Wissenschaft über Besinnung über Wissenschaft

Nach einer geläufigen Vorstellung bezeichnen wir den Bereich, worin sich die geistige und schöpferische Tätigkeit des Menschen abspielt, mit dem Namen „Kultur“. Zu ihr rechnet auch die Wissenschaft, deren Pflege und Organisation. Die Wissenschaft ist so unter die Werte eingereiht, die der Mensch schätzt, denen er aus verschiedenen Beweggründen sein Interesse zuwendet.

Solange wir die Wissenschaft jedoch nur in diesem kulturellen Sinne nehmen, ermessen wir weder die Herkunft noch die aus dieser verfügte Tragweite ihres Wesens. Das Gleiche gilt von der Wissenschaft. Auch die Kunst läßt sich als ein Sektor des Kulturbetriebes vorstellen. Aber man erfährt dann nichts von ihrem Wesen. Auf dieses gesehen, ist die Kunst eine Weihe und ein Hort, worin das Wirkliche seinen bislang verborgenen Glanz jedesmal neu dem Menschen verschenkt, damit er in solcher Helle reiner schaue und klarer höre, was sich seinem Wesen zuspricht.

Sowenig wie die Kunst ist die Wissenschaft nur eine kulturelle Betätigung des Menschen. Die Wissenschaft ist eine und zwar entscheidende Weise, in der sich uns alles, was ist, dar-stellt.1

An dieser Stelle ist der „Heidegger’sche Akzent“ kein rein etymologischer Verweis, sondern er modifiziert „darstellt“, um es vom vulgären Verständnis abzuschotten und hin zu seiner betrachtbarmachenden Operation auszuzeichnen. Das Wort „darstellt“ könnte hier synonym zu „paraphrasiert“ verstanden werden, ist in dieser Bedeutung aber nicht intendiert. Der Semantik nach liegt der Akzent auf „stellt“. Etwas „stellt“ etwas, das heißt das eine bringt manuell und auf seine exklusive Weise ein anderes in einen Zustand, für den sein Zustandekommen konstitutiv ist. Auszeichnend und gar charakterlich für diesen Zustand ist seine Art, die im „dar“ ausgedrückt wird. Das „dar“ bedeutet soviel wie „auf eine erklärende Art und Weise“ oder „zum Ausdruck bringend“. Wissenschaft ist also eine Methode, die von ihr zu Erklärendes nach Modifikation ihrer Methode erklärt. Diese Limitation muss sie nicht einmal denunzieren oder ferner unwahr werden lassen.

Und dennoch: die moderne Wissenschaft ist als Theorie im Sinne des Be-trachtens eine unheimlich eingreifende Bearbeitung des Wirklichen. Gerade durch diese Bearbeitung entspricht sie einem Grundzug des Wirklichen2 selbst. Das Wirkliche ist das sich herausstellende Anwesende. Dies zeigt sich unterdessen neuzeitlich in der Weise, daß es sein Anwesen in der Gegenständigkeit3 zum Stehen bringt. Diesem gegenständigen Walten des Anwesens entspricht die Wissenschaft, insofern sie ihrerseits als Theorie das Wirkliche eigens auf seine Gegenständigkeit hin herausfordert. Die Wissenschaft stellt das Wirkliche. Sie stellt es darauf hin, daß sich das Wirkliche jeweils als Gewirk, d.h. in den übersehbaren Folgen von angesetzten Ursachen darstellt. So wird das Wirkliche in seinen Folgen verfolgbar und übersehbar. Das Wirkliche wird in seiner Gegenständigkeit sichergestellt.4

Wie wissenschaftliche Methode sich selbst abzuziehen vermag, ist die Welt von der Welt in Archiven und Laboren aufgerichtet und bereit für mehr als nur gleich wieder eine andere zu sein. Dass Methode die Welt auf diese oder jene Weise zeigt, bestätigt sie hier und da, dass sie so und so zeigbar ist. Mit der Ursächlichkeit als Kategorie der wissenschaftlichen Methode taucht die Ursache dafür auf, dass beispielsweise Kunst als ihr Gegenstand tauglich und umfasst wird.

Hieraus ergeben sich Gebiete von Gegenständen, denen das wissenschaftliche Betrachten auf seine Weise nachstellen kann. Das nachstellende Vorstellen, das alles Wirkliche in seiner verfolgbaren Gegenständigkeit sicherstellt, ist der Grundzug des Vorstellens, wodurch die neuzeitliche Wissenschaft dem Wirklichen entspricht. Die alles entscheidende Arbeit, die solches Vorstellen in jeder Wissenschaft leistet, ist nun aber diejenige Bearbeitung des Wirklichen, die überhaupt das Wirkliche erst und eigens in eine Gegenständigkeit herausarbeitet, wodurch alles Wirkliche im vorhinein zu einer Mannigfaltigkeit von Gegenständen für das nachstellende Sicherstellen umgearbeitet wird.

Für die wissenschaftliche Methode, die „Gegenständigkeit herausarbeitet“, ist das komplementäre Verhältnis ihres aktiven Stellens und der Passivität in die sie ihre Gegenstände stellt fundamental. Das sie diese Rolle einnehmen lassende „Wirkliche“ selbst ist in diesem Verhältnis passiv und lässt die Wissenschaft und ihre Methode eo ipso gewähren. Die Eigenlogik der Methode führt eine Selbstläuferschaft auf ihrem Platz in der Natur, die wie Natur sich abnickt und dabei ihr ausschließliches Privateigentum hortet. Wie kommt sie zu ihrem Platz?

Die moderne Wissenschaft ist darum als die Theorie des Wirklichen nichts Selbstverständliches. Sie ist weder ein bloßes Gemächte des Menschen, noch wird sie vom Wirklichen erzwungen. Wohl dagegen wird das Wesen der Wissenschaft durch das Anwesen des Anwesendem in dem Augenblick benötigt, da sich das Anwesen in die Gegenständigkeit des Wirklichen herausstellt. Dieser Augenblick bleibt wie jeder seiner Art geheimnisvoll. Nicht nur die größten Gedanken kommen wie auf Taubenfüßen, sondern erst recht und vordem jeweils der Wandel des Anwesens alles Anwesenden.5

Die Theorie stellt jeweils einen Bezirk des Wirklichen als ihr Gegenstandsgebiet sicher. Der Gebietscharakter der Gegenständigkeit zeigt sich daran, daß er zum voraus die Möglichkeiten der Fragestellung vorzeichnet. Jede innerhalb eines Wissenschaftsgebietes auftauchende neue Erscheinung wird solange bearbeitet, bis sie sich in den maßgebenden gegenständlichen Zusammenhang der Theorie einpaßt. Dieser selbst wird dabei zuweilen abgewandelt. Die Gegenständigkeit als solche bleibt jedoch in ihren Grundzügen unverändert. Der im vorhinein vorgestellte Bestimmungsgrund für ein Verhalten und Vorgehen ist nach dem streng gedachten Begriff das Wesen dessen, was „Zweck“ heißt. Wenn etwas in sich durch einen Zweck bestimmt bleibt, dann ist es die reine Theorie. Sie wird bestimmt durch die Gegenständigkeit des Anwesenden. Würde diese preisgegeben, dann wäre das Wesen der Wissenschaft verleugnet. Dies ist z.B. der Sinn des Satzes, daß die moderne Atomphysik keineswegs die klassische Physik von Galilei und Newton beseitige, sondern nur in ihrem Geltungsbereich einschränke. Allein, diese Einschränkung ist zugleich die Bestätigung der für die Theorie der Natur maßgebenden Gegenständigkeit, der gemäß die Natur sich als ein raum-zeitlicher, auf irgendeine Weise vorausberechenbarer Bewegungszusammenhang dem Vorstellen darstellt.

Es ist also der Fall, dass ihr Platz sich ändert, insofern sie diesen in den nun größeren hineinstellt. Als Teilmenge steht er aus, ob und wie er in der Naturmenge liegt. Der wissenschaftliche Beleg, den Wissenschaft aushändigt, ist, dass sie bei sich einwilligt. In ihrer Mechanik ist sie das erstellte Negativum, das der vorgestellte widerständige Gegenstand bei ihr abdrückt, weil sie drückt. Durch die Regelmäßigkeit in den gesammelten Abdrücken antizipiert sie den nächsten Gegenstand dessen Abdruck sie in die Sammlung integriert. So gesehen passiert die Beschäftigung mit ihm in Teilen immer schon vor seiner Anwesenheit mit Gewähren durch Bewährtes.

Weil die moderne Wissenschaft in dem gekennzeichneten Sinne Theorie ist, deshalb hat in all ihrem Be-trachten die Art ihres Trachtens, d.h. die Art des nachstellend-sicherstellenden Vorgehens, d.h. die Methode, den entscheidenden Vorrang. Ein oft angeführter Satz von Max Planck lautet: „Wirklich ist, was sich messen läßt.“ Dies besagt: der Entscheid darüber, was für die Wissenschaft, in diesem Fall für die Physik, als gesicherte Erkenntnis gelten darf, steht bei der in der Gegenständigkeit der Natur angesetzten Meßbarkeit und ihr gemäß bei den Möglichkeiten des messenden Vorgehens. Der Satz von Max Planck ist aber nur deshalb wahr, weil er etwas ausspricht, was zum Wesen der modernen Wissenschaft, nicht nur der Naturwissenschaft, gehört. Das nachstellend-sicherstellende Verfahren aller Theorie des Wirklichen ist ein Berechnen. Wir dürfen diesen Titel allerdings nicht in dem verengten Sinne von Operieren mit Zahlen verstehen. Rechnen im weiten, wesentlichen Sinne meint: mit etwas rechnen, d.h. etwas in Betracht ziehen, auf etwas rechnen, d.h. in die Erwartung stellen. In dieser Weise ist alle Vergegenständlichung des Wirklichen ein Rechnen, mag sie kausal-erklärend den Erfolgen von Ursachen nachsetzen, mag sie morphologisch sich über die Gegenstände ins Bilde setzen, mag sie einen Folge- und Ordnungszusammenhang in seinen Gründen sicherstellen. Auch die Mathematik ist kein Rechnen im Sinne des Operierens mit Zahlen zur Feststellung quantitativer Ergebnisse, wohl dagegen ist sie das Rechnen, das überall den Ausgleich von Ordnungsbeziehungen durch Gleichungen in ihre Erwartung gestellt hat und deshalb im voraus mit einer Grundgleichung für alle nur mögliche Ordnung „rechnet“.6

Das „Berechnen“ als in-eine-Beziehung-Setzen von Welt, die in eine kausale Prinzipialität fällt, ist Grundmuster wissenschaftlicher Methode. Heidegger geht im Folgenden der Frage nach, ob und wie damit dem Gegenstand entsprechend gemustert wurde und ob und wie es ihn bewahrt. Und wenn adäquat, wie ist der bewahrte Gegenstand unter anderer Referenz sinnvoll als nur in der Monade der ihn begriffenen Methode?

Das wissenschaftliche Vorstellen kann seinerseits niemals entscheiden, ob die Natur durch ihre Gegenständigkeit sich nicht eher entzieht, als daß sie ihre verborgene Wesensfülle zum Erscheinen bringt. Die Wissenschaft vermag diese Frage nicht einmal zu fragen; denn als Theorie hat sie sich bereits auf das von der Gegenständigkeit eingegrenzte Gebiet festgelegt.7

In den unterschiedlichen Gegenstandsgebieten der Wissenschaft äußert sich Obengenanntes in gleicher Form.

Die Historie, die sich immer drängender zur Universalhistorie entfaltet, vollzieht ihr nachstellendes Sicherstellen in dem Gebiet, das sich ihrer Theorie als Geschichte zustellt. Das Wort „Historie“ […] bedeutet: erkunden und sichtbar machen und nennt darum eine Art des Vorstellens. Dagegen bedeutet das Wort „Geschichte“ das, was sich begibt, insofern es so und so bereitet und bestellt, d.h. beschickt und geschickt ist. Historie ist die Erkundung der Geschichte. Aber das historische Betrachten schafft nicht erst die Geschichte selbst. Alles Historische, alles in der Weise der Historie Vor- und Festgestellte ist geschichtlich d.h. Auf das Geschick im Geschehen gegründet. Aber die Geschichte ist niemals notwendig historisch.8

Ob die Geschichte sich in ihrem Wesen nur durch und für die Historie offenbart oder ob die Geschichte durch die historische Vergegenständlichung nicht eher verdeckt wird, bleibt für die Geschichtswissenschaft unentscheidbar. Entschieden aber ist: in der Theorie der Historie waltet die Geschichte als das Unumgängliche.

Natur, Mensch, Geschichte, Sprache bleiben für die genannten Wissenschaften das innerhalb ihrer Gegenständigkeit schon waltende Unumgängliche, worauf sie jeweils angewiesen sind, was sie jedoch in seiner Wesensfülle durch ihr Vorstellen nie umstellen können. Dieses Unvermögen der Wissenschaften gründet nicht darin, daß ihr nachstellendes Sicherstellen nie zu Ende kommt, sondern darin, daß im Prinzip die Gegenständigkeit, in die sich jeweils Natur, Mensch, Geschichte Sprache herausstellen, selbst nur immer eine Art des Anwesens bleibt, in der das genannte Anwesende zwar erscheinen kann, aber niemals unbedingt erscheinen muß.9

Die Physik kann als Physik über die Physik keine Aussagen machen. Alle Aussagen sprechen physikalisch. Die Physik selbst ist kein möglicher Gegenstand eines physikalischen Experimentes. Dasselbe gilt von der Philologie. Als Theorie der Sprache und Literatur ist sie niemals ein möglicher Gegenstand philologischer Betrachtung. Das Gesagte gilt für jede Wissenschaft.

Was haben wir erreicht? Wir sind aufmerksam geworden für das stets übergangene, der Wissenschaft als solcher unzugängliche, gleichwohl für sie Unumgängliche. Es zeigt sich uns an der Gegenständigkeit, in die sich das Wirkliche herausstellt, durch die hindurch die Theorie den Gegenständen nachstellt, um diese und ihren Zusammenhang im Gegenstandsgebiet der jeweiligen Wissenschaft für das Vorstellen sicherzustellen. Der unscheinbare Sachverhalt durchwaltet die Gegenständigkeit, worin sowohl die Wirklichkeit des Wirklichen als auch die Theorie des Wirklichen, worin somit auch das ganze Wesen der neuzeitlich-modernen Wissenschaft schwingt.10

Mit vorangeschickten Worten ist es keine Denunziation der Kunstgeschichte, dass sie mit selbstgestellten Deutungen von Bedeutungen, Historisierung der Geschichte und ihren Abbildern von Bildern operiert. Es ist nur, dass sie in einer Nische fugt.


 

  1. S. 39 in: Heidegger, Martin: Wissenschaft und Besinnung, in: Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 7 Vorträge und Aufsätze, Vittorio Klostermann, 2000, Frankfurt am Main
  2. Das „Wirkliche“ im Sinne des Tatsächlichen bildet jetzt den Gegensatz zu dem, was einer Sicherstellung nicht standhält und sich als bloßer Schein oder als nur Gemeintes vorstellt. Allein, auch in dieser mannigfach gewandelten Bedeutung behält das Wirkliche immer noch den früheren, aber jetzt weniger oder anders hervorkommenden Grundzug des Anwesenden, das sich von sich her herausstellt.
  3.  Das Wort „Gegenstand“ entsteht erst im 18. Jahrhundert und zwar als die deutsche Übersetzung des lateinischen „obiectum“. Es hat seine tieferen Gründe, warum die Worte „Gegenstand“ und „Gegenständlichkeit“ für Goethe ein besonderes Gewicht empfangen. Aber weder das mittelalterliche noch das griechische Denken stellen das Anwesende als Gegenstand vor. Wir nennen jetzt die Art der Anwesenheit des Anwesenden, das in der Neuzeit als Gegenstand erscheint, die Gegenständigkeit. Sie ist in erster Linie Charakter des Anwesenden selber.
  4. S. 49 ebenda
  5. S. 50 ebenda
  6. S. 51 ebenda
  7. S. 57 ebenda
  8. S. 58 ebenda
  9. S. 59 ebenda
  10. S. 62 ebenda
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