seinem Interview mit The Guardian: I wanted to maintain the authorship of Hitchcock so that when an audience would see my 24 Hour Psycho they would think much more about Hitchcock and much less, or not at all, about me…”.[3] 

Text: Marino Salomon

[1] Imdb: 24 Hour Psycho, URL: https://www.imdb.com/title/tt7521772/?ref_=nv_sr_srsg_0 (16.12.2022). Siehe auch: https://sammlung.kunstmuseum.de/artwork/24-hour-psycho/

[2] Searle, Adrian: Monsters Inc, in: The Guardian, 05.11.2022, URL: https://www.theguardian.com/artanddesign/2002/nov/05/art.artsfeatures (16.12.2022).[3]

[3] Douglas Gordon, What have I done, The Guardian:, URL: https://www.theguardian.com/arts/pictures/image/0,8543,-10104531576,00.html (16.12.2022).

Martha Rosler, Rosler Reads Vogue

Martha Rosler Reads Vogue: Wishing, Dreaming, Winning Spending (USA 1982), Einkanal-Video, Farbe, Ton, 25.22 Minuten.

Martha Roslers Video Martha Rosler Reads „Vogue“ wurde im Rahmen der Reihe Paper Tiger ausgestrahlt, ein auf dem öffentlichen New Yorker Kanal Paper Tiger Television produziertes, wöchentliches Sendeformat.[1] In ihrem Gastbeitrag befasst sich Rosler mit der Dezemberausgabe des Magazins Vogue des Jahres 1982.[2] Im Duktus einer Lecture Performance untersucht sie in knapp 25 Minuten das Magazin im Rahmen einer kritischen Sichtung. Diese erfolgt durch den entlarvenden Kommentar ihrer Stimme, der sich bezeichnenderweise aus der prosaischen und teilweise mechanischen Wiederholung der Schlagworte und Überschriften ergibt, mit denen die Bilder, Homestorys und Werbeanzeigen – teils implizit, teils explizit – versehen werden. Des Weiteren enthält die Sendung zwei thematische Einschübe: Einerseits eine kritische Kurzbiographie des einstmaligen Vogue-Verlegers Condé Montrose Nast sowie einen Einspieler über Sweatshoparbeiter:innen, deren miserable Lebens- und Arbeitsumstände durch Schrifttafeln verdeutlicht werden, während diese über die Tonspur mit dem Song Die Young, Stay Pretty (Blondie, 1979) kontrastiert werden.

Das Video ist dreigeteilt und zeigt Aufnahmen Roslers in einem Studio, eine abgefilmte Dia-Projektion sowie den bereits erwähnten Einspieler mit dokumentarischem Charakter. Inhaltlich konzentriert sich Rosler auf zwei Schwerpunkte: Eine gesellschafts- bzw. medienkritische Lektüre stereotyper Frauenbilder sowie die Offenlegung der ausbeuterischen Produktionsverhältnisse einer globalen Marktwirtschaft. 

Text: Sebastian Höflich

[1] Website des Kollektives, URL: https://papertiger.org/about-us/history/ (13.12.2022). Das Video ist einsehbar unter: https://papertiger.org/martha-rosler-reads-vogue-wishing-dreaming-winning-spending/ (13.12.2022). Siehe auch: https://www.eai.org/titles/2201 sowie Halleck, Deedee, Hand-Held Visions. The Impossible Possibilities of Community Media, New York 2002, S. 114-123.

[2] Vogue Archiv: https://archive.vogue.com/issue/19821201 (13.12.2022)

Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Menschen am Sonntag, 1929/30

In die Strandepisode des deutschen Stummfilms ‚Menschen am Sonntag‘, eines bemerkenswerten halbdokumentarischen Werkes aus dem Jahre 1929, sind an verschiedenen Stellen Schnappschüsse von Badenden eingeschnitten, […] und diese Bilder entreißen dem Fluß der Bewegung genau diejenigen Körperhaltungen, die grotesk und in gewissem Sinne unnatürlich wirken. […] Es ist der Erwähnung wert, daß diese Bilder damals auch eine soziologische Funktion erfüllten: sie deckten die ideologische Obdachlosigkeit des Kleinbürgertums jener Zeit auf. [1]

Siegfried Kracauer

Menschen am Sonntag (1929/30) dreht sich um vier Berliner Angestellte, die zusammen einen Sonntag verbringen. Dabei haben wir es mit einer semidokumentarischen Filmform zu tun – die Protagonist:innen sind Laiendarsteller:innen, es wurde in den Straßen und Umgebungen Berlins gefilmt, wobei auch dokumentarisches Filmmaterial in den Film eingebaut wurde.

Der Film strahlt an vielen Stellen eine spielerische Unbefangenheit aus. Die Ausflügler genießen ihren gemeinsamen Sonntag und versuchen die anstrengende Woche hinter sich zu lassen und die kommende auszublenden. Und auch der Film scheint die Politik der Zeit weitestgehend vergessen machen zu wollen. Dass der Film in den Zeiten einer gravierenden Inflation und Weltwirtschaftskrise spielt, wird, außer in Form des sonntäglichen Eskapismus, nicht weiter thematisiert. Es ist eine einfühlsame Darstellung der Freude und des Spaßes in einer grundsätzlich schweren Zeit – die Flucht aus der Stadt mit ihren zahlreichen Problemen, in die sorglose Seenlandschaft.

Die semidokumentarische Eigenart der Filmform tritt besonders in der Fotografen-Sequenz in den Vordergrund. Die Szene dreht sich um einen Fotografen, der am Strand Porträts von verschiedenen Personen anfertigt – eine „Art Menschen-Typologie“[2], die an den im selben Jahr erschienenen Fotoband Antlitz der Zeit von August Sander erinnert.[3] Nach zwei establishing-shots, die den Fotografen beim Fotografieren zeigen, richtet sich die Aufmerksamkeit des Films auf die fotografierten Personen. Diese erscheinen in aufeinanderfolgenden Nahaufnahmen, wobei die einzelnen Einstellungen dadurch hervorstechen, dass die Bewegtbilder immer wieder zu Freeze Frames erstarren, um dann plötzlich wieder in Bewegung zu geraten. Auffällig dabei ist, dass auf die Strandfotografien eine Abfolge professioneller Atelierfotografien folgt, die diskontinuierlich an die vorherige Sequenz angefügt ist.

Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Menschen am Sonntag, 1929/30, Filmausschnitt.

Ganz im Sinne des zeitgenössischen Diskurses über das Verhältnis von Fotografie und Film[4] stellt die Sequenz beide Medien nicht einfach gegenüber, sondern scheint eher eine „Erfahrung ihres Gegensatzes“ anzustreben,[5] wobei sie sich durch die gleichbleibende Lichtquelle visuell anzunähern scheinen.[6]

Besonders interessant ist zudem die Art, wie der Film mit der Zeitlichkeit der Fotografie spielt. Denn schließlich ist die vermeintliche „Starrheit“ der Fotografie hier maßgeblich ihrer Erscheinung im Film geschuldet.[7] Der Kontrast zu den Bewegtbildern, die unterschiedliche Dauer der Freeze Frames sowie die Atelierbilder, welche unabhängig von den Strandbildern, ausschließlich als Stehbild erscheinen, verdeutlichen diesen „durch die Projektionszeit ausgeübten Zwang“ des Filmischen.[8]

Text: Leonard Schwanig

Anmerkungen

[1] Kracauer 1985, S. 75. [2] Bellour 2010, S. 48 [3] Ebd., S. 51. [4] Gemeint ist die „Internationale Austellung des Deutschen Werkbundes Film und Foto“ die 1929 u.a. in Berlin gezeigt wurde. [5] Bellour 2011, S. 42. [6] Ebd., S. 44ff. [7] Arnheim 2002, S. 140. [8] Bellour 2010, S. 53.

Literatur

Rudolf Arnheim, Film als Kunst, Marburg 2002.

Raymond Bellour, Zwei Minuten Ungewissheit in Menschen am Sonntag, in: Gusztáv Hámos, Katja Pratschke und Thomas Tode (Hg.), Viva Fotofilm: bewegt/unbewegt, Marburg 2010, S. 39–54.

Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1985.

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Buster Keaton und Edward Sedgwick, The Cameraman 1928

Das Kino blickt auf seine Anfänge zurück. Wir sehen Buster als Fotograf, der gewohnt ist, das Leben stillzustellen. Sein Gewerbe sind Porträtaufnahmen, für die seine Klienten in unbewegter Pose verharren müssen. Doch inzwischen überschlagen sich die Ereignisse. Niemand hat mehr die Ruhe, (medial) länger auf der Stelle zu treten. Der Film hat der Fotografie längst den Rang abgelaufen. Kompetente Nachrichtenagenturen entsenden ihre Kameramänner, die in den Krieg ziehen, auf Dächer oder sogar in die Lüfte steigen, um aufsehenerregende Bilder aufzunehmen. Alles was zählt, ist im richtigen Moment vor Ort zu sein. Was nicht aufgenommen wurde, ist nicht passiert. Die schwärmerische Zuneigung zu Sally, die den Helden der Geschichte ereilt, lässt auch aus Buster einen Amateur des Films werden. Es scheint, als brauche es die Unschuld des Amateurs, um die Ehre des Dokumentarischen zu retten. Indem er sich in traumwandlerischer Selbstvergessenheit mitten in einen Kugelhagel stürzt oder in das Geschehen vor der Kamera eingreift, avanciert Buster zum eigentlichen Helden der Geschichte und erringt darüber die Liebe Sallys.

Buster Keaton und Edward Sedgwick, The Cameraman 1928, Filmausschnitt


Keatons Cameraman verhandelt nicht nur wesentliche Eigenschaften der Verfasstheit des filmischen Mediums, er ist zugleich ein frühes Lehrstück auf die zweifelhafte Natur der Nachrichtenbilder. Eine permanente Unschärferelation des Dokumentarischen in Szene setzend, erscheint der Film wie ein Vorbote in der Diskussion um die Wahrhaftigkeit filmischer Bilder sowie deren Manipulierbarkeit im Zeichen von Fake-News.

Text: Thomas Helbig

ConedaKOR-Abfrage

Dziga Vertov, Čelovek s kinoapparatom

Dziga Vertovs Film Čelovek s kinoapparatom (dt.: Der Mann mit der Kamera) wurde am 9. April 1929 in Moskau uraufgeführt.[1] Wie die Schrifttafeln zu Beginn des Films angeben, handelt es sich um einen sowjet-ukrainischen Film, der in Moskau, Odessa und Kiew gedreht wurde. Unterstrichen wird dort auch der experimentelle Charakter des Stummfilms, der ohne die Zuhilfenahme eines Drehbuches, eines Theaters (gemeint sind hier Schauspieler:innen oder ein Bühnenbild) und Zwischentitel auszukommen verspricht.[2]

Der Film zeigt den Verlauf eines Tages in einer sowjetischen Großstadt. Eingefangen wurden die ersten ruhigen Stunden eines Tages, die üblichen Tätigkeiten des Alltags und der Arbeitswelt und auch die Freizeitgestaltung nach der Arbeit. Ein filmender Kameramann (Michail Kaufman) ist ein permanenter Bestandteil des Films. Offenbar dreht er genau jene Szenen, aus denen der Film besteht. Später sind Aufnahmen desselben Films zu sehen, die dem Schnitt unterzogen werden. Die Herstellung des Films wird dadurch nicht nur bewusst gemacht, sie wird zugleich zum eigentlichen Gegenstand des filmischen Sujets erhoben.[3]

Filmsequenz aus Der Mann mit der Kamera (Elizaveta Svilova, Die Frau am Schneidetisch)

Die Filmästhetik ist gekennzeichnet durch Filmtechniken, wie Mehrfachbelichtung, Zeitlupe, Zeitraffer, Rückwärtslauf, Freeze Frame und Match Cut, die zum Zwecke einer experimentellen Filmform eingesetzt werden.[4] Die Technikaffinität Vertovs wird jedoch nicht nur in der Demonstration der Filmapparate – allem voran die omnipräsente Kamera, das „Kino-Auge“, wie Vertov sie bezeichnete – ersichtlich, sondern auch in der Zurschaustellung verschiedenster Maschinen, wie Eisenbahn, Straßenbahn, Auto, Motorrad, Telegraphie, Schreibmaschine etc., die nicht zuletzt die Beschleunigung von Kommunikation und Austausch zum Thema haben. Ein Film über Film, der auf die narrative Struktur der Literatur und auf die inszenierenden gestalterischen Elemente des Theaters verzichtet und seine Ausdruckskraft in der Montage gewinnt.

[Lektüre: Was ist Kino-Auge?]

Text: Flavia Latino

[1] Vgl. den Bericht zur Premiere des Films im Film-Journal vom 23. Juni 1929, Sammlung Dziga Vertov, Österreichisches Filmmuseum, Wien.   

[2] Dziga Vertov, Der Mann mit der Kamera. (Eine visuelle Symphonie), in: Wolfgang Beilenhoff (Hg.), Dziga Vertov. Schriften zum Film, Carl Hanser Verlag, München 1973, S. 117–121, hier S. 117.

[3] Jill Nelmes (Hrsg.), An Introduction to Film Studies, London 1999, S. 442.

[4] Vertov 1973, S. 119.

ConedaKOR-Abfrage

Lee Friedlander, The Little Screens

Bei The Little Screens handelt es sich um eine Serie von Schwarz-Weiß-Aufnahmen des US-amerikanischen Fotografen Lee Friedlander, die erstmals 1963 im Magazin Harper’s Bazaar veröffentlicht wurden. Die Fotografien zeigen Interieurs US-amerikanischer Wohnräume mit dem typischen Mobiliar der 1960er Jahre. Omnipräsent sind die titelgebenden Fernsehgeräte, die in verschiedenen Größenformaten und an den unterschiedlichsten Orten erscheinen.

Es sind alltägliche und vertraut wirkende Szenen: Die Fotografie galt in den 1960er-Jahren als Massenmedium und produzierte zahlreiche solcher intimen Szenen des Familienalltags der amerikanischen Bevölkerung.

Der Fernseher behauptet spätestens seit den 1950er Jahren seinen Status als Mittelpunkt nicht nur des Wohnraumes, sondern auch des Familienlebens. Dieser Eindruck entsteht in den menschenleeren Fotografien Friedlanders jedoch kaum. Die Räume wirken einsam und von der Außenwelt, in der das eigentliche Leben stattfindet, abgeschnitten. Einzig das künstliche Licht der Fernsehapparate belebt die Räume. Die darin geisterhaft aufflimmernden Szenen und Figuren wirken wie von einer anderen Welt. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein und von den fotografisch erstarrten Bildern geht eine unheimliche Atmosphäre aus. Zugleich dienen sie als Projektionsflächen. Auf den Bildschirmen werden Objekte der Begierde und der Träume verbreitet: Das Gesicht eines Kindes weist auf das Lebensziel der Familienplanung hin. Attraktive Filmstars verkörpern gesellschaftliche Ideale und stereotype Rollenbilder. Das Streben nach solchen Idealbildern bildet sich auch in der Inneneinrichtung der Räume ab.

Die edle jedoch verwaiste Einrichtung des Wohnzimmers in Philadelphia (1961) wird nicht nur durch das Fernsehbild der im Porträt gezeigten Frau erst komplettiert, es erweckt darüber hinaus den Eindruck, als hätten die Wunschwelten des Fernsehens bereits lange und wirksam auf die Interieurs US-amerikanischer Haushalte abgestrahlt.

Literatur: Lee Friedlander, The Little Screens [Fraenkel Gallery], San Francisco 2001; Anton, Saul, Lee Friedlander. The Little Screens, London 2015.

Text: Shanay Ferrara

Jean-Luc Godard/ Jean-Pierre Gorin, Letter to Jane. An Investigation About a Still (1972)

„Auf diesem Foto, auf diesem Reflex der Realität, sind zwei Personen von vorn, die andern von hinten aufgenommen. Von diesen beiden Personen ist die eine klar umrissen, die andere ist verschwommen. Auf dem Foto ist es die berühmte Amerikanerin, die klar umrissen, und der unbekannte Vietnamese, der verschwommen ist.”[1]

Jean-Luc Godard/ Jean-Pierre Gorin

Der 52-minütige und auf 16mm-Material gedrehte Filmessay Letter to Jane von Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin ist als Kurzfilm im Anschluss an die gemeinsame Produktion des Films Tout va bien entstanden, für den die amerikanische Schauspielerin Jane Fonda engagiert wurde. In Letter to Jane ‚adressieren’ Godard und Gorin den Filmstar, indem sie eine 1972 in der Zeitschrift L’Express veröffentlichte Fotografie kritisch kommentieren, die Fonda während ihres Aufenthalts in Hanoi zeigt.[2] Der Film beschränkt sich auf das Zeigen von Fotografien, die teils vergrößert und/oder mit weiteren Fotografien montiert über die Tonspur kommentiert werden. Fonda bereiste im Juli 1972 Nordvietnam, um sich ein ‘Bild’ der amerikanischen Luftangriffe zu verschaffen, die vermehrt auch zivile Ziele und Infrastrukturen trafen. Fertigte Fonda eigene Film- und Fotoaufnahmen an, so wurde die hier in Rede stehende Fotografie von dem amerikanischen Journalisten Joseph Kraft angefertigt.

Jean-Luc Godard/ Jean-Pierre Gorin, Letter to Jane. An Investigation About a Still (1972), Filmausschnitt

Godard und Gorin sprechen Fonda direkt in der zweiten Person an und erläutern ihr Vorhaben, die Fotografie vor dem Hintergrund der Zusammenarbeit mit Fonda sowie ihrer Rolle in Tout va bien zu befragen. Sie wollen Fonda nicht persönlich angreifen, sind sich der Problematik ihrer Kritik jedoch bewusst. Auch ist der Film nicht frei von misogynen Untertönen. Die Regisseure kritisieren den Paternalismus der westlichen Linken sowie der Medienlandschaft aus Sicht einer marxistischen Analyse. Die Bildkomposition wird bemängelt, da hier lediglich der Star im Vordergrund steht, während ihr vietnamesisches Gegenüber nur von hinten zu sehen ist. Die Kamera fokussiert allein auf Fonda. Der Vietnamese, dessen Gesicht nur unscharf zu sehen ist, verschwindet dagegen im Hintergrund.

Godard und Gorin verweisen auf das im Text-Bild-Verhältnis angelegte Spannungsverhältnis von Zuhören und Sprechen. Nach Angabe des Bildtextes von L’Express befragt Fonda die Vietnamesen. Das Bild vermittelt jedoch vielmehr eine zuhörende Haltung. 

Retour de Hanoi. Le Reportage photographique de Jane Fonda, in: L’Express 1972, S. 51-55.

Auffallend ist, dass der Titel des Filmessays auf ein Filmstill anspielt, die gewählte Fotografie aber nicht im Zusammenhang einer Filmproduktion entstanden ist, sondern lediglich im Vergleich mit weiteren Filmstills betrachtet wird. Es handelt sich also um einen Kunstgriff oder Umweg, mit dem der kurz zuvor fertiggestellte Film rekapituliert werden soll: 

„Tatsächlich scheint uns dieses Foto mit seinem kurzen Begleittext besser in der Lage zu sein, Tout va bien zu resümieren, als wir es könnten. Und das aus einem ganz einfachen Grund. Dieses Foto beantwortet eine Frage, die auch die des Films ist: Welche Rolle haben die Intellektuellen in der Revolution zu spielen.”[3]

Jean-Luc Godard/ Jean-Pierre Gorin

Anmerkungen:

[1] Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin, Befragung eines Bildes, in: Astrid Ofner (Hg.), Der Weg der Termiten. Beispiele eines Essayistischen Kinos 1909-2004. Eine Filmschau kuratiert von Jean-Pierre Gorin (Viennale 2007), Wien 2007, S. 50-67, hier S. 59; Wiederabdruck aus: Filmkritik, 7, 1974, S. 290-307 (übers. v. Gerhard Theuring). Zuerst: Enquête sur une image, Tel Quel, Nr. 52, Winter 1972.

[2] Retour de Hanoi, in: L’Express, 1972, S. 57, Link: https://kor.uni-frankfurt.de/#/media/36848 

[3] Godard/Gorin 2007, S. 51.

Text: Jacqueline Katharina Weiß

Ergänzung:

In der Fernsehproduktion Mystères d’archives/ Verschollene Filmschätze haben das INA und ARTE France eine kritische Sichtung des Foto- und Filmmaterials vorgenommen, das im Rahmen des Besuches von Fonda angefertigt wurde. Der Beitrag gelangt zu ähnlichen Beobachtungen und bietet mithilfe der historischen Filmaufnahmen eine weitere Kontextualisierung der Situation in Hanoi. Vgl. Serge Viallet und Cédric Lépée, Jane Fonda und Joan Baez fahren nach Hanoi, 2017, 25.47 Min.

ConedaKOR-Abfrage (L’Express)

Harun Farocki, Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1988)

„In einem Bild wird stets mehr sichtbar sein, als das Auge fassen kann, das Bild trachtet, den Blicken zu entschwinden.“ [1]

Hartmut Bitomsky

Bilder der Welt und Inschrift des Krieges ist ein mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichneter Filmessay des deutschen Filmemachers Harun Farocki. Leitmotiv des Films ist eine historisch vergleichende Untersuchung des Spannungsfeldes von „Dokumentation und Zerstörung“, das im „Medium der Fotografie“ seinen Ausgangspunkt findet.[2] Bilder und insbesondere Fotografien wurden verwendet, um die Wirklichkeit zu vermessen, den Blick des menschlichen Auges zu objektivieren. Von der Messbildfotografie Albrecht Meydenbauers, der Brieftaubenfotografie im Ersten Weltkrieg bis zu den Luftaufnahmen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg reichend, verfolgt Farocki eine Bildgeschichte, in der die Produktion von Bildern auf Kontexte der Vermessung sowie von Krieg und Industrie zurückgeführt wird.

Gegenstand seiner filmischen Analyse ist zugleich, was den (historischen) Blicken entgangen ist. So machten amerikanische Piloten im April 1944 Aufnahmen von den Industrieanlagen des Unternehmens I.G. Farben, offenbar ohne zu ahnen, dass sie dabei auch das sogenannte „Stammlager“ von Auschwitz fotografierten. Erst viele Jahre später gelangten Mitarbeiter des CIA zu dieser Erkenntnis.[1] Auf der Grundlage von Augenzeugenberichten, konnte die Gaskammer von Auschwitz I auf den Fotografien identifiziert werden:

„Was Auschwitz von anderen Orten unterscheidet, das läßt sich nicht unmittelbar aus diesen Bildern ersehen; auf den Fotografien läßt sich nur wiedererkennen, was andere bezeugt haben – Augenzeugen, die an der Stätte leiblich zugegen waren. […] Texte, die die Bilder erschließen sollen, und Bilder, die die Texte vorstellbar machen sollen.“[3]

Harun Farocki

Text: Lucia Sussner

Anmerkungen:

Regie und Buch: Harun Farocki, Michael Trabitzsch (Recherche & Assistenz), Kamera: Ingo Kratisch, 16 mm, Farbe, s/w, 75 Minuten [weitere Infos]

[1] Zit. n. Jörg Becker, In Bildern denken. Lektüren des Sichtbaren. Überlegungen zum Essayistischen in Filmen Harun Farockis, in: Rolf Aurich, Ulrich Kriest (Hg.), Der Ärger mit den Bildern. Die Filme von Harun Farocki, Konstanz 1998, S. 73–93, hier S. 86.

[2] Becker 1998, S. 87.

[3] Harun Farocki, Reality Would Have to Begin/ Die Wirklichkeit hätte zu beginnen, in: ders., Nachdruck. Texte, hg. v. Susanne Gaensheimer, Berlin 2001, S. 186–213, hier S. 195.

[Close-up]

László Moholy-Nagy, Dynamik der Gross-Stadt

Das Buch Malerei, Fotografie, Film von László Moholy-Nagy erschien 1925 als ist der achte Band der Reihe Bauchhausbücher. Moholy-Nagy versuchte darin die Schwierigkeiten und Herausforderungen der zeitgemäßen Form visueller Gestaltung zu fassen, wobei insbesondere der Fotografie eine wichtige Rolle beigemessen wird.[1] Als Modell hierfür machte Moholy-Nagy das sogenannte Typofoto, das er mit der Skizze seines Filmmanuskripts Dynamik der Gross-Stadt an das Ende seines Buches stellte. Das Manuskript entstand 1921/22 mit der Intention, eine Wahrnehmungsform zu kreieren, die allein aus dem Kurzschluss visueller Elemente (Texte, Fotos, Zeichen und Symbole) gewonnen wird.[2] Die Lektüre des Manuskripts sollte nicht nur den visuellen Eindruck raumzeitlicher Ereignisse vermitteln, sondern auch die Betrachter aktiv in die dabei freigesetzte (Stadt-)Dynamik einbeziehen.[3] Beispielweise fungiert das Wort Tempo, durch seinen wiederholten Einsatz in den verschiedensten Variationen als visuelles ‚Signal‘, um den Eindruck erhöhter Geschwindigkeit zu erzeugen. Gemeinsam mit anderen Elementen, wie Pfeilen und Zahlen, wird außerdem eine visuelle Rhythmisierung der Buchseiten erzeugt. Die Ziele dieses Experiments charakterisiert Moholy-Nagy wie folgt:

„Ziel des Filmes: Ausnutzung der Apparatur, eigene optische Aktion, optische Tempogliederung, – statt literarischer, theatralischer Handlung: Dynamik des Optischen.   Viel Bewegung, mitunter bis zur Brutalität gesteigert.“[4]

Ausgehend von Moholy-Nagys Skizze unternahmen Studenten der Universität der Künste, Berlin, den Versuch einer filmischen Umsetzung.[5] Gemeinsamkeiten (sowie Differenzen) lassen sich im Vergleich zu Walter Ruttmanns kurze Zeit später fertiggestellten Film Berlin, die Sinfonie der Großstadt (1972) feststellen.

Text: Gabriela Gietl

Anmerkungen:

[1] Moholy-Nagy, Lázló, Malerei, Fotografie, Film, München 1927, 2. Auflage, S. 5, URL: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/moholy_nagy1927/0128 (06.01.2023).

[2] Ebd., S. 120f.

[3] Meyer, Roland, Signal kommt, URL: https://schlaufen-verlag.de/blog/signal-kommt (06.01.2023).

[4] Moholy-Nagy 1927 (wie Anm. 1), S. 121.

[5] Dynamik der Groß-Stadt – Ein filmisches Experiment nach Lázló Moholy-Nagy (2006). Vgl. auch den Film von Sascha Hardt, Dynamik der Großstadt (1988), URL: https://zkm.de/de/veranstaltung/2020/02/dynamik-der-grossstadtsinfonien (06.02.23).

ConedaKOR-Abfrage

François Truffaut, Les Quatre Cents Coups

François Truffauts Film Les Quatre Cents Coups (dt. Sie küssten und sie schlugen ihn) aus dem Jahre 1959 zeigt das Leben des dreizehnjährigen Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud), der mit seiner unnahbaren, ignoranten Mutter und seinem Stiefvater im Paris der 1950er Jahre lebt. Mit seinem aus besseren Verhältnissen stammenden Schulkameraden René wird er durch das Schwänzen der Schule und Spielen diverser Streiche auffällig und entwendet schließlich sogar eine Schreibmaschine aus dem Betrieb des Stiefvaters. Er wird erwischt und landet zuletzt in einem Erziehungsheim, während ihm seine Eltern jegliche weitere Unterstützung versagen. Zum Ende des Filmes entflieht Antoine dem strikten Erziehungsheim und läuft ans offene Meer, welches er zuvor nur aus Erzählungen kannte. Neben diesem als Freeze Frame festgehaltenen Bild behandelt der Film noch an einer anderen Stelle das Wechselspiel von Film und Fotografie. Aus einem Kino-Schaukasten entwenden René und Antoine ein Film-Still, das einen Film Ingmar Bergmans bewirbt. Truffaut spielt hier nicht nur auf die kindliche Leidenschaft der beiden Jungen an, sondern auch auf die Cinéphilie der Kritiker und Künstler der Nouvelle Vague, die das Kino Bergmans und anderen Filmautoren verehrten.

André Dino, Film still zu Les quatre sents coups, Österreichisches Filmmuseum (Wien), AK Film-Stills 2016, S. 160 & Filmausschnitte aus dem Film Truffauts.

Der Film ist nicht nur Truffauts Debüt, er stellt auch den ersten Film seines „Antoine-Doinel-Zyklus“ dar und wurde vielfach als Gründungsakt der „Nouvelle Vague“ interpretiert. Der Zyklus besteht aus insgesamt fünf Filmen und erstreckt sich über eine Zeitspanne von ungefähr zwanzig Jahren, in denen Stationen aus dem Leben Doinels geschildert werden.

Text: Julia Kessel

Literatur:

Links: Arthaus: https://www.arthaus.de/sie_kuessten_und_sie_schlugen_ihn (letzter Zugriff 25.12.2022); Filmdienst: https://www.filmdienst.de/film/details/9211/sie-kussten-und-sie-schlugen-ihn (letzter Zugriff: 25.12.2022); Moviebreak: https://www.moviebreak.de/film/sie-kussten-und-sie-schlugen-ihn (letzter Zugriff: 25.12.2022).

ConedaKOR-Abfrage

Agnès Varda, Ulysse

Ulysses (1982) ist ein Kurzfilm der französischen Filmemacherin, Fotografin und Installationskünstlerin Agnès Varda.[1] Der Film eröffnet mit der Betrachtung einer Schwarz-Weiß-Fotografien Vardas, die bereits im Jahr 1954 entstanden war. Allein aufgrund des ungewöhnlichen Motivs ein fesselndes Bild: ein nackter Mann und ein gleichfalls nacktes Kind an einem kargem Kieselstrand, hinter ihnen eine tote Ziege. Varda kommentiert die Szene aus dem Off, indem sie über die Entstehung der Fotografie reflektiert. Auch befragt sie den Mann, Fouli Elia, sowie den Jungen, Ulysses Llorca, den sie knapp dreißig Jahre später wieder für ihren Film aufsucht. In den Gesprächen, die Teil des Films sind, lassen sie die Fotografie und ihre Erinnerung an die Ausnahmesituation Revue passieren. Varda philosophiert über den Vorgang des Erinnerns und erforscht gemeinsam mit den Fotografierten den Unterschied zwischen dem fotografischen Abbild der Vergangenheit und der Gegenwart des erinnernden Gesprächs.

Ulysse erinnert sich weder an die Situation noch an die Aufnahme, was auf die Diskrepanz zwischen Realität, Erinnerung und Fotografie verweist. Varda konfrontiert ihn mit einem Bild, dass der Junge einst nach dem Vorbild der Fotografie gemalt hatte. Für sie ein untrüglicher Beweis – für Ulysse nur eine (weitere) Fiktion. Es werden auch weitere Kinder über die Fotografie und über das Bild befragt. Aber nicht nur das, eine Ziege bekommt einen Abzug der Fotografie zu fassen und verinnerlicht diese auf ihre ganz eigene Weise. Aber auch die kollektive Erinnerung spielt eine Rolle: Wochenschauaufnahmen, Zeitungsartikel mit Nachrichten des Jahres 1954 ergänzen die Bildbetrachtung.

[1] Agnès Varda, Ulysse (Frankreich 1982), Farbe, Ton, 22 Minuten, URL: https://vimeo.com/402336189?login=true#= (12.01.2023).

Text: Nina Lenz

ConedaKOR-Abfrage

Agnès Varda, Salut les cubains

„Zurückgekehrt nach Paris mit etwa 3000 Fotos im Gepäck, habe ich das Abfilmen vorbereitet, indem ich sorgfältig ausrechnete, wie lange die ausgewählten Musikstücke dauern würden. Dann kam das Trickfilmstudio (bei dem die Kamera senkrecht über den Fotografien angebracht ist), wo Bild für Bild abgefilmt wird und zwar je nach der Anzahl der von jedem Foto, jedem Detail oder auch jeder Bewegung zu drehenden Einzelbilder […]. Das Porträt, das ich von Fidel gemacht habe, erscheint mir äußerst allegorisch: ein Soldat mit sanften Augen, ohne Waffen und mit Flügeln aus Stein.”[1]

Agnès Vardas Salut les cubains (1963) ist ein „Film-Foto-Essay” über das Leben in Kuba nach der Revolution. Im Mittelpunkt des Films stehen die Menschen in Kuba, namenlose wie prominente. Varda traf sie 1961 auf ihrer Reise nach Kuba irgendwo zwischen den Straßen von Havana und den Bergen der Sierra Maestra. Der Film ist eine Montage von 1800 Fotografien, die ausgedehnt auf eine Filmzeit von 29 Minuten eine Geschichte von Stillstand und Bewegung erzählen. Von Anfang an wird der Film von den Rhythmen der kubanischen Musik sowie von den Kommentaren Vardas und Michel Piccolis begleitet.

Salut les cubains zeigt einen Moment des Stillstands innerhalb der kubanischen Gesellschaft zwei Jahre nach der revolutionären Bewegung. In Vardas Darstellung existiert die kubanische Gesellschaft in einer Art Equilibrium. Die Menschen lernen lesen, ernten Zuckerrohr, tragen Bärte, rauchen Zigarren, tanzen Rumba und Cha-Cha-Cha; sie stehen nicht still, im Unterschied zu den unsteten Jahren der Revolution haben sie ihr Gleichgewicht (wieder-)gefunden. 

Vardas Kurzfilm ist eine Reflexion über die Beziehung von bewegten und stillstehenden Bildern – Film und Fotografie. Im Medium der Fotografie versetzt Varda die sich bewegenden Körper zum Stillstand, um sie filmisch wieder neu in Bewegung zu versetzen. 

[1] Agnès Varda, Filmfotomontage. Textfragmente, ausgewählt von Christa Blümlinger, in: Gusztáv Hámoz, Katja Pratschke und Thomas Tode (Hg.), Viva Fotofilm: bewegt/unbewegt, Marburg 2010, S. 71–80, hier S. 75f. Neben Chris Markers Fotofilm La Jetée (1962) dürfte auch dessen Film ¡Cuba Sí! (1961) ein Einfluss für Varda gewesen sein. 

[2] Taylor, Andrew, Writing with images. The Film-Photo-Essay, the Left Bank Group and the pensive moment, in: Journal of Screenwriting, Jg. 5 (2014), Nr. 1, S.59-84.

Text: Elena Körner

ConedaKOR-Abfrage

Kenneth Anger, Hollywood/Babylon

Hollywood Babylon ist ein Buch des US-amerikanischen Autors und Filmemachers Kenneth Anger, das zahlreiche Skandale innerhalb der amerikanischen Filmindustrie bis in die 1950er Jahre behandelt.[1] Erstmals 1959 in Frankreich veröffentlicht, wurde es wenige Tage nach Erscheinen der US-amerikanischen Ausgabe 1965 verboten.[2] Grund für das Verbot waren fehlende Nachweise sowie Belege für die zahlreichen Erzählungen Angers – dies verwundert wenig, denn gemäß eigener Aussage begründete der Filmemacher seine Recherche auf „geistiger Telepathie“.[3] Seine jahrelange Nähe zur Filmindustrie, habe ihm tiefe Einblicke hinter die Kulissen Hollywoods erlaubt und so thematisiert er neben Skandalen der bekanntesten Filmstars, wie etwa Charlie Chaplin, Judy Garland oder Marylin Monroe auch tragische Todesfälle im Umfeld der Filmindustrie (etwa den darin behandelten Mord an einer Schauspielerin, den Brian De Palma 2006 unter dem Titel The Black Dahlia verfilmte) sowie kontroverse Themen, wie die „Schwarze Liste“ in der McCarthy-Ära.[4] 1984 erhielt Hollywood Babylon eine Fortsetzung in einem weiteren Band. Anger ergänzte darin die bisherigen Skandale um einige neue, sowie eine Reihe expliziter Fotografien.[5]  

Belzaras Gastmahl, aus: Griffith, D.W., Intolerance, 1916, 117 min

Viele der von Anger geschilderten Skandale sind historisch schwer zu belegen oder wurden zwischenzeitlich als Fake-News identifiziert.[6]  Dennoch avancierte Hollywood Babylon zu einem Kultobjekt, das unter demselben Titel 1992/93 für eine Fernsehserie adaptiert wurde. Zuletzt hat sich Damian Chazelle mit seinem Film Babylon (2022) auf das Buch Angers sowie die darin kolportierten Skandale berufen.

Anmerkungen:

[1] Petersen, Anne Helen, What to Do with a Coffin Full of Sugar: Gloria Swanson, Kenneth Anger, and Self-Authorship in the Star Collection, in: The Moving Image: The Journal of the Association of Moving Image Archivists, 13, 2013, 2, S. 82.

[2] Petersen Balogh, Laura, Karl Dane: A Biography and Filmography, McFarland 2009, S. 1.

[3] Castoro, Rocco, The Sordid Secrets of Babylon, in: Vice, 17. April 2012.

[4] Petersen 2013, S. 82.

Text: Albane Savary de Beauregard

ConedaKOR-Abfrage

Andy Warhol, The Star

The Star lautet der Titel eines 1981 geschaffenen Siebdrucks des US-amerikanischen Künstlers Andy Warhol. Die Grafik gehört zu einer Siebdruck-Serie, die der Künstler unter dem Titel Myths veröffentlichte. Gegenstand der Serie sind zehn  Kultfiguren (Ikonen) der „amerikanischen Konsum- und Populärkultur”.[1] Ausgangspunkt für The Star ist ein publicity still aus dem Film Mata Hari (G. Fitzmaurice, 1931), dass Warhol für seine Hommage der Filmikone Greta Garbo wählte. 

Auch hinter der Vorlage verbirgt sich kein Unbekannter. Clarence Sinclair Bull war für viele Jahre Leiter  der Foto-Abteilung von Metro-Goldwyn-Mayer (MGM). Zwischen 1929 und 1941 ging die Mehrzahl der Aufnahmen Garbos auf ihn zurück. Die im Umfeld von Mata Hari entstandenen Aufnahmen stechen durch die auffallend zahlreichen Porträtstudien heraus.

Garbo, die im Film eine als Tänzerin getarnte Spionin spielt, wird durch die „ungewöhnlich nah und scharf fokussierten Kopfstudien” Bulls sowohl in ihrer Filmrolle porträtiert, als auch unter dem Nimbus ihrer Rolle als Hollywoodstar.[2] Der Kopfschmuck verstärkt die Wirkung einer mystifizierten und unantastbar erscheinenden Ikone, die trotz der Nähe ihres Gesichts, Distanz vermittelt. 

Warhol unterlegt  die Schwarz-Weiß-Aufnahme mit einem satten Rotton, der der Ausstrahlungskraft des Porträts eine gesteigerte Intensität verleiht. Das Porträt rückt dadurch in die Fläche, während Auge und Mund, weiß hervorgehoben werden. Es entsteht eine gleichsam überzeitliche wie heroische Maske, die als Projektionsfläche kollektiver Begehren und Wünsche firmiert. 

Text: Kobe Linder

Anmerkungen:

[1] Andy Warhol, Myths, 1981, Siebdruck, je 96,5 × 96,5 cm, New York, Ronald Feldman Fine Arts. Die einzelnen Titel der Drucke lauten: The Star, Uncle Sam, Superman, The Witch, Mammy, Howdy Doody, Dracula, Mickey Mouse, Santa Claus, The Shadow; vgl. Frayda Feldman und Jörg Schellmann (Hg.), Andy Warhol: Prints. A Catalogue Raisonné 1962–1987, München 1985, S. 86, Abb. 258; Anita-Maria Goda, Hollywood Miracle. Greta Garbo, Andy Warhol und die Magie von Starbildern, in: Uwe Fleckner und Iris Wenderholm (Hg.), Magische Bilder. Techniken der Verzauberung in der Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin und Boston 2017, S. 259-281, hier S. 259.

[2] Goda 2017, S. 268; Terence Pepper und John Kobal (Hg.), Clarence Sinclair Bull, Star-Photograph bei MGM, München 1989.

ConedaKOR-Abfrage

August Sander, Antlitz der Zeit

„Sander hat keine Menschen sondern Typen fotografiert, Menschen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste repräsentieren, daß das Individuum für die Gruppe genommen werden darf.”[1]

Kurt Tucholsky

Das Fotobuch Antlitz der Zeit von August Sander von 1929 enthält 60 Porträtaufnahmen, die eine Typologie des Menschen des 20. Jahrhunderts entwerfen. Alle Aufnahmen sind mit einem kurzen Titel versehen. Abgesehen von der Einleitung, die Alfred Döblin beisteuerte, enthält das Buch keine weiteren Texte.[2]

Die Fotos zeigen eine Gesellschaft im Umbruch, voller Gegensätze und Spannungen. Die Bilder wurden sichtlich inszeniert: Der Blick der Abgelichteten ist zumeist direkt in die Kamera gerichtet. Dadurch wird unterstrichen, dass die Menschen vor der Kamera gezielt ausgewählte Repräsentanten ihrer ‘Stände’ und ‘Kasten’ darstellen, die in den Augen Sanders gesellschaftliche Berufsbilder verkörpern. Sander fotografierte Frauen, Männer und Kinder. Neben 9 Porträts, die sich dem Stand der Bauern widmen, sind die übrigen Berufsgruppen (Maurer, Seemann, Bäcker, Unternehmer, Gymnasiast, etc.) jeweils nur mit einem Porträt vertreten. Es ist ein neutraler Blick, der Sympathien und Antipathien aus dem Foto auszublenden versucht. 

Sanders Aufnahmen waren wegen ihrer technischen Brillanz und Kunstfertigkeit begehrt. Die Kompositionen seiner Gruppenporträts erinnern nicht selten an Vorbilder aus der Kunstgeschichte. 

Anmerkungen:

[1] Peter Panther [d.i. Kurt Tucholsky], Die Weltbühne, 25.03.1930, Nr. 13, S. 466, wieder abgedruckt in: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975.

[2] August Sander, Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts. Mit einer Einleitung von Alfred Döblin, München: Transmare, Kurt Wolff, 1929; Neudrucke der bald vergriffenen Auflage erschienen 1976, 1983 und 2003 bei Schirmer-Mosel in München.

Text: Herbert Kirchner

ConedaKOR-Abfrage

[Essay]

Cindy Sherman, Untitled Film Stills

Cindy Shermans von 1977 bis 1980 entstandene Serie Untitled Film Stills umfasst je nach Zählweise etwa 70 Fotografien. Die Schwarz-Weiß-Abzüge spielen nicht zuletzt dank ihres Formats von ca. 20,3 x 25,4 cm auf die Gattung der Filmstandbilder (film-stills) an, wie sie in Zeitschriften und Kinoschaukästen verbreitet wurden. Motivisch erinnern die dargestellten Szenen sowohl an das Genre US-amerikanischer B-Movies als auch an europäische Arthouse-Filme der 1950/60er-Jahre. Zugleich adaptiert Sherman auch die spezifische Ästhetik von film stills. Sie inszeniert sich in ihrem Studio und benutzt den Selbstauslöser. Einige der Fotografien wurden auch im Außenraum und mit der Unterstützung befreundeter Künstler, wie Robert Longo, aufgenommen. Statt Selbstbildnisse anzufertigen rekurriert sie auf die Dekonstruktion weiblicher Rollenbilder, die sie mit ihren Nachstellungen als solche offenlegt. Ihre Fotografien zeigen stillgestellte Ausschnitte vermeintlich weiterführender Handlungsstränge, mit denen Sherman auf filmische Stereotypen anspielt. Die Wirkung ihrer Maskerade gelingt täuschend echt. In einem perfekten Zusammenspiel von Kleidung, Make-up, Perücke, Pose, Gestik und Mimik sowie passenden Leinwandhintergründen vermag sie es, die Anmutung eines konkreten Film-Zitats szenisch und habituell nahezulegen. Die Untitled Film Stills evozieren dem Betrachter er kenne die Filme, aus deren Handlung und visuellen Gestaltung die Fotografien vermeintlich entnommen wurden, ohne dass diese tatsächlich auf bestimmte Filme oder eine spezifische Szene eines Filmes zurückgeführt werden können.

Text: Anna Friedrich

[Close-Up]

Weiterführende Literatur:

Winfried Pauleit, Cindy Sherman und das Kino, in: Walter Moser (Hg.): Film-Stills. Fotografien zwischen Werbung, Kunst und Kino, Wien 2016, S. 222–230; Kathrin Zitturi, Cindy Shermans Untitled #205. Eine postmoderne Parodie zur Dekonstruktion sozio-kultureller Darstellungskonventionen, Universitätsschrift Innsbruck vom 11.01.2021, S. 68–70; Anna Kérchy, The Woman 69 times. Cindy Sherman’s Untitled Film Stills, in: Hungarian Journal of English and American Studies, Bd. 9.1. 2003, S. 181–183; Ebd., S. 185; Ebd., S. 187; Kaja Silverman, Dem Blickregime begegnen, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 51–60; Birk Weiberg, Film Stills als postmediale Praktiken bei Cindy Sherman und James Franco, Seminartranskript der Zürcher Hochschule der Künste vom 28.5.2015, S. 2–5.

Links:

The Museum of Modern Art: How mass media representations shape us (13.11.2020), URL: https://www.youtube.com/watch?v=239_BLVToB8 (21.12.2022); The Museum of Modern Art: Robert Longo on Cindy Sherman’s Untitled Film Still #25 (1978) (19.01.2016), URL: https://www.youtube.com/watch?v=Z9kL0YMpQDg (21.12.2022); HENI Talks: The Art of Cindy Sherman: Under the Gaze (16.05.2018), URL: https://www.youtube.com/watch?v=ED6QhmRchZI (21.12.2022).

ConedaKOR-Abfrage

Michelangelo Antonioni, Blow-Up

„BLOW-UP (GB 1966) hat mir sehr gut gefallen. Antonioni zeigt darin die lächerlichen Exzesse eines modischen Modefotografen und den manischen Ernst, mit dem er seiner Arbeit nachgeht. Das Foto wurde hier – weil das Drehbuch es verlangte – selbst zur geheimnisvollen Oberfläche. Das fotografische Bild hielt Geheimnisse zurück, es wehrte sich gegen den Blick. […] Je mehr man sich dem Bild nähert, desto mehr weicht es aus.”[1]

Agnès Varda

Der Film folgt Thomas (David Hemmings), einem hippen und arroganten Fotografen, der heimlich Fotografien von einem Paar in einem Park anfertigt. Die Frau, die fotografiert wurde, versucht um jeden Preis, die Negative zu bekommen. Nachdem er sie entwickelt hat, vergrößert Thomas diese immer wieder, um herauszufinden, was auf den unscharfen, vergrößerten Bildern wirklich zu sehen ist.

Die Suche gerät bald zur Manie: Immer wieder betrachtet Thomas die Fotografien, um die ‘Wahrheit’ in ihnen zu entdecken. Ihm bleibt jedoch nicht viel mehr, als sich auf vage Vermutungen zu verlassen. „Die Aufnahmen sind jedoch ambivalente Beweise, denn durch das kontinuierliche Vergrößern erlangen die Motive keine deutlichere Sichtbarkeit“, schreibt Klaus Albrecht Schröder und ergänzt: „im Gegenteil, sie werden unscharf und zunehmend abstrakt.“[2]

Text: Hanwen Zhang

Anmerkungen:

[1] Agnès Varda, Filmfotomontage. Textfragmente, ausgewählt von Christa Blümlinger, in: Gusztáv Hámoz, Katja Pratschke und Thomas Tode (Hg.), Viva Fotofilm: bewegt/unbewegt, Marburg 2010, S. 71–80, hier S. 79.

[2] Walter Moser, Klaus Albrecht Schröder (Hg.), Blow-Up. Antonionis Filmklassiker und die Fotografie, Ausst. Kat (u.a. Albertina, Wien), Ostfildern 2014, S. 4.

ConedaKOR-Abfrage

Harun Farocki, Ein Bild

„Man kann sich vorstellen, daß die Leute, die ein Bild von solcher Schwerkraft zu machen haben, dies mit einer Sorgfalt, Ernsthaftigkeit und Verantwortlichkeit tun, als müßten sie Uran spalten. Um das nackte Mädchen auf den Mittelseiten der Zeitschrift Playboy kreisen heute Druck- und Verlagsgebäude, Anzeigengeschäfte, Hotels und Clubs, Milchstraßen aus Dollarmillionen, ein kommerzieller Kosmos”.[1]

Harun Farocki

Im Juli 1983 drehte Harun Farocki als Beitrag für die Fernsehreihe Projektionen ‘83  den Film Ein Bild, der am 12. September 1983 ausgestrahlt wurde.[2] Farocki dokumentiert darin den Produktionsprozess einer Fotografie für die Zeitschrift Playboy. Das Fotoshooting findet in einem professionellen Studio in München statt. Der Film verfolgt den Aufbau des Sets, die Absprachen, Gesten und Aktionen des Fotografen, seines Assistenten, der Stylistin und des Foto-Modells mit dem Anspruch und der Präzision einer ethnografischen Studie.  Farocki beschreibt das nackte Foto-Modell, um das die Bewegungen aller Beteiligten kreisen als eine Art Zentralfigur, um die herum sich ein ganzer „Kosmos”  kommerzieller Absichten dreht.

Ein Bild zeigt jedoch vor allem die Arbeit, die in die Produktion eines solchen Bildes gesteckt wird – vom Fotografen und dem Modell über die Techniker, Beleuchter bis hin zu den Stylisten und Dekorateuren. Das Verständnis darüber, wie die Herstellung von Bildern bereits auf die Erwartungen und Wahrnehmungsgewohnheiten ihrer späteren Betrachter abgestimmt ist und welcher Prämissen diese unterliegen, erfährt mit der Sichtbarmachung dieser zumeist unsichtbaren Arbeit eine Neuausrichtung. Zudem offenbart der Film Farockis den absurd erscheinenden Aufwand, der für die Entstehung derartiger Fotografien betrieben wird. 

Anmerkungen:

[1] https://www.harunfarocki.de/de/filme/1980er/1983/ein-bild.html (14.01.2023)

[2] Regie und Buch: Harun Farocki, Kamera: Ingo Kratisch, 16 mm, Farbe, 25 Minuten 

Text: Sebastian Lohmüller

Jean-Luc Godard, À bout de souffle

Jean-Luc Godards erster Film in Spielfilmlänge aus dem Jahr 1959 erzählt die Geschichte des Kleinkriminellen Michel Poiccard, gespielt von Jean-Paul Belmondo, der auf seiner Flucht von Marseilles nach Paris einen Polizisten erschießt, woraufhin intensiv nach ihm gefahndet wird. In Paris versucht er, sich Geld von einem bei ihm verschuldeten Freund zu beschaffen und die von Jean Seberg gespielte amerikanische Studentin Patricia Franchini dazu zu überreden, gemeinsam mit ihm nach Italien zu fliehen. Doch nachdem Michel es immer wieder geschafft hat, der Polizei zu entkommen, wird er zuletzt von Patricia – kurz vor der gemeinsamen Flucht – verraten. Der Film endet mit dem Tod Michels, der von den Polizisten niedergeschossen wird. 

Zum Klassiker der französischen Nouvelle Vague geworden, experimentiert der Film mit einer Vielzahl von Gestaltungsmitteln, die auf die Fragmentierung der klassischen Filmform hinarbeiten. An deren Stelle tritt eine diskontinuierliche Konzeptualisierung der Narration sowie der Einsatz von Jump-Cuts, die den Dialogen des Films eine besondere Qualität verleihen. 

Trotz des demonstrativen Widerspruchs zum Studiosystem von Hollywood, nimmt Godard mehrfach über Zitate, Romantitel, Filmplakate oder Ähnliches Bezug auf die amerikanische Populärkultur. Bezeichnend ist die Szene, in der Michel vor dem Schaukasten eines Kinos, in dem fotografischen Porträt Humphrey Bogarts, sein Role-Model (type) entdeckt. Die merkwürdige Geste Michels, in der er sich mit dem Daumen über die Lippen streicht, erweist sich schließlich als ein nachahmendes Zitat nach dem Vorbild des US-amerikanischen Filmstars, das selbst noch in der letzten Einstellung des Films – diesmal jedoch aus ‚zweiter Hand‘ – aufgegriffen wird.


Literatur: Kendall, James, Planting the Seeds of Artistic Subversiveness in À bout de souffle. Godard’s Trailblazing Cinematic Language, in: Science. Studies in Logic, Grammar and Rhetoric 65.78 (2020), S.57-70; Hayes, Kevin, The Newspaper and the Novel in À bout de souffle, in: Studies in French Cinema 1.3 (2001), S. 183-191; Prange, Regine, Genre und Genrekritik. Der Western in Jean-Luc Godards À bout de souffle, in: Ursula Frohne und Lilian Haberer (Hg.), Kinematographische Räume. Installationsästhetik in Film und Kunst, München 2012.

Text: Pauline Scholz

ConedaKOR-Abfrage

Christopher Nolan, Memento

Der Film Memento (2000) ist ein Mystery-Thriller des Regisseurs Christopher Nolan. Der Film, verhandelt die Fotografie in Bezug auf das Thema von Erinnerung und Identität sowie der Gefahr deren Verlustes. Mithilfe einer ausgeklügelten Montagetechnik gewährt der Film tiefe Einblicke in die Psyche eines Mannes. Leonard Shelby, gespielt von Guy Pearce, hat seit einem Einbruch, bei welchem seine Frau ermordet wurde und er sich eine Kopfverletzung zugezogen hatte, sein Kurzeitgedächtnis verloren. Das Einzige woran er sich noch erinnert, ist die Absicht, den Mörder seiner Frau zu finden. Eine verzweifelte Spurensuche und Verfolgungsjagd setzt ein. Auf Grundlage eines eigens geschaffenen Systems aus Polaroid-Fotografien, Notizen und Tätowierungen gelingt es Shelby, seinem stetig neu einsetzenden Gedächtnisverlust etwas entgegenzusetzen. Als Ersatz, Beweis und Erinnerungsstütze seines verloren gegangenen Kurzzeitgedächtnisses bilden die Fotografien und Notizen ein Mosaik, dessen puzzlehafte Einzelteile immer wieder neu von Shelby zusammengesetzt werden müssen. Doch speichern die Fotografien und Notizen wirklich die Realität oder nur das, was Shelby dafür hält?

Durch die ungewöhnliche Erzählstruktur des Films gelingt es Nolan, insbesondere diesen Zustand der Unsicherheit und Manipulierbarkeit spürbar zu machen. Der Film verfolgt zwei Handlungsstränge zwischen denen er ständig hin- und herspringt. Neben der Haupthandlung in Farbe, die antichronologisch verläuft, gibt es Szenen in Schwarz-Weiß, die chronologisch ablaufen.

Text: Lisa Eisenlohr

ConedaKOR-Abfrage

Terry Gilliam, Twelve Monkeys

„How can I save you? This already happened. I can’t save you. Nobody can. I’m simply trying to gather information […].“

12 Monkeys (Deutscher Titel: Twelve Monkeys) ist ein Science-Fiction-Thriller aus dem Jahr 1995, basierend auf dem Drehbuch von David und Janet Peoples und unter Regie von Terry Gilliam. Sowohl das Drehbuch als auch der Vorspann des Films verweisen darauf, dass Chris Markers Kurzfilm La Jetée von 1962 als Inspirationsquelle diente.

Wie in La Jetée folgt die Handlung einem Zeitreisenden, der aus einer dystopischen Gegenwart kommend, in der sich die Menschheit unter die Erde zurückgezogen hat, in eine Vergangenheit geschickt wird, um von dort aus die Zukunft zu verändern. Während es in La Jetée die Folgen eines Dritten Weltkriegs sind, der die Erde unbewohnbar machte, ist es in 12 Monkeys ein menschengemachter tödlicher Virus, der die Menschen bedroht. Wie der Werbeslogan „The Future is History“ verrät, ist neben der Determinismus-Thematik das Zwischenspiel aus Zukunft und Vergangenheit ein Hauptthema des Films. So treten der objektive Zeitverlauf und die subjektive, von den Charakteren erlebte Zeit in Wechsel zueinander, kontrastieren und ergänzen sich, bis sie sich schließlich einander überlagern. Dies geschieht vor allem durch Rück- bzw. Vorverweise, sowie Wiederholungen von Worten, Symbolen oder Bildern, die sich erst allmählich entschlüsseln lassen.

Neben der erzählerischen Referenz auf La Jetée finden sich auch auf formaler Ebene Hinweise auf den Film Chris Markers, etwa indem über die Szene eines Diavortrags auf den berühmten Foto-Film (bzw. photo-roman) angespielt wird. Zudem werden als „Film im Film“ Ausschnitte aus Hitchcocks Vertigo (1958) gezeigt. Dieser Film, auf den auch die Spirale aus tanzenden Affen der Titelsequenz anspielen könnte, war wiederum eine wichtige Inspirationsquelle für La Jetée. Die fortwährenden (auch filmhistorischen) Rückverweise und Referenzen zeigen, wie stark der Film nicht nur mit den Erinnerungen der Charaktere spielt, sondern auch mit denjenigen der Zuschauer.

Text: Mariel Schwindt

Michail Romm, Der gewöhnliche Faschismus

Der  antifaschistische  Dokumentarfilm Der gewöhnliche Faschismus  (russ.  Originaltitel: Обыкновенный фашизм) des sowjetischen Regisseurs Michail Romm aus dem Jahr 1965 gehört zum Genre des Kompilationsfilms.[1] Gezeigt werden eine Vielzahl historisch überlieferter fotografischer und filmischer Zeugnisse, die herangezogen werden, um die faschistische Propaganda zu entlarven. So kommentiert Romm beispielsweise Auftritte von Hitler und Mussolini, wobei er den Fokus nicht auf den inhaltlichen Teil ihrer Reden, sondern auf die Form legt. Er zeigt das gekünstelte Mienen- und Gebärdenspiel Mussolinis und Hitlers und kommentiert dieses ironisch und sarkastisch aus dem Off. Der Film ist in 16 Kapitel unterteilt, die keiner chronologischen Reihenfolge unterliegen, sondern einem dramaturgisch-thematischen Kalkül.[2] Außerdem behandelt der Film Akte des Widerstands gegen den Faschismus. Immer wieder montiert Romm Aufnahmen seiner Gegenwart in den Film hinein, teilweise auch um das Fortbestehen von Rassismus und antisemitischer Hetze aufzuzeigen.

2009 erschien ein Werkbuch zum Film, das auf Grundlage eines von Romm entworfenen Foto-Text-Buches angelegt wurde, das zu dessen Lebzeiten von der Zensur verboten wurde.[3] Es enthält Einstellungsbilder des Films sowie einen Abdruck des Kommentars. In dem von Maja Turowskaja formulierten Vorwort heißt es: „Wer […] diese Zeit noch erlebt hat, weiß, dass dies der erste Film war, der die Gesellschaft insgesamt und jeden einzelnen zwang, über die eigene jüngste Vergangenheit und über sich selbst nachzudenken.“[4]

Wolfgang Beilenhoff und Sabine Hänsgen (Hg.), Der gewöhnliche Faschismus. Ein Werkbuch zum Film von Michail Romm, Berlin 2009

Anmerkungen:

[1] Jay Leyda, Filme aus Filmen. Eine Studie über den Kompilationsfilm, Berlin/DDR 1967; Josef Weidl, „Bilder als Zeugen gegen sich selbst“? Vom Schreiben und Umschreiben der Geschichte im historischen Kompilationsfilm, Wien 2013.

[2] Ebd., S. 74.

[3] Wolfgang Beilenhoff und Sabine Hänsgen (Hg.), Der gewöhnliche Faschismus. Ein Werkbuch zum Film von Michail Romm, Berlin 2009, S. 12.

[4] Ebd., S. 8.

Text: Ines Santos Figueiredo

Agnès Varda, Une minute pour une image

„Als ehemalige Fotografin und als Filmemacherin, die fasziniert ist von der Wirkung der Sprache auf das Bild und umgekehrt, hatte ich die Idee, »jede Fotografie als einen Ort zum Träumen« zu präsentieren. Ich dachte daran, dass ein wenig Stille und eine Stimme, die persönliche Eindrücke übermittelt, die Vorstellungskraft eines jeden einzelnen Zuschauers herauskitzeln könnte.”[1]

Agnès Varda

Unter dem Titel Une minute pour une image strahlte das französische Fernsehen (FR3) 1983 eine vom Centre National de la Photographie produzierte Serie von Minifilmen aus. Die französische Regisseurin Agnès Varda verantwortete 14 Sendungen dieses Formats.  Die Filme befassen sich jeweils mit einer Fotografie (oder Fotoserie) und dauern etwa eine Minute. 

Die Dramaturgie der kurzen Filme ist immer ähnlich. Zunächst erscheint die entsprechende Fotografie in vollständiger Ansicht. Die Sujets der gezeigten Fotografien unterscheiden sich stark, darunter sind Porträt- und Gruppenaufnahmen, Kriegs- aber auch Landschaftsfotografien.

Zunächst herrscht ein Moment der Stille, um den Zuschauer:innen das unvoreingenommene Betrachten der Fotografie zu ermöglichen. Dann beginnt ein Voice-Over, das unterschiedliche Aspekte der gezeigten Fotografie herausgreift und kommentiert. Besonders bei Porträtfotografien wird die Darstellungsweise der gezeigten Personen angesprochen. Das Voice-Over wird von Varda selbst übernommen, wobei sie teilweise auch Gäste hinzuzieht. Erst am Ende der Kurzfilme erfahren die Zuschauer:innen die Namen der Fotograf:innen sowie die der Kommentator:innen.

Korrespondierend zu den inhaltlichen Hervorhebungen durch das Voice-Over fokussiert der Film auf einzelne Details der Aufnahme. Dies findet in Form unterschiedlicher filmischer Bewegungen statt, zu denen das langsame Heranzoomen sowie das abrupte Wechseln zwischen Detailansichten oder schwenkende Nahaufnahmen gehören können. Innerhalb der jeweiligen Filme werden diese jedoch nicht gemischt, sodass ein stilistisch kohärenter Eindruck entsteht.

Anmerkungen:

[1] Agnès Varda, Filmfotomontage. Textfragmente, ausgewählt von Christa Blümlinger, in: Gusztáv Hámoz, Katja Pratschke und Thomas Tode (Hg.), Viva Fotofilm: bewegt/unbewegt, Marburg 2010, S. 71–80, hier S. 78.

[2] Begleitheft zu Varda. Tous Courts, Ciné-Tamaris, Paris 2007. Vgl. auch die Website: https://www.cine-tamaris.fr/une-minute-pour-une-image/.

Die von Varda kommentierten Ausgaben von Une minute pour une image sind online verfügbar: https://archive.org/details/une-minute-pour-une-image-agnes-varda-1983 (letzter Zugriff 14.01.23).

Text: Lina Maxeiner

[Close-up]

James Coleman, Projected Images

In den frühen 70er Jahren wandte sich der irische Installationskünstler James Coleman vermehrt dem Format der Slide-Projektion zu. In Verbindung mit dem Einsatz einer akustischen Ebene, legt Coleman insbesondere auf die zeitliche Komponente seiner installativen Anordnungen den Fokus. Er erforscht die Wechselbeziehungen zwischen akustischen und visuellen Sinneseindrücken. Die Slide-Projektionen des Künstlers ermöglichen dem Betrachter einen unmittelbaren Einblick in die Entstehung eines Abbildes. Coleman verweist auf den konzeptuellen und temporären Aspekt bei Ansicht einer Aufnahme und verdeutlicht das Geschehen der Erfahrung durch mehrere Sinne.

Das Werk I N I T I A L S aus dem Jahr 1994 wurde als Trilogie konzipiert und die Projektion über drei Ausstellungszyklen aufgeteilt. Die Installation ist aufgebaut aus 89 Diapositiven, welche mit einem Projektor an die Wand des Ausstellungsraums geworfen wurden. Der Wechsel zwischen den einzelnen Diapositiven trat entweder durch eine langsame Überblendung oder einen abrupten Schnitt ein.

Die multimediale Bildinstallation zeigt eine Gruppe bestehend aus jeweils drei Männern und Frauen, welche in einer alten Heilanstalt in Dublin als Schauspieler posieren. Die Personen sind theatralisch geschminkt und tragen sowohl Alltagskleidung, als auch Theaterkostümierungen. Die Bekleidung ändert sich im Laufe der Präsentation. Visuell erinnern die Szenen an Tableaux vivants oder Momente aus Filmen. Häufig wirken die dargestellten Personen seltsam erstarrt und entrückt, was ein Gefühl von Distanz vermittelt.

Die Bilder werden mit einer diametralen Tonspur unterlegt, welche eine kohärente Narration zu vermeiden scheint. Man hört eine Kinderstimme, welche bruchstückhaft Worte und Sätze formuliert, diese aber auch buchstabiert, einen Seufzer ausstößt oder einfach nur laut atmet. Die Allgegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit der Stimme gleicht die visuelle Distanz gegenüber dem Betrachter aus und vermittelt durch ihre raumbildende Komponente Nähe.

Die Zentralität der Betrachter-Erfahrung wird besonders durch die begrenzte Verfügbarkeit der Installationen verstärkt. Von den Diapositiven wurden nach Ablauf der Ausstellung nur wenige publiziert. Auch Installationsansichten und Mitschnitte oder Transkriptionen der Tonspur werden absichtlich durch den Künstler zurückgehalten.

Text: Anna Bode

Literatur/Ressourcen:

Dia Center for the Arts (Hg.), James Coleman, Projected Images 19721994, New York 1995. Vgl. auch die Ausstellungsbroschüre: https://www.diaart.org/media/_file/brochures/coleman-james-projected-images-1972-1994-1.pdf (Stand: 09.01.23); Linda Schädler, James Coleman. Inszenierung und die Frage nach der medialen Gegenwärtigkeit am Beispiel von I N I T I A L S (1993–94), in: Lilian Haberer u. Ursula Frohne (Hg.), Kinematographische Räume: Installationsästhetik in Film und Kunst, Paderborn 2012, S. 759–762; Centre Pompidou, James Coleman – Initials. Unter: https://www.centrepompidou.fr/fr/ressources/oeuvre/cpbExR (Stand: 09.01.2023).

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