Das innere Bildarchiv

Es gibt ikonische Bilder, die jeder sich sofort in sein Gedächtnis rufen kann. Die brennenden Zwillingstürme. Die Mona Lisa. Das tote Flüchtlingskind am Strand. Die Weltkarte. Diese Liste ließe sich in viele Richtungen fortführen. Wir glauben diesen Bildern, weil sie Teil unseres kollektiven Bildgedächtnisses geworden sind. Zweifellos gibt es auch im Bildgedächtnis jedes einzelnen verschiedene Bilder, welche ohne Vorbehalt als bedingungslos richtig angesehen werden. Seit dem Beginn von (Ab-)Bildender Kunst gibt es vermutlich dieses Bildgedächtnis. Das Fach der Kunstgeschichte ist aus diesem Bildgedächtnis heraus entstanden. Durch den Gebrauch von Abbildungen trat diese Wissenschaft ihren Siegeszug an.

André Malraux’ Buch »Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum«, das im Seminar häufiger zur Sprache kam, beschäftigt sich eingehend mit genau diesem Phänomen. Was den Begriff des »imaginären Museums« betrifft, ist meines Erachtens allerdings noch nicht der Kern getroffen worden. Bei genauer Textexegese sind es nicht etwa die Bildbände oder Abbildungen, die das imaginäre Museum darstellen. Vielmehr dienen diese als Helfer der Bildung eines solchen. Der etwas poetische Begriff des »imaginären Museums« bedeutet nämlich nichts anderes als das (geschulte) innere Bildarchiv, wie es Malraux auch selbst einmal nennt.1

Malraux’ Thesen

Es gibt für Malraux ebenso ein Vor als auch ein Nach dem Siegeszug der Abbildungen. Das Davor wird bei ihm nur kurz, aber eindrücklich geschildert: Musste vor dem Siegeszug der Abbildungen (und insbesondere der Fotographie) ein Mensch jedes Objekt real gesehen haben, um sich sein imaginäres Museum im Geiste zu errichten, helfen jetzt die Reproduktionen als Gedächtnisstütze oder sogar als Ersatz. Wie Malraux schreibt, öffne ein imaginäres Museum, wie es noch nie dagewesen sei, seine Pforten. Implizit in dieser Aussage gesteht er aber ein, dass es schon so etwas wie ein imaginäres Museum gab. Das Imaginäre sind nicht die Bücher oder die Abbildungen, sondern die Sammlung in unseren Köpfen.

Gleichzeitig erkennt er aber auch die sich durch die Nutzung der Abbildungen ergebenden Veränderungen. Sehr differenziert stellt Malraux da, dass einzelne Werke in den Hintergrund rücken und dafür das Gesamtwerk und Stilrichtungen in den Vordergrund treten. Auch die durch Abbildungen notwendige Größenanpassung einzelner Werke an beispielsweise das Buchformat ermöglicht eine vergleichende Betrachtung, wie sie nie vorher möglich war.

Digitale Objekte?

Lustlos den Ausdruck des Umbruchs bemühend möchte ich dennoch noch einmal eingehen auf die Veränderungen, die das analoge Bild vom digitalen trennt. Im Seminar fiel der Begriff des immateriellen Objekts als Bezeichnung für digitale Bilder und wohl in Abgrenzung zu den materiellen Objekten, die wir Originale oder Reproduktionen nennen. Das Oxymoron des »immateriellen Objektes«, also des dinglosen Dings, scheint auch noch einer Betrachtung wert. Wie aus Florenz gelernt gibt es eine Differenz zwischen Objekt, analoger Fotographie und digitaler Abbildung. Wie es in der Deklaration heißt, sei das Foto gleichsam dem Fotografierten als Objekt ebenbürtig. Anders verhält es sich mit dem digitalen Foto:

Das digitale Bild ist als solches überhaupt kein Objekt, es hat nicht mal Objektcharakter. Es ist kein Ding. Wohlgemerkt spreche ich dabei von der Dinghaftigkeit des digitalen Bildes, also nicht semantisch oder metaphysisch.

Gleichwohl rekurriert das digitale Bild natürlich auf ein reales Objekt. Anders jedoch als die analoge Fotographie besteht das digitale Bild bekanntlich aus Einsen und Nullen. Gemeinhin wird von Information gesprochen, das digitale Bild enthalte oder entstehe aus Daten oder Informationen. Niemand von uns kann aus diesen Daten das Bild zusammensetzen, dazu wird dann wieder ein Objekt benötigt. Überspitzt gesagt sind der Beamer, der Laptop oder das Smartphone die Objekte. Ohne sie gibt es kein digitales Bild. Das Florentiner Institut könnte nun also anfangen, Tablets und Digitalkameras zu sammeln, um die Objekte, die die Bilder in sich tragen, zu archivieren. Was zunächst humoristisch anmutet, hat einen ernsten Hintergrund: Können wir erkennen, ob durch Verschiebung der Daten Informationen verloren gehen? Können wir es ausschließen? Obwohl wir Meister der Archivierung geworden sind, können wir doch nicht alles erhalten. Sowohl in Foto Marburg als auch in Florenz ist man sich dieses Problems bewusst. Es gehen Informationen verloren. Diese Binsenweisheit ist gleichzeitig das größte Problem der Digitalisierung, weil niemand zum jetzigen Zeitpunkt abschätzen kann, welchen Wert diese Informationen haben (könnten).

Das Digitale ist das Imaginäre

Anders als Claus Pias (vgl. Literaturliste) bin ich nicht davon überzeugt, dass das digitale Bild nicht existieren würde. Es ist zweifellos da, ich sehe es auf meinem Laptop oder auf meinem Handy. Aber es führt zu einer Diversifikation von Wahrheit, weil es »das Bild« von etwas nicht mehr gibt. Es ist auch in keiner Weise ein Objekt. Es ist vielmehr in Anlehnung an Malraux ein imaginäres Bild. Der Duden definiert imaginär als »nur in der Vorstellung vorhanden, nicht wirklich, nicht real«.

Das digitale Bild ist gleichzeitig das imaginäre Bild, weil es sich wirklich erst in Verbindung mit einem Abbildungsobjekt zusammensetzt. Keinen Objektstatus innehabend entsteht es erst durch uns. Fotos sind da, auch wenn wir nicht da sind, Objekte ebenso. Einzig das digitale Foto wird nur durch uns aktiv und temporär hervorgerufen. Wenn der Laptop, wenn das Handy aus ist, ist das Foto fort. Wir glauben, dass sie da sind, dabei sind es nur elektronische Impulse. Aber in unserem Kopf setzt sich aus diesen elektronischen Pixeln ein Bild zusammen.

Damit sind die digitalen Bilder ein imaginäres Museum im Sinne Malraux’. Imaginär entsteht das Museum bei Malraux im Kopf, die Abbildungen helfen bei der Übersicht und dem Vergleich von Werken. Genauso sind digitale Abbildungen Helfer unserer inneren Bildersammlung.


 

1: »Woraus setzte sich das innere Museum der Epoche vor Monet zusammen?« In: André Malraux: Psychologie der Kunst. Das Imaginäre Museum, Hamburg 1957, S. 35.

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